Kanada 1997 · 90 min. · FSK: ab 16 Regie: Vincenzo Natali Drehbuch: Vincenzo Natali, Andre Bijelic, Graeme Manson Kamera: Derek Rogers Darsteller: Nicole de Boer, Nicky Guadagni, David Hewlett, Andrew Miller u.a. |
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Horror³ |
Nichts, hat Igor Strawinsky einmal bemerkt (ja, ja, er war halt ein aufmerksames Bürschchen, der Igor), ist für Künstler so schlimm wie totale Freiheit. Oder, um’s mit umformuliertem Goethe zu sagen (heut' haben wir aber unseren Hochkulturellen, gell?): In der Beschränkung zeigt sich nicht nur der Meister – er braucht sie zunächst überhaupt erstmal.
Ein einziges, fensterloses, würfelförmiges Set von 5x5x5 Metern und sechs Personen: Viel mehr kann ein Film sich
kaum beschränken. (Zumindest bis Hitchcocks Traum von einem Film, der komplett nur in einer Telefonzelle spielt, realisiert wird – was demnächst mit Jim Carrey in der Haupt- und einzigen Rolle geschehen soll. Und jetzt reicht’s mit den Klammern.) Cube beweist, dass dabei ein Independent-Film herauskommen kann, der am Meisterwerk viel näher dran ist, als viele der raumgreifenden und ausufernden Road-Movies, Beziehungskomödien und
Post-Tarantino-Gangster-Geschichten, die inzwischen meist dieses Feld beherrschen.
Filmisch-erzählerisch ist Cube dabei eher konventionell, geht weder formal noch von der Psychologisierung seiner Charaktere her Wege, die nicht auch ein Mainstream-Publikum wunderbar mitverfolgen könnte. Das Außergewöhnliche liegt allein im Grundkonzept – dort aber gründlich.
Sechs gewöhnliche, einander fremde Menschen finden sich urplötzlich und ohne Erklärung in einer gigantischen Würfel-Konstruktion gefangen. (Um doch noch eine Klammer zu gestatten: So ganz und gar gewöhnlich sind zumindest die Namen der Leute nicht – die sind nämlich großteils die Namen berühmter amerikanischer Gefängnisse – (St.) Quentin, Holloway und, auf zwei Charaktere verteilt, Leaven/Worth.) Jede Seite des Würfels hat eine Tür. Und hinter jeder Tür liegt ein
weiterer, scheinbar identischer Würfel. Nur dass manche dieser Räume mit tödlichen Fallen gespickt sind, die die Gruppe schnell dezimieren – bis sie langsam hinter die perfiden mathematischen Regeln kommt, nach denen ihr surreales Gefängnis gebaut ist: Ten Little Indians trifft Rubick’s Cube. Gleichzeitig eskalieren die Spannungen zwischen den Personen in dieser Extremsituation und machen die Charaktere selbst immer mehr zu ihren eigenen,
eigentlichen Feinden.
Durch wechselnde Beleuchtung und den Schnitt montieren die Filmemacher ihr lediglich einen einzigen Kubus umfassendes Set zum schier endlosen Riesenlabyrinth der Würfel, in dem die menschlichen Laborratten nach dem Ausweg suchen. Die allesamt weithin unbekannten Darsteller agieren dabei intensiv und mitreissend genug, um Empathie mit den Charakteren sicherzustellen. Der wahre Reiz des Film aber liegt nicht in den Stories der Figuren, sondern in der
konsequenten Konstruktion des geometrischen Gefängnisses. Regisseur Vincenzo Natali (der das filmische Erzählen als Storyboarder gelernt hat) und seine Co-Autoren Andre Bijelic und Graeme Manson haben sich nicht mit dem schönen Grundeinfall begnügt, sondern dafür gesorgt, dass ihr kompletter Wahnsinns-Würfel nach streng durchgehaltenen Gesetzen funktioniert. Cube ist so ein wunderbares Puzzle zum Mitdenken geworden, das mathematisch Hand und Fuß hat.
Zum Glück erspart sich und uns der Film eine »Erklärung« für das unerklärliche Geschehen – schade genug, dass er klar andeutet, dass es eine geben könnte, dass der Kubus wohl Ort und Zeit und Konstrukteure in der »realen« Welt hat. Denn das schönste an Cube ist, wie die kalte, klare, konsequente Ratio allein, wie die mathematischen Gesetze, geraden Linien und die Symmetrie – quasi als direktes Gegenbild zum wuchernden, krummen, ungeordneten Caligari-Expressionismus – den Raum schaffen, in dem der Wahnsinn blüht und gedeiht.