Geständnisse

Kokuhaku

Japan 2010 · 106 min. · FSK: ab 16
Regie: Tetsuya Nakashima
Drehbuchvorlage: Kanae Minato
Drehbuch:
Kamera: Masakazu Ato, Atsushi Ozawa
Darsteller: Takako Matsu, Yoshino Kimura, Masaki Okada, Yukito Nishii u.a.
Im Sog der Generationen

Mütter im Monat der Kirschblüten

Der erste Schultag nach den Früh­lings­fe­rien. Draußen blühen die Kirsch­blüten und im Klas­sen­zimmer stellt sich ein neuer Lehrer vor. Er heißt tatsäch­lich Werther, macht gleich einen – schlechten – Witz daraus, und hält seinen Schülern einen Vortrag über »die wahre Natur der Erziehung«. Dann gönnt sich der Film einen seiner seltenen humor­vollen Momente: Wie im klas­si­schen Musical sieht man die ganze Klasse in einer einzigen Choreo­gra­phie vereint zum Rhythmus von »That’s the way I like it« tanzen.

Aber zu diesem Zeitpunkt, der Film ist da gut zwanzig Minuten alt, sind dem Zuschauer schon alle Illu­sionen genommen, dass es sich hier um einen jener mehr oder weniger heiteren Schul­filme zwischen Romantic-Comedy und Teenager-Drama handeln könnte, wie sie Tetsuya Nakashima mit Kamikaze Girls und Memories of Matsuko bisher gemacht hat. Wenn auch Confes­sions schon im Titel eine zarte Referenz ans 18. Jahr­hun­dert, an die Bekennt­nisse des Aufklä­rers und Erziehers Rousseau trägt und außer dem Goethe­ver­weis noch mit anderen Bezügen zum 18. Jahr­hun­dert aufwarten kann, erinnert er insgesamt allen­falls an die so brutalen wie tiefen­psy­cho­lo­gisch fundierten Geschichten der Schwarzen Romantik. Die erste Passage des Films, die am letzten Tag vor den Ferien spielt, enthielt bereits den Blick in einen fürch­ter­li­chen Abgrund: Einige kurze, zarte Laute eines Klein­kindes eröffnen diesen Film, danach erklingt in engli­scher Sprache ein Song: »When I feel lonely...« So sind die Motive der Einsam­keit und der verlo­renen Kinder­seelen, die sich durch diesen Film ziehen, früh etabliert. Der eigent­liche Plot dagegen bleibt einst­weilen gezielt im Unge­wissen. Auf der Leinwand sieht man dazu eine japa­ni­sche Schul­klasse, kurz vor Beginn des Unter­richts. Die Kamera streift über Schul­uni­formen, gleitet über die Gesichter der Jugend­li­chen, die 13, 14 Jahre alt sind und gelang­weilt wirken. Sie zeigt die Indi­vi­duen und macht Verhal­tens­typen erkennbar: den Anführer; das geborene Opfer; den Klas­sen­clown; die Klas­sen­schön­heit; eine Streberin. So deckt sie hinter belang­losem Tun die innere Struktur dieser Klasse auf, legt soziale Hier­ar­chien frei: in Gesichts­aus­drü­cken, kleinen Albern­heiten, Späßen und Necke­reien, denen zugleich eine unüber­seh­bare Bruta­lität inne wohnt. So fliegt ein Baseball quer durch den Raum und trifft einen hart an der Schulter. Derweil wird die Schul­milch ausge­geben; die Lehrerin erklärt, zunächst aus dem Off: »Das Kalzium in der Milch ist nicht nur gut für die Knochen, sondern auch fürs Nerven­system, für die Entwick­lung eurer sekun­dären Geschlechts­merk­male.« Nach Unter­richts­be­ginn kündigt die Lehrerin Yuko Miroguchi an, die Schule zum Monats­ende zu verlassen. »Keine Ahnung, ob ich eine gute Lehrerin war, oder nicht.« Fast, als ob sie zu sich selber reden würde, beginnt ein längerer Monolog über ihre Arbeit, darüber, ob man als Lehrerin den eigenen Schülern glauben kann (»Trauen Sie uns nicht?« – »Nein, denn ihr lügt so gut«), wie persön­lich die Beziehung zu Schülern sein darf, und über die allge­meine Abhän­gig­keit der Lehrer von ihren Schülern.

Man könnte das alles noch für harmlos halten, für den typischen Auftakt eines japa­ni­schen High-School-Films, der sich mit Leid und Freuden der Adoles­zenz befasst, mit Schüler-Lehrer-Bezie­hungen, als Komödie oder als Melodram. Doch der Charakter der Kame­ra­be­we­gung und die Zeitlupe, in der dies alles gefilmt ist, deuten bereits auf etwas ganz Anderes, Schreck­li­ches. Tatsäch­lich handelt es sich bei »Confes­sions« um einen raffi­nierten Psycho­thriller, der zwar insze­na­to­risch komplex gebaut und in seinem Plot überaus konstru­iert ist, der zugleich aber bis zum Ende überaus spannend bleibt, in seinen Wendungen über­ra­schend und emotional eindring­lich ist. Jedes noch so scheinbar banale Detail wie die Milch oder der Baseball aus der Eröffnung erlangen im Verlauf der Handlung zusätz­liche Bedeutung(en).

