30.09.2010

»Wir verschwinden nie«

Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives
Schon unheimlich:
ein Affengeist, direkt aus dem thailändischen Dschungel kommend
(Foto: Movienet)

Apichatpong Weerasethakul über Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives

Westler dürfen ihn auch einfach »Joe« nennen. Aber die echten Cineasten versuchen sich spätes­tens seit dem magischen Dschun­gel­trip Tropical Malady (2004) an dem vollen Namen. Und als Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives nun 2010 so über­ra­schend wie verdient in Cannes die Goldene Palme gewann, buch­sta­biert die ganze Kinowelt: Apichat­pong Weer­a­set­hakul. Artechock-Autor Thomas Willmann traf den thailän­di­schen Filme­ma­cher und Video­künstler (dessen Arbeiten schon vor dem Hype beim Münchner Underdox-Festival vertreten waren) zum Gespräch.

artechock: Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives ist ein Film über Reinkar­na­tion – er hat aber auch als Projekt selbst diverse Inkar­na­tionen: Neben dem Spielfilm auch noch einen Kurzfilm, A Letter to Uncle Boonmee, und die Video­in­stal­la­tionen des »Primitive Projects«, die auch im Münchner Haus der Kunst zu sehen waren. Wie haben sich diese Stadien entwi­ckelt?

Apichat­pong Weer­a­set­hakul: Seit einigen Jahren arbeite ich sowohl in den Medien Langfilm, Kurzfilm als auch Instal­la­tion. Aber das war immer vonein­ander getrennt. Nach einem Langfilm habe ich einen Kurzfilm gemacht, usw. Es gab zwar gemein­same Themen wie »Erin­ne­rung«. Aber sie gehörten nie zur selben Gruppe von Ideen. Also dachte ich: »Viel­leicht könnte ich einmal das komplette Set machen.« (Lacht) Denn die Leute bringen immer durch­ein­ander, was ich mache. Mache ich Kinofilme, sagen die Leute: »Manches davon ist wie eine Instal­la­tion.« Und im Museum sagen sie: »Ach, das ist wie Kino.« Also dachte ich: »Na, warum nicht!« (Lacht)

Ich habe nach einem Weg gesucht, diese Region zu präsen­tieren, den Nordosten Thailands. Wie Dinge verschwinden, oder über­dauern – denn Thailand verändert sich so ungeheuer rapide. Und ich habe das Gefühl, dass wir so leicht Dinge vergessen. Insbe­son­dere in poli­ti­scher Hinsicht – aber speziell als Filme­ma­cher auch, wie wir Filme drehen, die Film­sprache. Inzwi­schen ist das sehr verein­heit­licht. Geht man in die Städte, ist es alles das selbe. Das war der Anstoß für diese Gruppe von Arbeiten, die über drei Jahre hinweg entstanden ist.

artechock: Die Inkar­na­tionen entwi­ckelten sich also simultan?

Weer­a­set­hakul: Ja, genau.

artechock: Der Kurzfilm enthält auch quasi schon eine Beschrei­bung des Langfilms. Sie wussten also schon in etwa, wie der aussehen sollte?

Weer­a­set­hakul: Ja, es gab sogar schon ein Drehbuch. Doch die Drehorte und die Darsteller standen noch nicht fest. Der Kurzfilm ist wie eine Skizze – oder besser gesagt: Er ist mein Brief an diese Figur, um zu sagen »Okay, ich werde einen Film über Dich machen, und jetzt bereite ich den vor, suche nach Häusern für Dich.«

artechock: Ein vermut­lich unbe­deu­tendes Detail ist mir aufge­fallen: Bei dem Kurzfilm haben Sie gesagt, dass Sie bewusst Moskitos, Fliegen und andere Insekten sozusagen einge­laden haben, durch’s Bild zu fliegen weil Sie die geis­ter­haften Artefakte schön fanden, die sie hinter­ließen. In Uncle Boonmee gibt es hingegen mehrere Szenen, wo explizit Insekten, Mücken getötet werden. Ein zufäl­liger Gegensatz?

