Alice im Wunderland

Alice in Wonderland

USA 2010 · 108 min. · FSK: ab 12
Regie: Tim Burton
Drehbuchvorlage: Lewis Carroll
Drehbuch:
Kamera: Dariusz Wolski
Darsteller: Mia Wasikowska, Johnny Depp, Helena Bonham Carter, Crispin Glover, Anne Hathaway u.a.
Achterbahnfahrt auf Disney-Niveau

Alice im Nüch­tern­land

»Sometimes I believed as many as six impos­sible things before breakfast.« – »Excellent practice.« Der unzer­stör­bare Charme von Lewis Carrolls Alice im Wunder­land liegt in Dialogen wie diesem, in seinen feinen Sprach­spielen und in dem grund­sätz­li­chen Absur­dismus, der aus dem Roman und seinem Nach­fol­ge­buch über die Reise ins »Spie­gel­land« weit mehr macht, als nur zwei Kinder­bücher. Über 50 Mal ist Alice im Wunder­land verfilmt worden, das erste Mal 1903. Man kann sich den knapp zehn Minuten langen Film im Internet ansehen, und spürt schon in diesem kurzen stummen Bilder­schnipsel viel von der magischen, märchen­haften Wirkung dieser Geschichte, die ein Reich der Ambi­va­lenz entfaltet, das auch Erwach­sene faszi­niert.

Die Abenteuer von Alice sind einfach bezau­bernde Geschichten – und Tim Burton ist ein bezau­bernder Regisseur. Auch was Tim Burton sich vor dem Frühstück so ausdenkt, wollte man schon immer gern wissen – kein zweiter Regisseur scheint daher derart perfekt geeignet, diesen Roman zu verfilmen, in dem einfach alles erlaubt ist: Burtons Werk ist durch­drungen von der Liebe zum 19. Jahr­hun­dert und dessen Kunst, zu den großen Basis-Mythen der Klas­si­schen Moderne, vor allem aber zu allem Vikto­ria­ni­schen, zu dessen kleinen Spleens, zum Skurrilen und Grotesken, zu Märchen­fi­guren, und Sprach­spielen, aber auch zu den Abgründen dieser Epoche, zu den Seri­en­mör­dern der Londoner Nebelnächte, denen Burton sich in seinem letzten Film Sweeney Todd gewidmet hat. Eigent­lich ist jeder Film Burtons ein Sturz durchs Kanin­chen­loch hinein in ein Wunder­land über­bor­dender, immer verspielter Phantasie, in ein Reich des Überschuß' und des Unef­fek­tiven, Rausch­haften.

Das Ergebnis dieser Ideal­paa­rung ist jetzt aller­dings mindes­tens ernüch­ternd. Eine Roman­ver­fil­mung sollte man keines­falls erwarten, Burton hat sie gar nicht beab­sich­tigt. Die Roman­hand­lung kommt nur am Rande vor, allein das spre­chende Riesen­ka­nin­chen und die fliegende Grin­se­katze tauchen immer wieder auf. Für Burton und Disney-Stamm­au­torin Linda Wool­verton (König der Löwen, Mulan) liefert Carroll nur loses Spiel­ma­te­rial, das beliebig um eigene Einfälle ergänzt wird. Das hat seine Vorteile, denn wenn man Tim Burton heißt, kommt auch dann immer noch etwas Passables heraus, wenn man einfach nur einen Buchtitel nimmt und damit seinen ganz eigenen Film macht. Alice ist wie so oft bei diesem Regisseur ein verqueres Puppen­spiel, Kino als kunter­bunter Erleb­nis­park, als Achter­bahn­fahrt durch die Kultur­ge­schichte und durch Burtons eigene Obses­sionen. Insofern ist dies ein eini­ger­maßen richtiger, – wenn auch bei weitem nicht der beste – Burton-Film geworden, in dem wieder seine Lieb­lings­schau­spieler Helena Boham Carter und Johnny Depp mit von der Partie sind, ebenso wie der Komponist Danny Elfman.

