Die Einsamkeit der Primzahlen

La solitudine dei numeri primi

Italien/D/F 2010 · 118 min. · FSK: ab 12
Regie: Saverio Costanzo
Drehbuchvorlage: Paolo Giordano
Drehbuch: ,
Kamera: Fabio Cianchetti
Darsteller: Alba Rohrwacher, Luca Marinelli, Isabella Rossellini, Arianna Nastro u.a.
Einsam gemeinsam

Basierend auf dem gleich­na­migen Roman von Paolo Giordano, der in Zusam­men­ar­beit mit dem Regisseur Severio Costanzo auch für das Drehbuch verant­wort­lich ist, erzählt Die Einsam­keit der Prim­zahlen die Lebens- und Liebes­ge­schichte von Mattia und Alice. Die beiden bilden ein Liebes­paar, das sich aus zwei Einzel­gän­gern zusam­men­setzt.
Alice hinkt seit einem Skiunfall, wird wegen ihres Mauer­blüm­chen­da­seins von ihren Mitschü­le­rinnen gehänselt, hat eine psychisch instabile Mutter und ist mager­süchtig.
Mattias Zwil­lings­schwester ist geistig behindert, und der Junge kämpft mit sich zu akzep­tieren, dass er wegen dieser Behin­de­rung mehr Aufmerk­sam­keit für das Mädchen opfern muss, als das einem Heran­wach­senden lieb ist. Als Reaktion verschließt er sich vor seiner Umgebung und versucht, seinem Schmerz durch Ritzen eine physische Seite zu geben.
Beide sind Außen­seiter, so gewohnt an ihr Allein­sein, dass sie nur zaghaft zuein­ander finden.

Costanzo insze­niert den Film in einem hypno­ti­sie­renden Tempo und füllt die Leinwand mit soviel Farbe und gewal­tigen Schrift­zügen, während laut der Bass der hippen Retro-Disco­musik den Kinositz und das Trom­mel­fell erbeben lässt, dass man nicht anders kann, als sich in einer modernen, jungen, über­schweng­lich wilden Liebes­ge­schichte zu wägen. Erst als sich immer mehr Szenen häufen, die den Zuschauer eine gewollt myste­riöse Bedeutung in die Handlung dichten lassen wollen, fällt der Film ausein­ander. So ist eine Szene, in der die kleine Alice nachts aufwacht und das elter­liche Wohn­zimmer von Prim­zahlen into­nie­renden Erwach­senen gefüllt vorfindet, ohne Bedeutung für den rest­li­chen Hand­lungs­ver­lauf, lenkt das Publikum aber vom rück­sichtslos weiter­lau­fenden Film ab.
Die Handlung springt zwischen verschie­denen Zeit­schienen hin und her, um die Lebens­ge­schichten der beiden Prot­ago­nisten zu erzählen. So bildet sich langsam ein Konstrukt, das erklärt, warum sich die Beiden teils frei­willig aus der Gesell­schaft zurück­ge­zogen haben, teils von Mitschü­lern ausge­schlossen wurden. Man sieht Mattia, der als Kind seine behin­derte Schwester allein in einem Park zurück­ge­lassen hat, um auf ein Kostüm­fest zu gehen, und Alice, deren leis­tungs­ori­en­tierter Vater für den Skiunfall verant­wort­lich war, der sie in den Augen ihrer Bekannten entstellt hat.
Dass diese Außen­seiter per Ausschluss­ver­fahren fürein­ander bestimmt sind, und daher nach den Regeln des Liebes­films zusammen kommen müssen, ist unaus­weich­lich. Alba Rohr­wa­cher und Luca Marinelli, die das erwach­sene Paar darstellen, spielen aber den Aspekt des Einzel­gän­ger­tums so sehr in den Vorder­grund, dass es unbe­greif­lich ist, warum die Beiden sich überhaupt vorein­ander angezogen fühlen.

In einem Ausschnitt einer Hoch­zeits­rede, die in voller Länge zu den depres­sivsten ihrer Art gehören dürfte, ist zu hören, wie einsam Prim­zahlen sind, da sie nur durch sich selbst und die Eins teilbar sind. Aber es gäbe Prim­zahl­zwil­linge, die nahe beiein­ander stehen, ohne sich jedoch jemals zu berühren.
Die Frage aber, ob Prim­zahlen nicht eigent­lich ganz zufrieden mit ihrer Sonder­stel­lung, und gerne so alleine sind, wird nicht gestellt. Und so wirken auch Mattia und Alice den gesamten Film über so, als würde jeder die Anwe­sen­heit des jeweils anderen eher dulden als wünschen. Sie teilen ein tieferes Vers­tän­dinis fürein­ander, selbst, wenn sie einander nicht offen­herzig lieben, und können allein aufgrund dieses Umstandes nicht vonein­ander lassen. Ob es sich bei ihren Gefühlen nun um Liebe handelt, oder sie beide nur nach Bestä­ti­gung für die eigene Lebensart suchen, ist aber nicht zu entschlüs­seln.

Hinter dem visuellen und akus­ti­schen Schleier einer betont alter­na­tiven Insze­nie­rung zwingen Giordano und Costanzo ihre unkon­ven­tio­nellen Charak­tere ohne Rücksicht auf Glaub­wür­dig­keit in die enge Form einer über­ra­schend gewöhn­li­chen Liebes­ge­schichte – während der einen Sache, die die Handlung von so vielen anderen Liebes­filmen unter­scheiden könnte, kaum Beachtung geschenkt wird.
Die diversen psychi­schen Problemen der Prot­ago­nisten dienen als reiner Vorwand, um die aufge­setzte Beziehung zu recht­fer­tigen – sie sind letztlich nicht mehr als ein nütz­li­ches Puzzle­teil im Gesamt­bild eines zwanghaft um emotio­nale Tiefe bemühten Films.
Einzig in den Szenen, in denen man Isabella Rossel­lini als Mattias Mutter daran scheitern sieht, ein entspanntes Verhältnis zu ihrem Sohn aufzu­bauen, spürt man etwas Wärme von der Leinwand strömen.

So taumelt man nach dem Nachspann von den Bildern beduselt aus dem Kinosaal, als hätte man die Nacht in einer Discothek verbracht. Erst auf dem ausnüch­ternden Heimweg fallen einem langsam wieder all die vermeint­lich tief­sin­nigen Dialoge auf, die einen inzwi­schen peinlich berühren. Und der hart­nä­ckige Ohrwurm von „Yes Sir, I can Boogie“, der anfäng­lich so gut gelaunt war, verwan­delt sich immer mehr in ein nerviges Tinni­tus­rau­schen.