Boyhood

USA 2014 · 166 min. · FSK: ab 6
Regie: Richard Linklater
Drehbuch:
Kamera: Lee Daniel, Shane F. Kelly
Darsteller: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei Linklater, Tamara Jolaine u.a.
Zärtlich und ernüchternd zugleich

»Ich dachte eigent­lich, da wäre mehr«

Anderen beim Altern zuzusehen ist gemeinhin tröst­li­cher als das eigene Altern wahr­zu­nehmen. Mehr noch, wenn es nicht nur der unheim­lich nahe Spiegel des befreun­deten Gegenüber mit seinen ersten Falten ist, sondern eine der filmi­schen Lang­zeit­stu­dien der letzten Jahr­zehnte. Im doku­men­ta­ri­schen Bereich etwa Barbara und Winfried Junges Kinder von Golzow oder Rob Moss The Same River Twice, die genauso faszi­nie­rend die eigen­ar­tigen Zufälle und seltsamen Wirrungen des Lebens aufzu­spüren versuchen wie die zahl­rei­chen Spiel­filme, die sich dem Alte­rungs­pro­zess, Verfließen von Leben, Bezie­hungen und Träumen verschrieben haben, sei es Truffauts Antoine-Doinel, Klapischs Xavier-Zyklus oder Linkla­ters Before- Trilogie.

Hat man Richard Linkla­ters Bezie­hungs­rei­fungs­pro­zess um Ethan Hawke und Julie Delpy bei aller Poesie und Tiefe noch Belie­big­keit vorwerfen können, so ist sie in seinem neuesten Projekt Boyhood völlig verschwunden. Trotz seiner Länge von fast drei Stunden ist jeder Dialog, jeder Zeit­sprung, jeder neue Hand­lungs­zeit­raum so etwas wie die Essenz dessen, was passiert oder wie es einer der Prot­ago­nisten im Laufe des Film sagt: »Der Moment ist immer das Hier und Jetzt.«

Aus dieser ewigen Gegen­wär­tig­keit des Moments filmt Linklater das Leben von Mason (Ellar Coltrane), seiner Mutter Olivia (Patricia Arquette), seinem Vater Mason Senior (Ethan Hawke) und seiner Schwester Samantha (Lorelei Linklater). In 39 Drehtagen – drei bis vier Drehtage pro Jahr – deckt Linklater 12 Jahre ab, aus Masons Perspek­tive die Jahre der späten Kindheit zwischen 6 und 18 Jahren. Zwar konzen­triert sich Linklater auf die Kindheit Masons von der Grund­schule bis ins College samt Freund­schaften, erster Liebe und Verlusten, doch weil gerade die Kindheit die wohl komple­xeste, inten­sivste und sich am schnellsten wandelnde Bezie­hungs­zeit im Leben ist, werden in Boyhood zwangs­läufig mehr Lebens­li­nien mit einbe­zogen als noch in Linkla­ters Before-Filmen, in denen nur eine Liebes­be­zie­hung porträ­tiert wird. Die Eltern sind in Boyhood ebenso präsent wie Geschwister, Verwandte und Freunde und formen sich damit zu fast so etwas wie einem impres­sio­nis­ti­schen, wunderbar schil­lernden Gene­ra­tio­nen­ka­russel, das sich mit jedem Jahr schneller zu drehen scheint – und in seinem Drehen so ziemlich alles streift, was Zeit­ver­gehen u.a. ausmacht: die sich wandelnde Musik ebenso wie poli­ti­sche Schwer­punkte, Geschlechter- und Bezie­huns­ver­hält­nisse.

Linklater setzt dabei den Pinsel­strich nur scheinbar will­kür­lich, mal im privaten, dann wieder im beruf­li­chen, geht aufs profane des Alltags genauso ein wie auf die poeti­schen Augen­blicke und erzeugt dadurch einen Effekt, wie er sonst nur in der Malerei zu finden ist, wenn sich ein Bild erst dann in seiner Gänze erschließt, wenn man von ihm wegtritt.

Damit skizziert Boyhood nicht nur zärtlich ethno­gra­fisch Kindheit und Erwach­sen­werden, sondern auch ernüch­ternd analy­tisch Altern und Abschied­nehmen. Das Erstaun­liche dabei ist, dass selbst Erkennt­nisse, die nicht neu sind, die ans Flos­kel­hafte grenzen, in Linkla­ters filmi­scher Suche nach den verlo­renen Jahren in neuem Licht und großer Kraft wieder­auf­er­stehen, so etwa als Masons Mutter Olivia nach immer wieder erfüllten, aber auch Jahren voller Fehler und erschre­ckender Opfer erkennen muss: »Ich dachte eigent­lich, da wäre mehr«.