Weer­a­set­hakul: Es ist bewusst – aber es hängt mit den sehr unter­schied­li­chen Dreh­be­din­gungen zusammen. Beim Kurzfilm wurde das inspi­riert durch kleine Insekten, die durchs Bild flogen, was beim Filme­ma­chen normal als unbrauch­barer Take gilt. Ich sagte: »Warum sie nicht da drin haben, statt sie mit dem Computer wegzu­re­tu­schieren?« Aber bei UNCLE BOONMEE, dem Spielfilm, waren die Insekten wirklich ein Problem. Es gibt jede Menge Insekten im Film. Natürlich dachte ich: »Ach, es wäre schön, diese Insekten zu zeigen, um diesen Überfluss an Leben anzu­deuten in diesem Film, der vom Tod spricht.« Aber es waren zu viele! Wir drehten im Dorf, und sobald wir einen Schein­werfer aufstellten, kamen Tausende Insekten ange­flogen! (Lacht) Und ruinierten den Take. Ein oder zwei wären okay gewesen. Deshalb gibt es eine Szene, wo sie getötet werden.

artechock: Ihre Rache!

Weer­a­set­hakul: Die Rache, ja, genau! (Lacht)

artechock: Obwohl Uncle Boonmee so traum­artig wirkt, ist es ein sehr präziser Film. Resul­tiert das aus genauer Planung, oder späterer Redu­zie­rung?

Weer­a­set­hakul: Das hat viel mit vorhe­riger Planung zu tun. Aber gleich­zeitig unter­scheidet sich der Film ziemlich vom fertigen Drehbuch. Als wir den späteren Teil des Films gedreht haben, sind wir sehr präzise vorge­gangen. Denn einiges davon ist eigent­lich nicht in meinem Stil gedreht, sondern eher im alten Stil, dem ich Tribut zollen wollte. Deshalb mussten wir sehr klassisch planen.

artechock: Gab es viele Takes?

Weer­a­set­hakul: Sehr viele Takes! Bei diesem Film waren die Dreh­ar­beiten länger als bei meinen anderen Filmen.

artechock: Ich finde verblüf­fend, wie zwingend und musi­ka­lisch der Rhythmus des Films wirkt, obwohl er meist mit so langen Takes und wenigen Schnitten arbeitet.

Weer­a­set­hakul: Ich weiß nicht so recht. Für mich ist dieser Film wirklich klassisch. Wir hatten hier in München eine Vorfüh­rung, wo Chris Dercon [Direktor des »Haus der Kunst«, Anm. d. Red.] bemerkte: »Das sind so lange Einstel­lungen und wenige Schnitte.« Und ich dachte: »Nein, das sind viele Schnitte!« (Lacht) Für mein Gefühl ist das eine sehr main­stream­ar­tige Heran­ge­hens­weise, als Tribut an alte Filme.
Und es gab jemanden, die sagte, sie habe den Film zweimal gesehen. Das erste Mal hatte er den richtigen Rhyhtmus für sie. Und das zweite Mal war er ihr zu schnell! Zu kurz. Und wenn sie ihn nochmal gucken würde, wäre er wohl viel zu kurz. (Lacht)

Wir haben etwa für die Szene beim Abend­essen im klas­si­schen Stil gear­beitet. Wir drehten eine Totale als Mastershot, und dann verwen­deten wir Groß­auf­nahmen und Gegen­schüsse. Ich habe das mit meinem Cutter zusam­men­ge­setzt, und wir hatten viele Alter­na­tiven. Aber wie Sie sagen: Es ist ein musi­ka­li­scher Rhythmus. Auch wenn es keine eigent­liche Musik gibt. Wir machen uns viel Gedanken um das Bild und den Umge­bungston, den wir sehr genau basteln. Mit Musik, mit einem Song ist es ganz einfach. Aber das hatten wir nicht. Wir hatten nur den Schnitt. Und auch wenn es nicht viele Schnitte gibt, haben wir damit gear­beitet.

artechock: Erst ganz am Ende gibt es tatsäch­lich einen Song. Welche Bedeutung hat der für Sie?

Weer­a­set­hakul: Der Song erzählt von einer Frau, in die ein Mann sehr verliebt war. Der Song heißt »Acro­phobia« [also »Höhen­angst«; der Song ist von der thailän­di­schen Ein-Mann-Band Penguin Villa, Anm. d. Red.] – er hat also Angst, zu ihr sozusagen hinauf­zu­klet­tern und bittet sie, herun­ter­zu­kommen, mögli­cher­weise vom Himmel, oder wo auch immer her. Es ist ein populärer Song, und ich mag ihn.

