Deutschland 2022 · 84 min. · FSK: ab 12 Regie: Katharina Woll Drehbuch: Katharina Woll, Florian Plumeyer Kamera: Matan Radin Darsteller: Anne Ratte-Polle, Lea Drinda, Ulrike Willenbacher, Urs Jucker, Hassan Akkouch u.a. |
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Hyperrealer Alltagsvollzug | ||
(Foto: Camino) |
»Und der spielt die traurigste Rolle,
dem die Basis mit Grundeis ergeht…
Ich wurde auf treibender Scholle
In des Ozeans Brandung verweht.«
– Joseph Victor von Scheffel, Der erratische Block
Das gibt es im deutschen Film eigentlich viel zu wenig: ein Film mit radikaler Position. Eine Position, die sich dann auch noch um feministische Belange kümmert, und diese vielleicht auch noch über eine Kettenreaktion an Streitgesprächen, heftigsten Beziehungsdiskursen austariert. Dass so etwas geht, hat zuletzt Hanna Doose in ihrem wuchtigen Wann kommst du meine Wunden küssen? gezeigt, jetzt folgt Katharina Woll mit kurzen und knappen und sehr intensiven 80 Minuten.
Hat sich Doose auf ein Umfeld mit alternativen Lebensentwürfen konzentriert, befinden wir uns bei Woll im genauen Gegenteil, in einem gutbürgerlichen Vorort, in dem die Psychotherapeutin Ina (Anne Ratte-Polle) einen Tag durchlebt, der sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs führen wird, denn wie so oft im echten Leben kommen die Schicksalsschläge gebündelt, rebelliert die halbwüchsige Tochter Elli (Lea Drinda) genauso wie ihr gegenwärtiger Partner Reto (Urs Jucker) gegen das, was Ina sich aufgebaut hat: Unabhängigkeit. Und dann sind da natürlich noch die Gespenster der Vergangenheit da, Inas Ex Hannes (Jonas Hien) und ihre Mutter Tamara (Ulrike Willenbacher).
Wolls Film funktioniert wie eine Versuchsanleitung, wird Szene für Szene ein neues Problem in die straffe Handlung infiltriert, um nach einer kurzen Atempause mit dem nächsten Widerhaken zu kommen. Die daraus entstehenden Krisendialoge, die Woll zusammen mit ihrem Drehbuchautor Florian Plumeyer entwickelt hat und für die beide auf dem Filmfest München 2022 mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino für das beste Drehbuch ausgezeichnet worden sind, wirken tatsächlich auf
beängstigende Weise hyperreal, seien es die zermürbenden Gespräche mit der Tochter, dem Partner oder der eigenen Mutter. Woll zeigt dabei nicht nur die Grenzen psychotherapeutischen Wissens, das nur selten auf das eigene, vertraute Umfeld übertragen werden kann, sondern zeigt mit kluger Beobachtungsgabe auch unausrottbare Alltags-Pattern wie das ewige und in vielen Studien und Texten untersuchte inflationäre Entschuldigungsverhalten von Frauen. Und Woll zeigt mit wenigen, gnadenlosen Handstrichen, dass Alltag und seine tradierten Pattern stärker als jede Emanzipation sind, weil frei nach Ulrich Becks und Elisabeth Beck-Gernsheims »Riskante Freiheiten«, am Ende jeder für seine Freiheit selbst verantwortlich
ist.
Das ist auch deshalb mutig und unkonventionell, weil es in den letzten Jahren hauptsächlich die in ihrer Naivität schon fast müde machenden Erfolgsgeschichten von weiblicher Selbstermächtigung gibt.
Wolls Inszenierung irritiert allein dadurch, dass sie immer wieder versucht, ihrer Abwärtsspirale auch eine komische Note zu geben und vielleicht noch mehr, dass sie ihrem Film eine TV-Ästhetik verleiht, die mit ihrem schablonenartigen Ansatz nicht zu dem intensiven, komplexen Spiel ihres Narrativs passt. Doch das Ensemble um die großartige Anne Ratte-Polle im Zentrum ist so stark, dass selbst dieser fixe Rahmen ins Schwanken gerät.
Und vielleicht ist dieser Rahmen dann auch als Kontrastbogen notwendig, um gleich einem trojanischen Pferd Einzug in sonst nur schwer erreichbare »Zielregionen« zu erlangen. Beim eigentlich hauptsächlich mit asiatischen Filmen bespielten Wettbewerb auf dem 21. International Film Festival Dhaka in Bangladesch ist dies gelungen – dort erhielt Woll den Preis für die beste Regie, was nicht nur für die Leistung von Woll spricht, sondern auch zeigt, dass dieser Film durchaus ein universelles Problem in einem Rahmen verhandelt, der global rezipierbar ist.
Und dann ist Wolls Ina natürlich eine wunderbare Wiedergängerin von Anton Tschechows großer Heldin Olga Semjonowna Plemjannikowa in seiner Erzählung Herzchen, die in heutiger Zeit wohl auch ihre lässige, kaum erträgliche Ruhe verloren hätte.