Großbritannien 2017 · 126 min. · FSK: ab 6 Regie: Joe Wright Drehbuch: Anthony McCarten Kamera: Bruno Delbonnel Darsteller: Gary Oldman, Ben Mendelsohn, Kristin Scott Thomas, Lily James, Stephen Dillane u.a. |
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Churchill in einer dunklen Stunde |
All the world’s a stage – das wissen wir seit Shakespeare. And all the men and women merely players. Manchmal aber scheint einer seine Nebenrolle schon fertig gespielt zu haben. Befindet sich quasi schon beim Abschminken in der Garderobe. Bis einer der Hauptdarsteller ausfällt. Und man glaubt, diesen alten Chargen-Haudegen auf die Bühne zurückholen zu können, dass er den Lückenfüller machen kann, ohne die Show zu stehlen.
In solch einer Situation, ungefähr, setzt Darkest Hour ein. Grade in einem Moment, wo der Fortgang des Dramas auf einer entscheidende Kippe steht, tritt der britische Premierminister Chamberlain von der Weltbühne ab. Und es ist kein Votum großen Vertrauens, dass man ausgerechnet Winston Churchill auf selbige zurückruft, um diese Rolle zu füllen. Churchill, und vielleicht noch seine Frau Clementine, sind die einzigen, die ihn sich überhaupt ernsthaft in diesem Part vorstellen können. Selbst für seine
eigene Partei ist er eher eine Art besseres Lichtdouble – jemand den man verheizen kann.
Churchill, wie wir ihm in Darkest Hour zunächst begegnen – eigentlich schon im sechsten Lebensalter angekommen, in fair round belly, with spectacles on nose, seine Zeit als Soldat, als Offizier lang hinter sich und zudem mit dem Makel einer historischen Niederlage behaftet –, ist eine Falstaff-ähnliche Figur. Von wuchtiger Leiblichkeit, vom Moment des Aufwachens an maßlos im Appetit, im Appetit auf Zigarren, Alkohol, auf Arbeit, maßlos in seiner
Herrischkeit, aber auch voller Schalk.
Der Film weiß, dass er eine Ikone inszeniert: Er lässt zunächst das Antlitz büstengleich kurz aus dem Dunklen auflodern, im Schein der Zigarrenglut – wie eine ehrfurchtgebietende Erscheinung des Mythos. Dann aber Lichtwechsel, Morgensonne – und Churchill als zwar leicht überlebensgroßer, aber lebendiger Mensch sitzt im Nachthemd vor uns.
Darkest Hour etabliert ihn schon mit der ersten Szene als
vollständig geformte Figur. Zwar freilich mit all den erwarteten Attributen des historischen Vorbilds. Doch nicht in mutloser Heldenverehrung oder starrer Mimikri. Sondern – sowohl vom Drehbuch als auch von Gary Oldman her – sich Churchill als dramatischen Charakter mit einer inneren Plausibilität findend, erfindend. Der Film und Kazuhiro Tsujis geniales Makeup legen Wert darauf, nicht den Schauspieler unter einer sklavischen Ähnlichkeit zu begraben. Die Maske ist
der Performance angepasst, nicht andersrum. Es blitzen Oldmans Augen, Oldmans Mimik unter den churchillschen Zügen hervor. Es ist, auch in der Musikalität der Nachempfindung von Churchills Sprachmelodie, ein Dialog zwischen Darsteller und dokumentierter Historie.
Wenn diesen Churchill in Darkest Hour der Ruf ereilt, die parlamentarische Hauptrolle des Premierministers zu übernehmen, gibt es einen Moment, welcher der Wahl des Kostüms vor dem ersten Auftritt in dieser neuen Inkarnation gleichkommt: Wohl ein Dutzend Hüte hängt an der Garderobe bereit – doch freilich ist nur einer das richtige Requisit, um die berühmte Silhouette zu vervollständigen. Churchill greift zum Zylinder, und dann: Auftritt.