Auch der filmische Stil ist da zu einem Schluss gekommen, der nah an meinem üblichen, bevor­zugten Stil ist. In anderen Filmen zum Beispiel benutze ich oft Musik, die ich mag, als Referenz oder Variaton meiner eigenen Werke. Für ein thailän­di­sches Publikum wirkt das auch noch anders, weil die Musik populär ist, aber schon ein paar Jahre alt. Sie ist also nicht modern, hat ein bisschen was Retromäßiges.

artechock: Also wiederum das Thema der Erin­ne­rung...

Weer­a­set­hakul: Ja, und der Zeit!

artechock: Der Film ist einer­seits recht enig­ma­tisch und komplex – in anderer Hinsicht aber auch wunderbar einfach.

Weer­a­set­hakul: Ich vermisse die Einfach­heit des alten Stils des Filme­ma­chens. Egal ob thailän­di­sches oder west­li­ches Kino: Man fühlt, dass der Rhythmus langsamer ist. Und auch der Schau­spiel­stil, und der Schnitt. Ich würde nicht sagen, dass das etwas Neues ist. Sondern es ist etwas, für das ich auf die Vergan­gen­heit zurück­ge­griffen habe, so dass man sich eher fühlt, als würde man wieder zum Kind. So ist das für mich zumindest: Der Blick­winkel eines Kindes.

artechock: Ich meine aber nicht nur eine stilis­ti­sche, sondern eine geradezu philo­so­phi­sche Einfach­heit: Der Film ist getragen von einem unglaub­li­chen Gefühl der Akzeptanz. Obwohl er den Tod zum Thema hat, wird darum nie ein großes Drama gemacht. Selbst das Erscheinen der Geister scheint ohne jeden Schrecken, völlig natürlich, selbst­ver­s­tänd­lich.

Weer­a­set­hakul: Ja, für mich ist es eher eine Trau­rig­keit die sich einstellt bei der Vorstel­lung, man hätte eine normale Unter­hal­tung mit jemand Verstor­benem, den man liebt. Wir haben diesen Traum, diesen Wunsch, mit unseren Lieben zu sprechen. Das geht auch auf den Roman zurück. Nicht nur in Thailand, auch in süda­me­ri­ka­ni­schen Romanen gibt es eine Koexis­tenz der Toten und der Lebenden. Es gibt keine Trenn­linie zwischen beiden. Der Ehemann oder die Frau kommen zurück, sie leben zusammen, kochen für einander oder haben sogar Sex. Es gibt da keine Trennung. Und ich halte das für ein sehr schönes Konzept des Leben­dig­s­eins und Errinerns. Und das Kino kann das leisten. Nur das Kino!

artechock: In dem Film scheinen überhaupt viele Trenn­li­nien zu verschwinden: Zwischen Mensch und Natur oder Tier, am Ende sogar Gestein, zwischen Mann und Frau, lebendig und tot, doku­men­ta­risch und fiktiv...

Weer­a­set­hakul: Ja. Das war schon immer ein Interesse all meiner Arbeiten. Die Realität im Kino zu hinter­fragen. Ich glaube norma­ler­weise nicht daran – es ist immer ein sehr subjek­tiver Blick. Selbst Doku­men­ta­tionen scheinen mir stets künstlich – sei’s das Sound­de­sign oder was immer auch.
Es spiegelt auch eine Vorstel­lung unserer Existenz wieder... Es ist eine sehr buddhis­ti­sche Sicht der Dinge. Das Publikum seines Atmens bewusst zu machen. Wenn man in einem Film zwischen Fakt und Fiktion hin und herspringt, macht man dem Publikum bewusst, dass es eine Illusion, einen zwei­di­men­sio­nalen Film sieht. Und für mich ist das ein sehr wunder­bares Gefühl. Auf irgend­eine Weise wird man sich dieses Mediums bewusst.

artechock: Es gibt in dem Film auch gar kein Ankämpfen gegen all diese Trenn­li­nien. Sie scheinen einfach nicht vorhanden. Ist auch das in gewisser Weise buddhis­tisch?

Weer­a­set­hakul: Ja. Und auch meine Arbeits­me­thode – ich arbeite sehr eng mit den Schau­spie­lern zusammen, der Licht­set­zung und allem. Wir öffnen gewöhn­lich den Raum für Impro­vi­sa­tionen, auch wenn das Drehbuch sehr streng ist, doch irgendwie sind die Bewegung und die Art, Dialoge zu sprechen, sehr beiläufig. Manchmal ist es geradezu am Rande von Zufall: »Okay, wir verwenden diesen Take, weil er nicht perfekt ist.« Und das Leben ist nicht perfekt.

artechock: Wenn der Geist von Boonmees Frau am Esstisch auftaucht, sieht das aus, als wäre der Effekt durch klas­si­schen Filmtrick erreicht. Das war nicht digital gezaubert, oder?

