Alles, was wir geben mussten

Never Let Me Go

GB/USA 2010 · 104 min. · FSK: ab 12
Regie: Mark Romanek
Drehbuch:
Kamera: Adam Kimmel
Darsteller: Carey Mulligan, Andrew Garfield, Keira Knightley, Isobel Meikle-Small, Ella Purnell u.a.
Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum...

Träumen Klone von replizierter Liebe?

»Die Repli­ka­tion oder Redu­pli­ka­tion beschreibt die Verviel­fäl­ti­gung des Erbin­for­ma­ti­ons­trä­gers DNA einer Zelle nach einem semi-konser­va­tiven (von latei­nisch semi „halb“; conser­vare „erhalten“) Prinzip. Dabei handelt es sich in der Regel um eine exakte Verdop­pe­lung der DNA.« (Aus: Wikipedia/Repli­ka­tion)

+ + +

Ein engli­sches Internat in den 1970er Jahren. Schüler und Schü­le­rinnen; Freund­schaften und Lieb­schaften und manchmal auch beides, über die Zwei­sam­keit hinaus mitein­ander verwoben. Wie die Menage-à-trois zwischen Kathy (Cary Mulligan), Ruth (Keira Knightley) und Tommy (Andrew Garfield). Aber das ist nichts, was der Leiterin von Halisham, Miss Emiliy (Charlotte Rampling) Sorgen machen müsste – solange die wich­tigsten Regeln einge­halten werden. Die vor allem das Verlassen des Geländes unter­sagen und dem Lehr­per­sonal verbieten, den Kindern ihre eigent­liche Bestim­mung zu verleiden. Als es dann doch einmal passiert, wird die betref­fende Lehrkraft zwar sofort entlassen, aber die zarte Bezie­hungs­ba­lance zwischen Kathy, Tommy und Ruth geht ebenfalls verloren.

Als die Drei nach Been­di­gung ihrer Inter­nats­zeit in nun unbe­auf­sich­tigten Wohn­ge­mein­schaften auf dem engli­schen Land wohnen, verstärkt sich dieser Zwist noch einmal und Kathy wird zunehmend zur Beob­ach­terin einer Paral­lel­welt, die der unseren immer wieder irri­tie­rend nahe scheint. Wären da nicht die elek­tro­ni­schen Armbänder, die im Internat der 1970er noch befremdet haben und nun fast selbst­ver­s­tänd­lich wirken. Und wäre da nicht das voll­kommen apoli­ti­sche, wider­stands­freie Selbst­ver­s­tändnis der drei jungen Menschen und ihrer Mitbe­wohner in der briti­scher Muster­idylle: Die Jugend­li­chen wissen, dass sie Klone sind und nicht mehr lange zu leben haben. Spätes­tens mit Ende 20 werden ihnen so viel Organe und Extre­mitäten entnommen sein, dass sie eine weitere Spende nicht überleben, aber der Gesell­schaft einen unschätz­baren Dienst bezüglich eines verlän­gerten, würdigen Alte­rungs­pro­zesses erwiesen haben.

Dieser auch in der gleich­na­migen lite­ra­ri­schen Vorlage von Kazuo Ishiguro angelegte rare Grenzgang zwischen Dystopie und Utopie wird in der filmi­schen Umsetzung von Alles, was wir geben mussten kongenial bewahrt. Dies mag zum einen an dem subtilen Drehbuch von Alex Garland liegen, zum anderen an der Hand­schrift Mark Romaneks, der zuletzt vor neun Jahren mit seiner empa­thi­schen Stalker-Geschichte One Hour Photo in den Kinos präsent war. Auch hier gelingt es ihm, indi­vi­du­elles-, und zudem gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Anders­sein fein­fühlig und ohne mora­li­schen Gestus zu porträ­tieren.

Aber es sind dann auch die schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen, die den Film aus dem asso­zia­tiven Raum von Dystopien wie Blade Runner und Children of Men befreien und einzig­artig machen. Zwar werden auch in Alles, was wir geben mussten Fragen nach der Liebes- und Lebens­fähig­keit nicht-originärer mensch­li­cher Wesen gestellt; suchen die Klone zwar nicht ihren Schöpfer, aber doch zumindest ihr „Original“ und wird über die Termi­nie­rung gegen­wär­tiger mora­li­scher Grund­sätze speku­liert. Aber die schau­spie­le­ri­sche Darstel­lung eben dieser Prozesse ist dabei so glaubhaft, authen­tisch und berührend, die Dialoge so zurück­ge­nommen und die Insze­nie­rung entgegen aller Science-Fiction-Klischees über die Paral­lel­welt­idee so nah an „unserer“ Realität und ihren dies­be­züg­li­chen Diskursen oszil­lie­rend, dass es Schaudern und Freude zugleich bereitet.