Joe Wrights Kino ist im besten, ungewöhnlichsten Sinne »theatralisch«. Es ist nicht abgefilmtes Theater; nicht dem Kino die Begrenzungen des Theaters auferlegend. Es ist am verwandtesten vielleicht noch dem Kino Orson Welles' – aus einer Theatererfahrung kommend, alle Möglichkeiten der Bühne für die Leinwand genuin filmisch nutzbar machend, und dabei dem Schauspiel der Darsteller Raum gebend.
Es ist ein sehr spezifisches Verhältnis zu Künstlichkeit,
Räumlichkeit, Handwerklichkeit – und zum Text, aus dem all das seinen Ursprung nimmt, und der Sprache, die in diesem Rahmen erklingt.
Wenn zweimal in Darkest Hour Churchill allein ist in einem winzigen Raum und die »world too wide« um ihn als erdrückende schwarze Leere die Leinwand füllt; wenn bei der ersten Radioansprache das Sendelicht die ganze Szene in Rot taucht – dann sind das Theatereffekte. Seine Schnitte fühlen sich oft eher an wie die
Weiterbewegung einer Drehbühne. Er strebt nicht nach dem peniblen Photorealismus von Film, nicht nach der Abbildung, sondern nach der Erfüllung eines vorgegebenen Raums mit selbstgeschaffener Welt.
Wo Wright in Anna Karenina die ganze Welt in ein Haus gestopft hat, findet er in Darkest Hour in ein paar wenigen, engen Räumen einen Fokuspunkt des großen Ganzen: Weltkrieg als epistemologisches Kammerspiel, bei dem der Blick nur ab
und zu aus der Vogelperspektive wie über Generalstabskarten über die realen Schlachtfelder gleitet – bis er die Elendigen sieht, die dort ihr Leben lassen.
Wright inszeniert seinen Churchill auch in Theaterkategorien: Im Falstaff-haften Anfang bewusst in der Gattung Komödie. Das erste Zusammentreffen mit dem K-k-könig (Ben Mendelsohn, von distinguierter Verletzlichkeit) könnte in seiner trockenen Komik fast aus einer britischen Drawing Room Comedy stammen.
So schnell das Äußere der Ikone Churchill vervollkommnet ist, so sehr auch ihre farcehaften Züge von Anfang an präsent sind: Es fehlt ein entscheidendes Element, ihn zum
Helden eines historischen Dramas zu machen.
Er selbst sieht sich insgeheim parallel zu einem Akteur in einer römischen Staatskabale; er ist als Schreiber durchaus ein versierter Meister der Sprache – doch es fehlt ihm die Rede. Der Churchill, den Darkest Hour zeigt, hat wohl brillante Gedanken im Hirn – doch enorme Schwierigkeiten, diese außer in schriftlicher Form zu verständlichem Ausdruck zu bringen. Zu schnell und vermurmelt ist sein
unredigiertes Genuschel. (Die deutsche Synchronfassung ist ein purer Sabotageakt nicht nur an Oldmans kongenialer Aneignung der Diktion, sondern letztlich der gesamten Intention des Films.) Kein Wunder, dass in der Welt des Filmes alle mit einer gewissen Besorgnis seiner ersten Radio-Ansprache in seiner neuen Rolle entgegensehen.
Dieser Churchill weiß aber auch, dass wenn er in dieser Rolle überzeugen will – Feind, Freund und sich selbst –, er sie sich gleichsam auf den
Leib schreiben muss. Sprache ist Arbeit. Die Reden werden bis zur letzten Sekunden bearbeitet und zurechtgefeilt. Wie ein Schauspieler seine Monologe einstudierten muss, übt und übt Churchill seine Worte, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und indem diese Worte durch diesen Körper gehen, transformieren sie ihn auch.