Weer­a­set­hakul: Nein, das wurde auf die alte Weise mit einer großen Glas­scheibe gemacht und kontrol­liertem Licht. Wenn man den Schein­werfer hochfuhr, erschien sie auf der anderen Seite.

artechock: Ich fand das sehr schön, weil es an die Tradition erinnert des Kinos als Ort schwarzer Magie, weil es zurück­reicht bis zu den Tradi­tionen von Georges Méliès.

Weer­a­set­hakul: Und fast am Ende des Films geht es sogar zurück zu Stadien vor Méliès, in der Sequenz, wo sich die Bilder nicht bewegen sondern wie Stand­fo­to­gra­fien ist. Das greift zugleich auf die Vorläufer des Kinos zurück, erzählt aber inhalt­lich von der Zukunft. Und ist auch eine Reverenz an das Avant­garde-Kino der Vergan­gen­heit, wie Chris Marker und Antonioni. Es ist eine Art Ping-Pong. (Lacht)

artechock: Noch eine verwischte Grenz­linie: Zwischen Vergan­gen­heit und Zukunft.

Weer­a­set­hakul: Ja, ja!

artechock: Sind die mehrfach auftau­chenden Affen­wesen mit den rotglühenden Augen tradi­tio­nell thailän­disch Spuk­ge­stalten?

Weer­a­set­hakul: Ich würde sagen, sie sind inspi­riert davon. Wir haben nicht direkt solche Affen­geister. Aber sie werden so präsen­tiert, als wäre es so. Und wie überall auf der Welt haben wir Vorstel­lungen von Geistern oder etwas Geheim­nis­vollem in nicht­mensch­li­cher Gestalt im Dschungel. Es existiert dort, auf uns wartend. Und ich war auch inspi­riert von Geistern aus alten Filmen, alten Comics.

artechock: Und beruht die Episode mit der Prin­zessin und dem Fisch auf einem exis­tie­renden thailän­di­schen Märchen?

Weer­a­set­hakul: Das ist auch mehr inspi­riert durch den Stil und die Erzählung von etwas, das wir »König­li­ches Kostüm­drama« nennen, was in der Region im Fernsehen lief. Als ich jung war, wurde das immer abends ab 19 oder 20 Uhr gezeigt. Es ging immer um Prinzen, Prin­zes­sinnen, spre­chende Tiere und solche Sachen. Immer magische Fabeln.

artechock: Und was ist das für ein Film, der kurz vor Boonmees Tod im Fernsehen läuft?

Weer­a­set­hakul: Es war ehrlich keine bewusste Absicht – aber er handelt vom Sterben. (Lacht) Es ist ein Film von Yuthlert Sippapak. Haupt­säch­lich hat er sehr trashige Filme gemacht. Und einer seiner Trash-Filme ist dieser Film. Der Grund ist, dass ich mit ihm befreundet bin, und dass ich erwartet habe, dass ich die Rechte umsonst bekommen kann. (Lacht) Das war alles. Aber dann schaute ich mir die DVD an und dachte: »Oh, in dieser Szene gibt es ein Mädchen, dass einen ster­benden Freund auf einer Insel besuchen will. Wow. Okay, lass es uns benutzen.«

artechock: Obwohl Uncle Boonmee ein sehr spiri­tu­eller Film ist, geht es in ihm dennoch erstaun­lich oft und explizit um Geld...

Weer­a­set­hakul: Ja. Das ist wohl unbewusst. Sie sind der Erste, der das anspricht. Und ich muss sagen: »Wow, stimmt!« Wenn ich versuche, das selbst zu analy­sieren: Es liegt vermut­lich an der Region, in der der Film spielt. Denn der Nordosten ist die ärmste Gegend Thailands. Und aufgrund dieser Entwick­lung stets sehr anfällig für poli­ti­sche Mani­pu­la­tionen – und die Leute sind auch sehr durch Geld ange­trieben. Nicht, weil sie geld­gierig wären, sondern einfach um zu überleben. Leute ziehen nach Bangkok, Phuket, in große Städte oder in andere Länder um zu arbeiten. Diesen Leuten ist Geld stets sehr stark im Bewusst­sein. Viel­leicht liegt es daran.

artechock: Am Ende gibt es auch eine sehr explizite Verbin­dung von Tod und Geld, als die Spenden der Gäste der Beiset­zung gezählt werden. Wie bewusst ist das?