Weniger über­zeu­gend ist die Entschei­dung, Alice von einem Mädchen kurz vor Beginn der Pubertät in ein 19-jähriges Russen­model zu verwan­deln und von der in Austra­lien geborenen Mia Wasi­kowska spielen zu lassen. Die ist zwar gerade sehr angesagt, strahlt durchaus etwas inter­es­sant-Äthe­ri­sches aus, und ähnelt auf merk­wür­dige Weise der jungen Sandrine Bonnaire – aber Alice hatte man sich doch etwas anders vorge­stellt. Weniger glatt, weniger hübsch, vor allem weniger fertig.
Auch sonst handelt es sich hier um eine weniger kindlich-verspielte, sondern unan­ge­messen ernste Inter­pre­ta­tion des Stoffs: Alice mutiert in eine messia­ni­sche 08/15-Fantasy-Heldin, die nicht nur sich selbst befreien muss, sondern das ganze Wunder­land vom Terror­re­gime der Roten Königin erlösen soll. Gegen Ende kämpft sie darum in Jeanne-D’Arc-Rüstung einen typischen Block­buster-Endkampf mit viel Krach und Compu­ter­technik gegen den Drachen Jabber­wocky und die Spiel­kar­ten­armee, was im Ergebnis einer Art viertem Herr der Ringe-Film ähnelt, und aussieht wie eine Mischung aus Die Chroniken von Narnia und The Golden Compass. Bevor wir es vergessen: Dies ist übrigens wieder ein 3D-Film. Aller­dings wurde er auf 2D gedreht, alle Effekte erst nach­träg­lich digital hinein­ge­ar­beitet. Das hat gewiss viel Geld gekostet, bringt aber wenig. Mit dem visuellen Spek­ta­kel­kino von Avatar kann es nicht mithalten. Visuell sieht das eher aus, wie eine vers­tüm­melte Shrek-Fort­set­zung.

Für all das muss man nach Lage der Dinge nicht den Regisseur, sondern das produ­zie­rende Disney-Studio verant­wort­lich machen. Denn so sauber und clean, so blutleer, waren auch die anderen jüngeren Disney-Produkte: Offen­sicht­lich muss der Plot auch noch für ein Compu­ter­spiel ausrei­chen, Rockröhre Avril Lavigne soll per Titelsong ihre Ziel­gruppe einfangen und man sieht schon während des Films vor dem inneren Auge die Plas­tik­puppen mit den Gesich­tern von Helena Bonham Carter und Johnny Depp in den Läden stehen.

Was an der Alice-Vorlage gerade so bezau­bernd ist, ist die »British­ness« der Bücher, die Tatsache, dass so ein Stoff – wie Peter Pan, wie Mit Schirm, Charme und Melone, wie die Werke der Monthy Pythons – in seiner Ironie und Zurück­hal­tung, seinem elitären Under­state­ment, nur in England möglich ist. »I am growing an awful lot lately« – wie Alice irgend­wann über sich bemerkt, ist auch dieser Film ungeheuer groß und fett, größer und fetter, als es dem Stoff gut tut. Weil der Film versucht, es allen recht zu machen – weit mehr als »two teaspoons of wishful thinking.« – muss die arme Alice am Ende gar nach China reisen, viel­leicht mit der Aussicht auf eine Fort­set­zung im Wunder­land unserer Gegenwart. Darüber hinaus bietet auch Alice Im Wunder­land die von Disney gewohnten nicht gerade subtilen biederen Moral­lek­tionen – das Gegenteil von Carrolls anar­chis­ti­scher Satire auf die diszi­pli­nie­renden Kinder­bücher seiner Zeit. Dies Wunder­land ist keine Utopie des Denkens mehr, sondern Schau­platz eines Bildungs­ro­mans.

»All the best people are mad«? Schön wär’s.