Animalia

Le règne animal

Frankreich/B 2023 · 128 min. · FSK: ab 12
Regie: Thomas Cailley
Drehbuch: ,
Kamera: David Cailley
Darsteller: Adèle Exarchopoulos, Romain Duris, Paul Kircher, Tom Mercier, Nathalie Richard u.a.
Filmszene »Animalia«
Zu zweit allein...
(Foto: Studiocanal)

Der Wolfsjunge

Thomas Cailley lässt in Animalia Menschen auf faszinierend natürlich wirkende Weise Tiergestalt annehmen, um vom Anderssein und der Entzweiuung mit der Natur zu erzählen.

Ein Vater mit seinem 16-jährigen Sohn im Auto, im Stau. Der Sohn stopft Chips in sich hinein, der Vater ermahnt ihn ernäh­rungs- und ökobe­wusst, der Sohn mault zurück, der Vater steckt sich eine Zigarette an, der Sohn verlässt bockig das Auto und macht sich davon, der Vater zürnend ihm nach. Dieser komö­di­an­ti­sche Einstieg wird heftig konter­ka­riert, als die beiden abgelenkt werden: explo­sives Gepolter und Gerumpel in einem Kran­ken­wagen, Glas und Metall bersten unter den tita­ni­schen Kräften eines Vogel­men­schen, der aus dem blechernen Käfig ausbricht. Vater und Sohn halten inne, kehren zu ihrem Auto zurück, geschockt, betreten, betroffen… »Quelle époque!«, »Was für Zeiten!«, kommen­tiert ein anderer Auto­fahrer schul­ter­zu­ckend. Der Einbruch des Phan­tas­ti­schen wird selbst­ver­s­tänd­lich hinge­nommen, ist schon normal geworden.

Denn ein seltsamer Virus geht um, der Menschen nach und nach in merk­wür­dige Tier­ge­stalten trans­for­miert. Der Vater, François (gespielt von Romain Duris), und der Sohn Émile (von dem phäno­me­nalen Paul Kircher, dem kommenden fran­zö­si­schen Jungstar, verkör­pert) sind vor allem deswegen so betroffen, weil Lana, die Mutter Émiles, wegen dieser Tier­wer­dung in medi­zi­ni­scher Behand­lung ist.

Sie wird nun in eine spezielle Anstalt für solche Fälle in die Gascogne verlegt, in den Südwesten Frank­reichs. Und François und Émile ziehen dorthin, um für Besuche näher dran zu sein. Doch bei der Verlegung der Tier­men­schen verun­glückt der Trans­porter kurz vor dem Ziel, und die Mutanten entwei­chen in die Wälder.

Die Region ist in Aufruhr, das Militär wird entsandt, um die Polizei bei der Einhegung des Ausnah­me­zu­stands zu unter­s­tützen und die »Bestien«, wie viele aufge­regte Bürger die vom Trans­for­ma­ti­ons­virus Befal­lenen dämo­ni­sieren, wieder einzu­fangen.

Während François nun alles daran setzt, in den zum Sperr­ge­biet erklärten Wäldern eigen­mächtig nach Lana zu suchen, ist der Sohn Émile bestrebt, die ersten Symptome seiner Verwand­lung in ein Wolfs­wesen zu verbergen, was sich aber als immer schwie­riger erweist…

Schon in seinem Debütfilm Liebe auf den ersten Schlag (mit Adèle Haenel) trans­for­mierte der Regisseur Thomas Cailley die Land­schaft des Südwes­tens von Frank­reich in eine befremd­liche Region, in der Wald­brände während eines para­mi­li­täri­schen Survi­val­trai­nings für eine beklem­mende Ausnah­me­si­tua­tion sorgten. Auch in seinem zweiten Film Animalia (im Original Le règne animal, also »Das Reich der Tiere« oder auch »Die Herr­schaft der Tiere«) entstellt er in viel­deu­tiger Offenheit und visueller Prägnanz das eigene Land bis zur Unkennt­lich­keit, um in der imaginären Über­zeich­nung die Unter­gangs­ängste und die Kata­stro­phen­fas­zi­na­tion der aktuellen Gesell­schaft lesbar zu machen.

Thomas Cailley kombi­niert in Animalia die verschie­densten Elemente. Fantasy, Body-Horror und Ecofic­tion gehen einher mit klas­si­schen Themen wie Vater und Sohn, Coming-of-Age und Erwachen der Sexua­lität. Die Hetzjagd auf die »Bestien« ist vorder­gründig eine poli­ti­sche Parabel über Frem­den­feind­lich­keit, der eine utopische Vision vom fried­li­chen Zusam­men­leben der Arten entge­gen­ge­setzt wird. Das Tierreich der Animalia kann als anti­spe­zi­es­ti­sches Plädoyer des »becoming with«, des Gemeinsam-Werdens mit den »companion species«, den »Art-Genossen« im univer­salen Sinne von Donna Haraway begriffen werden.

Es sind somit viele Inter­pre­ta­tions-Angebote, die der Film macht, und das mag in der Vielfalt unent­schieden und unver­bind­lich wirken. Doch faszi­niert letztlich die unver­krampfte Weise, in der Cailley Genre- und Autoren­film zu einer erfri­schenden Einheit verknüpft. Dazu trägt die Art und Weise bei, wie der Film gemacht ist. Und gerade die tier­mensch­li­chen Misch­wesen über­zeugen durch enorme sinnliche Anschau­lich­keit.

Verant­wort­lich ist dafür insbe­son­dere die Kame­ra­ar­beit von David Cailley, dem Bruder des Regis­seurs. Er orien­tierte sich in der Bild­ge­stal­tung mit der digitalen Kamera an mit analogem 35-mm-Material extra gedrehten Refe­renz­auf­nahmen der Land­schaft, um die fein diffe­ren­zierten Texturen und Nuancen der Natur auf eine besonders physische, ja fast haptische Wirkung abzu­stimmen.

Auch bei der Darstel­lung der Phan­ta­sie­wesen kombi­nierte das Team um den Regisseur die digitalen Effekte der Post­pro­duk­tion mit enorm aufwen­digen Arbeiten am Set und an den Schau­plätzen vor Ort, bei denen unendlich viel Mühe und Zeit in Maske und Ausstat­tung gesteckt wurden. So gelingen gerade bei den Aufnahmen der phan­tas­ti­schen Misch­wesen aus Tier und Mensch natu­ra­lis­ti­sche Perfor­mances, die dem Film einen unver­brauchten Look geben.