Amerikanisches Idyll

American Pastoral

USA 2016 · 109 min. · FSK: ab 12
Regie: Ewan McGregor
Drehbuch:
Kamera: Martin Ruhe
Darsteller: Ewan McGregor, Jennifer Connelly, Dakota Fanning, Peter Riegert, Rupert Evans u.a.
Idylle ist nur ein Versprechen von Glück

Wir leben, indem wir irren

Ein harmo­ni­scher Samstag, ein Ausflug, der Vater und seine viel­leicht neun­jäh­rige Tochter sitzen in einer schicken Limousine, wie man sie Anfang der sechziger Jahre noch ganz selbst­ver­s­tänd­lich unter den reichen Ostküsten-Familien Amerikas fuhr. Sie blicken auf die idyl­li­sche Land­schaft im Spät­nach­mit­tags­licht...

Wir wissen schon, dass die Tochter ganz schreck­lich stottert, und sind darum umso über­raschter, als wir hören, wie das kleine Mädchen den Vater mit ganz klarer Stimme bittet, sie zu küssen. Nein, nicht auf die Backe, nicht väterlich, sondern auf den Mund, richtig, eben so, wie er sonst die Mutter küsst. Der Vater weigert sich, die Neun­jäh­rige insis­tiert, wird hyste­risch, auch der Vater wird laut. Dann setzen sie die Fahrt fort, das Thema ist beendet, doch wir spüren, was auch die beiden eher unter­be­wusst wissen: Es ist etwas unwie­der­bring­lich zerbro­chen zwischen Tochter und Vater.

Viel­leicht war es dieser Moment, an dem sich alles entschieden hat.

Wo ist der Augen­blick, an dem in einem Menschen ein Schalter umgelegt wird, etwas sich unum­kehrbar entscheidet? Gibt es ihn überhaupt? Oder bilden sich Charak­tere eher unmerk­lich um? Es ist diese Frage, die im Zentrum von Philip Roth' Roman »American Pastorale« steht. Der britische Schau­spieler Ewan McGregor – bekannt aus Train­spot­ting, Velvet Goldmine und Star Wars – hat den Roman jetzt verfilmt. Es ist seine erste Regie­ar­beit. McGregor spielt auch die Haupt­rolle in diesem emotional mitreißenden, traurigen Film, der getränkt ist in der Nostalgie für die verblassten Träume wie der für die verblasste Jugend, in den Farben der Erin­ne­rung.

Die Geschichte kreist um eine fast ideal­ty­pi­sche – aller­dings jüdisch-katho­li­sche, also doch nicht ganz typische – Familie im Osten der USA der Fünfziger und Sechziger Jahre, auf dem Höhepunkt des »ameri­ka­ni­schen Jahr­hun­derts«. Seymour Levov, ein Vorzeige-High­school-Football-Held und erfolg­rei­cher Unter­nehmer heiratet eine Miss New Jersey. Das perfekte Idyll. »Er war unser Abgott, unser Kennedy«, schwärmt sein Klas­sen­ka­merad, der Ich-Erzähler. Die Familie ist liberal, tolerant und offen gegenüber den Schwarzen; sie haben eine Tochter, die beide vergöt­tern. Diese Tochter, Merry, ist niedlich und hoch­in­tel­li­gent. Sie hat nur einen Makel: Sie stottert.

Der Film verfolgt kleine Ereig­nisse des gemein­samen Lebens: Die Thera­peutin weiß kein Mittel, um das Stottern zu kurieren. Viel­leicht sind ja die Eltern schuld, die Mutter zu perfekt. In der Umgebung gibt es Rassen­un­ruhen und soziale Aufstände, die von der Polizei unan­ge­messen blutig nieder­ge­knüp­pelt werden. Im Fernsehen sieht Merry, wie sich ein Mönch in Vietnam selbst verbrennt. Und irgend­wann, wie auf einer ganz sanften schiefen Ebene hinun­ter­glei­tend, entfremden sich Eltern und Tochter immer mehr. Merry radi­ka­li­siert sich politisch, schließt sich einer Unter­grund­or­ga­ni­sa­tion an, und sprengt schließ­lich die örtliche Post­sta­tion in die Luft. Es gab ja offenbar in den sechziger, siebziger Jahren auch in den USA solche Gruppen, die »den Krieg nach Hause« brachten.