Churchill ist sich des Publikums, das er erreichen und überzeugen muss, durchaus bewusst – auch wenn er dabei nicht unbedingt von Verständnis und
Respekt getrieben wird. Wenn es dem Effekt dient, hat er keine Skrupel, die Wahrheit zu seinen Zwecken zurechtzubiegen. Aber er ist nicht arrogant: Wenn er sein berühmtes »V for Victory«-Zeichen zunächst falsch herum und damit zur obszönen Geste macht, weil ihm die Codes des Volks fremd sind – dann lacht er über sich selber und passt seine Performance an. (Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet ein klassischer South East Londoner »working class actor« wie Oldman sich
akribisch diesen Vertreter der Upper class aneignet, um als Churchill dann die gleiche Reise rückwärts anzutreten.)
Die Inspiration zu seiner berühmtesten Rede lässt Darkest Hour seinen Churchill finden in einem Abstieg in Londons Bauch der working class: In der Tube. Es ist eine bewusst irreale Phantasie der Verbrüderung aller Briten; eine offensiv ausgestellte Verklärung des War Time Spirits; ein Traum vom Capra-esken Old Hollywood.
Churchill verlässt seine Limousine, findet wie von unsichtbarer Hand geleitet seinen Weg in genau den richtigen U-Bahn-Waggon, findet dort
einen perfekt kuratierten, in Eintracht versammelten Querschnitt der Bevölkerung. Und in einer Fahrt, deren Dauer der Dramaturgie und nicht der Topographie gehorcht, erhält er quasi die Stimmen des Volks für seine Politik, nimmt sie auf.
Und gemeinsam stimmen sie ein in Thomas Babington Macaulays »Horatius at the Bridge« – in Churchills leitendes Bestreben, sich einzuschreiben in die Tradition britischer Lyrik, des römischen Heldentums.
In dieser Phantasie findet er das Selbstvertrauen des triumphierenden Feldherren – und kann damit einziehen ins Parlament.
In Darkest Hour – der mehr von Sprache als von Politik handelt – folgt nun gleichsam der »To be or not to be«-Moment: Der große Monolog, auf den alle gewartet haben.
Jeder kennt die »We shall fight them on the beaches«-Rede, hat eine Vorstellung davon im Ohr. Und so hört sie sich in Darkest
Hour auch an – so mitreißend, aufrührend.
Hört man danach die Aufnahme des historischen Originals, wirkt es bei aller rhetorischen Brillanz merklich, fast enttäuschend zahmer. Das Abbild ist befriedigender als das Vorbild, weil es die ganze Rezeption und Mythifizierung in sich aufgesogen hat.
Die Abgeordneten werden im Schlussakt von Darkest Hour ein letztes Mal zum kritischen Theaterpublikum, warten auf das Urteil des Kritikerpapstes Chamberlain. Und selbst der kann ob dieses Auftritts nicht anders, als seine Billigung kundzutun. Der Monolog hat seine intendierte Wirkung getan: Churchill ist in der Rolle des dramatischen Helden angekommen.
Geradezu unverschämt lustvoll potenziert Darkest Hour die Theatralität dieses Moments. Churchill verweilt nicht am Rednerpult – tritt aber nicht seitlich zur Bühne ab, sondern geht voll Kampfeswillen auf die Kamera zu. Während der Raum hinter ihm in frenetische Ovationen ausbricht, Taschentücher schwenkt, einen Papierregen niedergehen lässt.
Das hätte furchtbar nationalistisch, patriotisch aufstoßen können – wäre da nicht diese bewusste Künstlichkeit. Und wäre da nicht dieser (apokryphe) Schlusssatz, der die blinde Begeisterung bricht: »He mobilised the English language and sent it into battle.«
Es ist ein Fazit, halb in bewundernder Ehrfurcht, halb in Furcht vor dieser Gewalt. Darkest Hour ist ein Kriegsfilm über die Sprache als mächtigste Waffe.