Die Lehrerin, Yuko Miroguchi, spricht leise, ohne große Rücksicht auf die Schüler zu nehmen, die um sie herum stören und krakelen. Sie spricht über Gewalt unter Jugend­li­chen, sie kommt auf spek­ta­ku­läre Schü­ler­straf­taten zu sprechen, etwa die eines 13-jährigen Mädchens, das ohne erkenn­baren Grund ihre Eltern vergif­tete. Ihr Monolog mündet in eine Anklage der Jugend und des Umgangs der Gesell­schaft mit den Heran­wach­senden: »Was ist euer größter Schutz? Eure Eltern? Waffen? Nein. Euer größter Schutz ist das Jugend­straf­recht, das euch vor Verant­wor­tung schützt.« Miroguchi klagt das Versagen der Gesell­schaft vor ihren Kindern an und obwohl sie das alles in ruhigem Ton sagt, ist ihre eigene Betrof­fen­heit bald offen­kundig. Denn, nun enthüllt sie ihren Schülern, dass erst wenige Wochen zuvor ihre drei­jäh­rige Tochter ertrunken ist – und dies war kein Unfall: »Sie wurde getötet von Schülern dieser Klasse.« Miroguchi hat beschlossen, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, und die zwei Verant­wort­li­chen mit dem Aids-Virus infiziert. Eine scho­ckie­rende Wendung nach 20 von latenter Spannung getra­genen Film­mi­nuten, und nicht der letzte einer Reihe von Tabu­brüchen in diesem Film.

Auch in Tetsuya Naka­shimas neuem Film ist der April der grau­samste Monat, und diese ganze Expo­si­tion nur der Auftakt zu einem an Wendungen reichen Alptraum­trip ins Unter­be­wusste der japa­ni­schen Gegen­warts­ge­sell­schaft. Dort ist »Ijime«, das Drang­sa­lieren und Quälen von Mitschü­lern, das auch hier eine zentrale Rolle spielt, an der Tages­ord­nung. Trotzdem er dies und mehrere andere Tabus der immer noch konser­vativ geprägten, stark repres­siven, anti­in­di­vi­dua­lis­ti­schen japa­ni­schen Gesell­schaft aufgreift, bewegt sich der Film fernab vieler bekannter Muster. Nichts oder fast nichts ist wie es scheint in diesem raffi­nierten Psycho­thriller, gegen den als einziger Vorwurf seine Über­kon­stru­iert­heit zu machen ist. Auf das Geständnis der Lehrerin folgt das einer Schülerin und dann noch mehrere andere. Jedes dreht die Handlung ein Stück weiter, lässt das Voran­ge­gan­gene in neuem Licht erscheinen. So ist Confes­sions ein Rachefilm, aber auch für einige Minuten eine zarte Liebes­ge­schichte, und insgesamt viel­leicht eine bittere Komödie der Irrungen. In der Methode erinnert das natürlich vor allem an den Kurosawa-Klassiker Rashomon. Zugleich denkt man an das neuere japa­ni­sche Kino eines Miike oder Sion, aber auch an Bunuel, wenn der Film, indem er Innen­welten und Tag(alb)träume zeigt, immer wieder surreale Bild­welten konstru­iert.

Dazu gehört das Spiel mit den Farben: Grau­blaues Pastell überwiegt, doch immer wieder stechen Weiß und Rot, die Farben von Milch und Blut und – bestimmt nicht zufällig – die der japa­ni­schen Natio­nal­flagge leuchtend heraus. Um die Rolle von Milch und Blut, die beide ebenso viel Gutes tun, wie leicht verderben können, geht hier immer wieder das Gespräch. Und auch wenn die meisten Figuren hier Schüler sind, stehen dreht sich der Film eigent­lich um Mütter, ihre Rolle und um das Sujet der Mütter­lich­keit. So wie die Lehrerin Yuko eine rächende Mutter ist, begegnet man auch der Mutter eines Mörders, die an der Tat ihres Kindes zerbricht, und auch der Charakter eines anderen miss­ra­tenen Jugend­li­chen wird durch dessen gestörte Mutter­be­zie­hung beleuchtet. Das alles geschieht aber beiläufig, spie­le­risch, nie aufdring­lich mora­li­sie­rend, wie überhaupt Confes­sions vor allem durch kleine Elemente, Szenen und Geschichten am Rande besticht.

Der Film verzichtet darauf, seine Figuren zu erlösen und damit auch dem Zuschauer eine finale Erleich­te­rung zu gönnen. Nakashima erzählt statt­dessen von der Natur des Bösen, zu der gehört, dass es auch Opfer wie Miroguchi infiziert. Alles mündet in ein ebenso explo­sives wie trauriges Finale, dessen Reiz glei­cher­maßen darin liegt, dass der Film seinem pessi­mis­ti­schen Menschen­bild ebenso treu bleibt, wie dem hand­werk­li­chen Niveau und der Kunst seiner Insze­nie­rung.

Und wenn sich der Film zumindest expe­ri­men­tell auf jede der Figuren und deren ureigene Sicht­weise einlässt, und dabei selbst dem Wahnsinn mancher Figuren ein Stück Raum gibt, mag das auch auf den zweiten Blick wie mora­li­scher Perspek­ti­vismus wirken. Doch am Ende ist die Position von Film und Regisseur glasklar. Ob sie uns in ihrer alttes­ta­men­ta­ri­schen Moral gefallen kann, ist eine andere Frage. Beruhigen wird sie mit Sicher­heit nicht. Wie die Geschichte von Werther endete, das weiß man ja.