Anderson

Deutschland 2014 · 95 min. · FSK: ab 0
Regie: Annekatrin Hendel
Drehbuch:
Kamera: Frank Griebe, Jule Cramer
Schnitt: Jörg Hauschild
Ein Film über Sascha Anderson, Autor, Verleger und Stasi-Spitzel vom Prenzlauer Berg

Ein Verräter wie wir

Ich muss es zugeben: Mir sind Verräter immer sympa­thisch. Erstens verraten sie einem Dinge, die man ohne sie nicht wüsste. Zweitens heißt das, was man gemeinhin »Verräter« nennt, in anderen Zusam­men­hängen ein »Patriot«, ein »Whist­leb­lower« und bei uns Jour­na­listen eine »Quelle«. Wir brauchen solche Menschen, und oft genug feiern wir sie. Schließ­lich, drittens: Der, der den Verräter »enttarnt« oder anklagt, hat fast immer etwas Selbst­ge­rechtes. Nehmen wir nur Wolf Biermann, an dessen gene­reller Großar­tig­keit ich nicht rütteln will, wenn ich hier fest­stelle: Jener Tag seiner Darm­s­tädter Büch­ner­preis­rede 1991, an dem er den Ost-Berliner Schrift­steller Sascha Anderson als »Sascha Arschloch« zur medialen Treibjagd freigab, war nicht seine größte Stunde.

Die argu­men­ta­tive Gegen­seite gibt es natürlich auch: Der Verräter miss­braucht Vertrauen. Er vergiftet mensch­liche Bezie­hungen. Er kann Exis­tenzen zerstören, zumal wenn der Verräter einer ist, der im Sold einer Diktatur agiert. Das kann lebens­ge­fähr­lich werden. Allemal ist es Denun­zi­an­tentum. Ich als Jour­na­list kann auch nicht immer alles sagen, was ich weiß, nicht nur, weil es schlechtes Benehmen wäre, sondern weil ich damit andere, eben meine Quellen gefährden würde. Allein, wenn ich mal erzählen würde,was mir alles über das Innen­leben der Berlinale zuge­tragen wird... – allein bei diesem Satz leuchten jetzt schon ein paar Warn­lampen auf.
Zweitens: Das Geheimnis und das Verschweigen haben einen hohen Wert. Wahrheit und Offenheit dagegen, also der »gute Verrat«, sind nicht immer etwas Gutes, sondern manchmal nur schlechte Manieren.
Drittens: Wolf Biermann hat auch in jener Rede mal wieder recht gehabt: Unter den Decknamen »David Menzer«, »Fritz Müller« und »Peters« hat Anderson dem MfS der DDR gezielt Infor­ma­tionen geliefert, die Grundlage zur Krimi­na­li­sie­rung der bespitz­elten Personen gewesen sind. Aus den Akten der Gauck-Behörde geht hervor, dass der Schrift­steller sogar engste Freunde denun­ziert hat.
Offen blieb, welche Art Verräter Anderson war. Und was er verraten hat? Hat er Erfun­denes verraten? Um zu schützen oder noch mehr zu belasten. Anderson wurde zum Prototyp einer medialen Hatz, die etwas mit der West-Kolo­ni­sie­rung der »Neuen Bundes­länder« zu tun hatte, mit dem Aufräumen mit allem, was Links war, DDR, aber auch Gegen­kultur war zu einem Selbst­bild des Westens, das mit der neu zu schaf­fenden Berliner Republik auch gleich noch das abschaffen wollte, was ihm an der alten Bonner Republik auch nicht gefiel.

Anne­katrin Hendels Doku­men­tar­film Anderson. Er redet darin viel, wühlt in Akten. Die Regis­seurin lässt ihn umfang­eich reden. Aber auch die anderen kommen zu Wort: Hendel montiert Kommen­tare und Erin­ne­rungen von Bert Papenfuß-Gorek, Poet, Verleger und heute Knei­pen­wirt, die Malerin Cornelia Schleime, Roland Jahn, Chef der Gauck-Behörde, und vieler anderer. Die Perspek­tiven über­la­gern sich: »Eine Spie­ler­natur«, ein »Dandy« sei Anderson, ein »Gemisch aus Wahrheit und Lüge«, ein »komischer Typ«. Man versteht schnell, wie Anderson zu Sätzen kommt, wie den: »Irgendwie muss der Mensch ins Gleich­ge­wicht zwischen Selbst- und Fremdbild kommen«. Anderson findet sich selbst toll, hat Charisma, und so versteht man auch, ahnt zumindest, wie er es offenbar schaffte, alle an der Nase herum­zuführen.

Es gibt keine Wahrheit. Was es aber gibt, ist ein seltsames Bündnis zwischen beiden Seiten, zwischen Verra­te­nenem und dem Verräter. Kein Hass, wenig Wut, viel Vers­tändnis. Ein wenig wirkt es so, als ob hier, in der Wohnküche, in der diese Berufs­dis­si­denten immer zusam­men­hockten, unter ihnen Anderson, und sie wohl alle ahnten, dass es mindes­tens einen unter ihnen gab, der am nächsten Tag einen Bericht zu schreiben hatte, die ganze DDR im Nukleus zusam­mensaß. Das ist jetzt bestimmt auch wieder so ein Wessi-Blick auf die Ostler. Aber anders kann ich diesen Film nicht sehen, und viel­leicht sollten wir so, mit einem Einge­ständnis der subjek­tiven Perspek­tiven, auch der West-Ost-Perspek­tiven jetzt langsam anfangen über unsere verschie­denen Länder zu reden. Und den ganzen Deutsch­land­kitsch, den natio­nalen Schmuh jetzt, 25 Jahre nach dem Mauerfall, endlich lassen.
Allemal ist dies ein Film, der uns Wessis viel über die DDR erzählt, und da Anne­katrin Hendel in dem anderen Deutsch­land aufwuchs, gilt das vermut­lich für die anderen Deutschen auch.