Weer­a­set­hakul: Ich habe nur überlegt, wie man die Last des Todes darstellen kann. Wenn Leute sterben, bürden sie den Lebenden eine Last auf. In Thailand muss man, wenn man morgens stirbt, noch am selben oder am nächsten Abend die Beiset­zung haben. Es muss sehr schnell gehen. Dann sind fünf oder sieben Tage Beiset­zungs­feier. Und manchmal macht man ein Buch, um die Toten zu ehren – außer man ist arm. Deshalb ist es ein übliches Ritual, dass Leute etwas geben, um diese Last tragen zu helfen, durch Geld.

artechock: Auch die Beziehung Mensch-Natur ist in dem Film nicht einfach naiv esote­risch. Boonmee lebt als Plan­ta­gen­be­sitzer davon, dass er die Natur nutzt, um Geld zu machen.

Weer­a­set­hakul: Ja, stimmt... Das ist unbewusst und hat eigent­lich einen anderen Grund. Seine Farm ist eine Tama­rinden-Plantage. Diese Frucht war in den ‘80ern sehr beliebt. Und diese Region war einmal voller Tama­rinden-Plantagen. Aufgrund des Erfolgs dieser Frucht pflanzten bald alle das selbe an, und die Preise fielen. Nun kommen die Leute wieder davon ab. Und es gibt eine Menge toter Tama­rinden-Bäume überall. Für mich steht das für einen Teil der Land­schaft, mit der ich aufge­wachsen bin. Deshalb baut er Tama­rinden an.

artechock: Es ist nicht so offen­sicht­lich, aber der Film hat auch eine poli­ti­sche Ebene, die in Details immer wieder aufblitzt, als etwa Boonmee erwähnt, dass er früher Kommu­nisten getötet hat...

Weer­a­set­hakul: Der Film steht in Verbin­dung mit der Instal­la­tion, die in München im Haus der Kunst zu sehen war. Aber diese Instal­la­tion war viel offen­sicht­li­cher politisch orien­tiert. In dem Film geht es mir mehr um eine Gemein­schaft, und um Erin­ne­rungen – und dass es irgendwie unter­schwellig eine poli­ti­sche Strömung gibt, die manchmal auftaucht, in Boonmees Traum oder jenem Gespräch.

Wie schon ewähnt ist diese Region sehr anfällig für Mani­pu­la­tionen, auch heute noch. Und von den ‘60ern bis in die ‘80er war in der Gegend der Kommu­nismus weit verbreitet. Es ist völlig offen­sicht­lich warum: Weil die Leute wenig Wahl hatten, und für sie diese Ideologie sehr anziehend war. Deshalb versuchte die thailän­di­sche Regierung – mit US-Unter­s­tüt­zung –, ernsthaft gegen den Kommu­nismus vorzu­gehen. Das hat viele Menschen betroffen – weil es das Land spaltete. Viele Menschen hingen sehr an dieser Ideologie, und sie mussten fliehen, in den Dschungel, wie die Affen­geister... Aber manche Leute unter­s­tützen sehr stark die Regierung. Selbst innerhalb einzelner Dörfer gab es einen Konflikt: Im einen Haus ist der Fami­li­en­vor­stand wie ein Jäger, und der im anderen wird gejagt...
Ich finde, dass dies bis heute noch nachwirkt: Die unter­schied­li­chen Ideo­lo­gien, und das brutale, gewalt­tä­tige Vorgehen der Regierung.

artechock: Haben die poli­ti­schen Unruhen in Thailand auch Auswir­kungen auf Sie als Privat­mensch oder Künstler?

Weer­a­set­hakul: Ja, das hat mich sehr stark betroffen. Denn als ich Inter­views gab, fragten die Leute nicht nur nach meinem Film, sondern auch nach meinem poli­ti­schen Stand­punkt. Und was ich für ein echtes Problem in Thailand halte ist, dass die Leute das unbedingt in zwei gegen­sätz­liche Lager trennen wollen. Man muss unbedingt auf einer der Seiten stehen. Es ist eine sehr unan­ge­nehme Situation.
Zugleich zwang mich das dazu, mich wirklich über unsere poli­ti­sche Geschichte zu bilden. Und ich dachte: Wow, das ist eine neue Welt für mich! (Lacht) Das Land, in dem ich schon immer lebe, hat eine andere Seite, die so faszi­nie­rend ist. Speziell diese histo­ri­sche Präsenz und Macht der Armee. Und der Zusam­men­hang mit der Außen­po­litik der USA. Das hat tatsäch­liche Auswir­kungen auf unser Leben. Und deswegen ist dieser Film ein bisschen wie eine Rückkehr in die Kindheit – und dann ein neues Aufwachsen mit einer neuen Bewusst­seins-Einstel­lung. Für den nächsten Film zum Beispiel.

artechock: Ihr nächster Film wird dezi­dierter politisch?