Der Film sympa­thi­siert mit dem Vater, seinem guten Willen und seiner Ohnmacht – gegenüber der Tochter, die geradezu unan­sprechbar wird, aber auch gegenüber dem Anti-Terror der Polizei. Unter­grün­diges Thema ist der ameri­ka­ni­sche Traum und sein Verschwinden in einer Selbst­zer­stö­rung, die Anfang der Sechziger einsetzt, nicht erst mit 9/11, dem »Krieg gegen den Terror«.

Roth und McGregor zeigen Hass und die Wut der 68er gegen ihre Eltern. Eine erstaun­liche, heute kaum vorstell­bare Härte, die eine unge­rechte Kompo­nente hatte. Von deren Konse­quenz und Mut aber heutige Gene­ra­tionen auch etwas lernen können und sollten. Der Film versteht beide Seiten, sieht aber vor allem die Leiden der Eltern­ge­ne­ra­tion. McGregor ist ein erstaun­lich guter, tiefer und ernster Film gelungen, gesättigt in Sentiment – nicht zu verwech­seln mit Senti­men­ta­lität. Der Erzähler fasst am Schluss zusammen: »What Merry blew up that day was nothing less than his life. Just got them wrong. That’s how we know, we are alive: By being wrong.«

Wie im Bilderbuch

Schu­li­sche Jahr­gangs­treffen haben einen beson­deren Reiz. Alte Zeiten leben für einen Abend wieder auf. Das äußere Erschei­nungs­bild wird eifrig inspi­ziert. Und im Mittel­punkt steht natürlich die Frage, welchen Weg die ehema­ligen Klas­sen­ka­me­raden einge­schlagen haben. Wer hat eine Familie gegründet? Wer hat es beruflich weit gebracht? Und wer hat einen weniger schönen Absprung hingelegt? Nicht selten staunt man über die Leis­tungen einstiger Außen­seiter und die nicht für möglich gehal­tenen Abstürze alter Über­flieger. Vieles entwi­ckelt sich nicht so, wie man es als junger Mensch geplant oder vermutet hat. Diese Erkenntnis befällt in der Roma­n­ad­ap­tion Ameri­ka­ni­sches Idyll auch den Schrift­steller Nathan Zuckerman (David Strat­hairn), der auf einem High­school-Treffen seinem früheren Mitschüler Jerry Levov (Rupert Evans) begegnet, zu dessen älterem Bruder Seymour (Ewan McGregor) damals alle aufge­schaut haben. Ein attrak­tiver, sportlich begabter Junge, dem – so der allge­meine Tenor – eine glänzende Zukunft bevor­stehen muss.

Tatsäch­lich erfahren wird über Zucker­mans Erzäh­ler­kom­mentar, der die Rahmen­hand­lung des Films struk­tu­riert, dass Seymour – wegen seines nordi­schen Aussehens oft nur »der Schwede« genannt – auch nach der Schulzeit von sich reden macht. Verhei­ratet mit der Schön­heits­kö­nigin Dawn (Jennifer Connelly), übernimmt der junge Mann irgend­wann nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand­schuh­fa­brik seins Vaters Lou und darf sich zudem über die Geburt seiner Tochter Merry freuen, die wohl­behütet auf einer Farm im vornehmen Old Rimrock aufwächst. Gutaus­se­hend und unter­neh­me­risch erfolg­reich – die Levovs leben den ameri­ka­ni­schen Traum, verkör­pern das Verspre­chen auf Glück und scheinen dem Bild einer Vorzei­ge­fa­milie zu entspre­chen.

