Die Karte meiner Träume

The Young and Prodigious T.S. Spivet

USA 2014 · 105 min. · FSK: ab 0
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Drehbuch: ,
Kamera: Thomas Hardmeier
Darsteller: Kyle Catlett, Helena Bonham Carter, Judy Davis, Niamh Wilson u.a.
Ein Feuerwerk an verspielten Inszenierungseinfällen.

Das traurige Genie

Jean-Pierre Jeunet hat ein Faible für Außen­seiter. Skurrile Figuren, die sich abheben vom Main­stream, merk­wür­digen Vorlieben frönen und ihrer Fantasie häufig freien Lauf lassen. So wie in Die fabel­hafte Welt der Amélie, seinem wohl bekann­testen Werk. Ein knall­buntes Kinomär­chen, das nur so sprüht vor eigen­wil­ligen Ideen und eine verschroben-liebens­werte Heldin hat. Eine Heldin, die den Zuschauer gefangen nimmt. Ihn verzückt. Und zum Staunen bringt. Die aber auch selbst immer wieder ins Staunen gerät. Über die Welt und ihre Mitmen­schen. Schon ein kurzer Blick auf Amélie reicht aus, um zu verstehen, warum sich Jeunet auch für T.S. Spivet begeis­tern konnte, das kleine Genie aus Reif Larsens Best­seller „Die Karte meiner Träume“. Einen Jungen, der für Daten, Zahlen und Skizzen lebt und keine wissen­schaft­liche Heraus­for­de­rung scheut.

Mitten im Nirgendwo Montanas ist der zehn­jäh­rige T.S. (Kyle Catlett) zu Hause. Umgeben von Bergen, Weideland und seiner kauzigen Familie. Als leiden­schaft­liche Insek­ten­for­scherin versteht die Mutter (Helena Bonham Carter) den Wissens­drang ihres Sohnes nur zu gut, taucht jedoch selbst so tief in ihre Studien ein, dass sie alles um sich herum vergisst. Sein Vater (Callum Keith Rennie) wiederum ist ein wort­karger Rancher und Western-Fan, der mit dem hoch­be­gabten Kind wenig anzu­fangen weiß und bloß ein Ohr für T.S.‘ Zwil­lings­bruder Layton (Jakob Davies) hat. Ihre große Schwester Gracie (Niamh Wilson) träumt von einer ruhm­rei­chen Karriere als Schau­spie­lerin und würde Montana am liebsten gleich verlassen. Doch den Aufbruch hat sie bis jetzt noch nicht gewagt. Ganz anders T.S., der sich eines Tages unbemerkt auf den Weg zum Smith­so­nian Institut in Washington macht, als er erfährt, dass er für ein selbst konstru­iertes Perpetuum mobile den renom­mierten Baird-Preis gewonnen hat.

Die Geschichte spielt im Hier und Jetzt, trägt aller­dings unver­kennbar nost­al­gi­sche Züge. Ange­fangen beim beschau­li­chen Landleben, dem die Hektik unserer Zeit gänzlich abzugehen scheint, über die prächtig-farben­frohen Bilder bis hin zur Eisen­bahn­ro­mantik, die Jeunet gezielt herauf­be­schwört. Wie manch anderer Tramp der Film­ge­schichte, springt auch T.S. auf einen Güterzug und legt damit den Großteil seiner Reise zurück. Eine Reise, die kleinere Abenteuer und amüsante Begeg­nungen bereit­hält. Komik entspringt dabei zumeist aus der geistigen Über­le­gen­heit des jungen Helden. Immerhin sorgt er mit seinen wissen­schaft­li­chen Erkennt­nissen bei Erwach­senen wieder­holt für große Augen, staunt seiner­seits aber über all das, was sich mit ratio­nalen Mitteln nicht wirklich fassen lässt. Warum, etwa, suchen sich die Menschen immer den Weg des größten Wider­standes, wo es Regen­tropfen doch gerade umgekehrt machen? Das Verhalten seiner Umwelt bereitet T.S. sichtlich Kopfz­er­bre­chen. Was auch für sein eigenes Gefühls­leben gilt.

Die Karte meiner Träume erzählt nicht nur von einer beschwingten Reise. Sondern auch von fami­liären Versäum­nissen, Sprach­lo­sig­keit und einem tragi­sches Ereignis aus der Vergan­gen­heit, das in seiner ganzen Tragweite nicht sofort ersicht­lich ist. Schritt für Schritt stellt sich heraus, dass den kleinen Prot­ago­nisten handfeste Schuld­ge­fühle plagen, die er bislang mit niemandem teilen konnte. Eine ernste, fast düstere Note, die das Geschehen berei­chert, aller­dings nicht durch­gängig überz­eugen will. Wie Jeunet und Co-Autor Guillaume Laurant die dysfunk­tio­nale Familie am Ende zusam­men­führen, wirkt leider arg gekün­s­telt und hat mit emotio­nalem Tiefgang nicht viel gemein.

Dass die Mischung aus Roadmovie-Komödie, Außen­seiter-Geschichte und Fami­li­en­drama dennoch funk­tio­niert, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen gelingt es Jung­dar­steller Kyle Catlett (auch im wahren Leben hoch­be­gabt), seine außer­ge­wöhn­liche Figur rundum glaubhaft anzulegen und sie mit einer anste­ckenden Neugier zu versehen. Zum anderen erwartet den Zuschauer, wie fast immer bei Jeunet, ein Feuerwerk an verspielten Insz­e­nie­rungs­ein­fällen. Beispiels­weise tauchen wir in einer Szene ganz unver­hofft in das Gehirn von Gracie ein und nehmen dadurch an ihren Über­le­gungen teil. In anderen Momenten fliegen dem Publikum von der Leinwand Berech­nungen und Skizzen entgegen, was uns noch tiefer in die Gedan­ken­welt des Wunder­kindes eintau­chen lässt (eine bewusste Hommage an die lite­ra­ri­sche Vorlage, die über zahl­reiche Zeich­nungen verfügt). Gerade damit stellt der fran­zö­si­sche Regiepoet unter Beweis, dass die 3D-Technik eine magische Wirkung entfalten kann. Wenn man sie denn sinnvoll einzu­setzen weiß.