Weer­a­set­hakul: Selbst wenn er nicht direkt politisch ist, wird er einen gewissen dunkleren Ton haben.

artechock: Ein immer wieder­keh­rendes Thema in Ihren Filmen ist Krankheit.

Weer­a­set­hakul Weil ich, als ich aufwuchs, von Krankheit umgeben war.

artechock: Ihre Eltern waren Ärzte...

Weer­a­set­hakul: Ja. Wir wohnten 15 Jahre lang in einem Haus auf dem Kran­ken­haus­gelände. Das war meine ständige Umgebung. Ich fühlte mich einer­seits sehr wohl beim Geruch von Desin­fek­ti­ons­mittel. Ande­rer­seits fühlte ich mich wohl in dieser Art Rhythmus. Wenn man ins Kran­ken­haus kommt, ist in meinen Augen alles langsam. Nicht in der Notauf­nahme! (Lacht) Aber norma­ler­weise sitzen die Leute nur da und warten. Und ich erinnere mich, dass es in meiner Heimat­stadt beim Kran­ken­haus einen kleinen Teich gab, und die Patienten und ihre Verwandten spazierten da sehr langsam drum herum, oder standen einfach nur da und schauten auf das Wasser. Diese Art Rhythmus. Und bei Uncle Boonmee kommt noch hinzu, dass mein Vater an der selben Krankheit starb, einer Nieren­krank­heit. Diese Referenz war mir wichtig.

artechock: Apropos Krankheit: Sie haben einmal in einem Interview gesagt »Film ist Therapie« – für Sie und Publikum.

Weer­a­set­hakul: Wir brauchen einfach immer Filme. Ganz egal was für Filme. Seit wir in den Höhlen saßen – da haben wir gezeichnet, Schat­ten­spiele gemacht. Ich sprach darüber im Zusam­men­hang mit meinem Besuch in Vietnam: Während des Viet­nam­kriegs benutzten die kommu­nis­ti­schen Soldaten eine Höhle als Lazarett. Ich besuchte diese Höhle, und sie ist ungemein beein­dru­ckend – da ist wirklich ein aus dem Fels gehauenes Lazarett, und ganz hinten in dem Raum gibt es einen kleinen Teich, wo die Patienten im Wasser sind, und vor ihnen ist eine flache Felswand, um Filme darauf zu proje­zieren. Das scheint mir so ziemlich der Himmel! (Lacht)
In einer Höhle kann man aufgrund der Klaus­tro­phobie meinen, man müsse dort ersticken. Aber Film ist dort eine richtige Therapie. Deswegen finde ich, dass ein Multiplex oder ein Kino wie eine moderen Höhle ist. Wo wir reingehen, um geheilt zu werden – um unter­halten zu werden, aber gleich­zeitig ist es eine Therapie...

artechock: Die Reise Boonmees zum Sterben endet ja auch in einer Höhle. Was für eine Bedeutung hat das für Sie?

Weer­a­set­hakul: Die gleiche wie eines Dschun­gels: Ich finde, wenn man in den Dschungel geht, ist es wie eine Heimkehr. Denn unsere Vorfahren lebten im Dschungel, in Höhlen. Aber jetzt empfinden wir das anders. Wenn wir in den Dschungel gehen, haben wir Angst. Wir wissen oft nicht: Was war das für ein Geräusch? Ein Tier? Wir fühlen uns verloren. Wir sind über­schau­bare, geplante Räume gewohnt. Aber der Dschungel umgibt uns 360°. Deswegen wollte ich Onkle Boonmee zurück nach Hause bringen, wo wir in der Vergan­gen­heit waren, zurück in den Dschungel, zurück in die Höhle.

artechock: Dieser letzte Schritt ist wie ein Reini­gungs­pro­zess: Durch den Dschungel, wo alles wuchert und wächst, in die leere, fast von Leben leere Höhle.