Dass diese Annahme trüge­risch ist, legt Zucker­mans dezi­dierte Einfüh­rung nahe und wird gestützt durch den etwas zu opti­mis­ti­schen Titel des Werks. Kleine Risse bekommt die schöne Fassade der Levovs bereits, als Merry im Kindes­alter zu stottern beginnt, was eine Psycho­login als Rebellion gegen das perfekte Eltern­haus, besonders gegen ihre strahlend schöne Mutter, inter­pre­tiert. Das Mädchen hat unver­kennbar Schwie­rig­keiten, ihren Platz in der Welt zu finden. Besonders deutlich wird dies während eines Ausflugs mit ihrem Vater, bei dem sich Seymour bittet, ihn so zu küssen, wie er ihre Mutter zu küssen pflegt. Ein Irri­ta­ti­ons­mo­ment, das unter die Haut geht und dem Zuschauer zeigt, dass sich Merry verzwei­felt nach Zuneigung sehnt. Halt findet sie als Jugend­liche schließ­lich in einer radikalen Akti­vis­ten­gruppe, die in den 1960er Jahren gegen den Viet­nam­krieg und das US-System im Allge­meinen aufbe­gehrt. Als eines Tages das Postamt von Old Rimrock von einem Bomben­an­schlag erschüt­tert wird, Merry als Haupt­ver­däch­tige gilt und nach der Tat spurlos verschwindet, bricht die vermeint­lich heile Welt der Levovs in sich zusammen.

Philip Roths Roman »Ameri­ka­ni­sches Idyll«, für den der Autor 1998 mit dem Pulitzer-Preis ausge­zeichnet wurde, ist eine komplexe Abhand­lung über den ameri­ka­ni­schen Traum und seine Schat­ten­seiten, mit der es sich Schau­spieler Ewan McGregor in seinem Regie­debüt nicht gerade leicht­macht. Löblich ist es allemal, dass er große Ambi­tionen verfolgt. Gerecht wird der Schotte seinem Stoff aber bloß in Ansätzen, obwohl die Adaption einige intensive Szenen zu bieten hat. Etwa wenn Seymour und Dawn nach dem Bomben­an­schlag die Witwe des einzigen Todes­op­fers aufsuchen, die ihnen unmiss­ver­s­tänd­lich vor Augen führt, dass die schreck­liche Tat das Leben der Levovs unwi­der­ruf­lich zerstört hat. Beklem­mende Augen­blicke wie dieser täuschen aller­dings nicht darüber hinweg, dass es dem histo­ri­schen Fami­li­en­drama vieler­orts an erzäh­le­ri­scher Raffi­nesse und einer genauen Figu­ren­psy­cho­logie fehlt.

Als Chronik einer gefähr­li­chen poli­ti­schen Radi­ka­li­sie­rung überzeugt McGregors Verfil­mung nur bedingt, da wir trotz einiger prägnanter Konfron­ta­tionen zu wenig über Merrys Innen­leben erfahren. Bedau­er­lich, wenn man bedenkt, dass die Thematik brand­ak­tuell ist. Allzu holz­schnitt­artig fällt auch die Zeichnung Dawns aus, die nach Merrys Verschwinden fast ausschließ­lich als depres­sives Nerven­bündel in Erschei­nung tritt. Deutlich diffe­ren­zierter wird der männliche Prot­ago­nist darge­stellt, der sich auf eine detek­ti­visch anmutende Suche nach seiner Tochter begibt und inständig hofft, dass sie viel­leicht doch unschuldig ist. McGregor legt den Schmerz und die Angst des erfolgs­ver­wöhnten Unter­neh­mers glaubhaft offen und lässt uns spüren, wie schwer es für ein Eltern­teil sein muss, zu merken, dass man die Bindung und den Zugang zu seinem Kind komplett verloren hat. Da der Film Seymours Leidensweg aller­dings immer wieder mit plaka­tiven Bildern und unge­lenken Szenen versieht, kann man dem Regie­debüt lediglich folgendes Urteil ausstellen: bemüht, aber auf vielen Ebenen ausbaufähig.