Weer­a­set­hakul: Ja, es ist in gewisser Weise wie die Rückkehr zum Ursprung. Man sieht dort diese primi­tiven Lebens­formen wie diese Fische, die weiß und blind sind, weil es dort kein Licht gibt. Und zugleich diese Sterne in der Höhle: Wenn sie die Szene verlassen, blende ich das Bild ab, und es bleiben nur diese kleinen Licht­punkte übrig, so dass man es sich vorstellen kann als wäre dies das Universum.

artechock: Und nach Boonmees Tod erfolgt dann ein Sprung in völlig künst­liche Räume, in das Hotel­zimmer, die Karao­kebar. Was über­ra­schend kommt als Endziel einer solchen spiri­tu­ellen Reise.

Weer­a­set­hakul: Ja. Denn das Leben geht weiter. Und wie schon erwähnt: Wir kehren zurück zu unserer eigenen Reali­täts­ebene, an die wir gewohnt sind. Ein Zuschauer, nicht ich, hatte den Gedanken: »Recht betrachtet wirkt Onkel Boonmee, obwohl er tot ist, im Rückblick viel leben­diger als die anderen Charak­tere«. Die drei Leute im Hotel­zimmer sind wie tot, schauen einfach nur in den Fernseher, bewegen sich nicht.

artechock: Bis zu diesem verwir­renden, rätsel­haften Moment, wo zwei von ihnen aus sich selbst heraus­ge­treten scheinen. Haben Sie dafür eine bevor­zugte Inter­pre­ta­tion?

Weer­a­set­hakul: Ja, habe ich! Aber ich möchte die Fantasie des Publikums nicht zerstören. (Lacht) Aber natürlich hat das mit Zeit zu tun: Ich durch­breche den Rhythmus des Films, und dass wir einfach nur in linearer Zeit denken. Welchem Pfad der Realität folgt man. Erst von A nach B – und nun scheint es, dass es nicht nur A und B gibt. Es legt die Vorstel­lung nahe, dass es eine weitere Zeit gibt, die parallel zu uns verläuft. Wie nennt man das? Multi­versum!

artechock: Und dass dabei im Fernsehen Nach­richten laufen, ist ein weiterer Hinweis auf eine poli­ti­sche Ebene?

Weer­a­set­hakul: Ja, ein bisschen. Die Soldaten im Süden. Denn der Süden ist stets eine proble­ma­ti­sche Gegend, wo es Sepa­ra­tisten gibt, sich sehr gewalt­tä­tige Dinge ereignen. Doch die Leute scheinen sich nicht groß darum zu kümmern. Es geschieht einfach – Bomben­at­ten­tate, Morde sind ständig in den Nach­richten. Und die nächste Nachricht handelt von etwas Medi­zi­ni­schem. Es scheint um die Ausbrei­tung einer gewissen Krankheit zu gehen. Leute mit Atem­schutz­masken...

artechock: Wiederum das Thema der Krankheit. Aber nun distan­ziert von den eigenen Körpern, sie schauen das nur an...

Weer­a­set­hakul: Ja. Genau.

artechock: Wurde Uncle Boonmee auch schon in Thailand aufge­führt?

Weer­a­set­hakul: Ja, er hatte einen Start und blieb andert­halb Monate im Kino. Aber wir hatten leider nur eine Kopie. Weil wir all die Originale nach Deutsch­land schicken mussten. Anfangs überlegte ich: »Wieviel Kopien sollten es sein?« Und dachte: »Okay, viel­leicht nur eine, weil es für diese Art von Film nur ein sehr begrenztes Publikum geben dürfte.« Aber als wir ihn dann raus­brachten, war er richtig erfolg­reich. Besonders, glaube ich, aufgrund der sozialen Netzwerke im Internet, Facebook und Twitter. Besonders junge Leute mögen ihn sehr. So konnten wir uns sechs Wochen im Kino halten, und es war immer voll. Und jetzt touren wir durch andere Städte.

artechock: Gab es, wie bei früheren Filmen, Zensur­pro­bleme?

Weer­a­set­hakul: Diese Mal nicht, nein. Ich bekam die Freigabe »15+«.

artechock: Hat der Gewinn der »Goldene Palme« in Cannes etwas für Sie verändert?

Weer­a­set­hakul: Ja, meine Zeit ist ange­halten. Übli­cher­weise arbeite ich immer. Aber das ist jetzt das erste Mal, dass ich mit einem Film auf Reise gehen muss. Norma­ler­weise bin ich nur bei Festivals. Aber nun ist es auch für Film­starts, Verleiher. Da hat sich wirklich eine andere Welt eröffnet. Es ist faszi­nie­rend – aber ich kann mir nicht vorstellen, das für jeden Film zu machen. Das bürdet einem eine neue Verant­wor­tung auf. Norma­ler­weise wenn man einen Film beendet hat, ist die Sache erledigt. So wie bei einem Maler, wenn er mit einem Bild fertig ist. Aber jetzt ist es dieser größere Job, zu dem gehört, dass ich ein Jahr lang herum­reise.

artechock: Nochmal zum Thema Geld: Wenn man die Liste der Co-Produ­zenten anschaut, scheint die Finan­zie­rung des Films selbst ein Kunstwerk zu sein...

Weer­a­set­hakul: Ja! (Lacht) Ich muss den Produ­zenten danken, Simon Field und Keith Griffiths, die verrückt sind. Es gab eine Diskus­sion, ob man mit einem Film beginnen soll, solange man noch nicht das gesamte Budget zusammen hat. Und ich sagte: »Okay, lasst uns loslegen.« Die anderen meinten: »Nein, nein, nein!« Doch Simon sagte: »Okay, mach’s!« Ich glaube nicht, dass dieser Film unter den Bedin­gungen des normalen Film­ge­schäfts zustan­de­ge­kommen wäre – weil wir einfach ohne volle Finan­zie­rung ange­fangen haben.

artechock: Unge­wöhn­li­cher­weise gab es auch Geld aus der Kunst­szene...

Weer­a­set­hakul: Ja. Und solche neuen Wege der Finan­zie­rung inter­es­sieren mich. Wenn der Film inte­griert ist in die Kunstwelt und auch bei den bildenden Künsten einen Nachhall findet. Das macht die Trenn­linie dünner zwischen dem, was Kino ist, und dem, was bildende Kunst ist.

artechock: Haben Sie sich je gewünscht, Autor oder Maler zu sein, wo man keine solche Finan­zie­rung braucht?

Weer­a­set­hakul: (Lacht) Ich träume tatsäch­lich davon, Roman­autor zu sein, weil mir scheint, dass das eine sehr private Tätigkeit ist. Es ist sehr ähnlich wie Film, aber auf andere Art.

artechock: Dafür hat man beim Film die Zusam­men­ar­beit mit anderen Menschen. Können Sie etwas zur Besetzung von Uncle Boonmee sagen?

Weer­a­set­hakul: Meine beiden Stamm­schau­spieler [Jenjira Pongpas und Sakda Kaew­buadee, Anm. d. Red.] fungieren als Zeugen des Ster­be­pro­zesses von Onkel Boonmee. Sie spielen also mehr oder weniger sich selbst, sind Jenjira und Sakda.
Onkel Boonmee habe ich über eine Agentur gefunden. Er hatte zuvor winzige Auftritte in Werbe­spots. Sein eigent­li­cher Beruf ist Bauar­beiter. Und das macht er wohl gerade wieder – er hat sein ganzes Geld ausge­geben, um mit Freunden zu feiern.
Boonmees Ehefrau ist eine Sängerin, die ich in einer Bar entdeckt habe.

artechock: Werden das neue Stamm­schau­spieler für Sie werden?

Weer­a­set­hakul: Ich weiß nicht. Ich möchte schon immer jemanden dabei haben, mit dem ich mich bei der Arbeit wohlfühle. Und sie sind toll. Aber ich möchte keine Regel schaffen und mich stilis­tisch in eine Falle begeben, wie manche Künstler oder Maler, die immer das selbe machen. Das mag ich einfach nicht.

artechock: Glauben Sie selbst an Reinkar­na­tion?

Weer­a­set­hakul: Ja. Ich glaube an die Möglich­keit. Ich betrachte das aus wissen­schaft­li­cher Sicht. Auch wenn man viel­leicht nicht direkt wieder geboren wird. Aber letzen Endes verwesen wir. Und wir werden zu Staub, zu Erde, werden zu Teilen eines Baumes, von Blumen. Aber wir verschwinden nie. Es ist immer ein Recycling der Materie.

Ich habe auch Recher­chen gemacht im Nordosten und mit Leuten gespro­chen, die behaupten, dass sie sich erinnern. Es gibt viele faszi­nie­rende Geschichten von jemandem, der nicht weit entfernt geboren wurde, und wenn er die Mutter aus dem vorhe­rigen Leben besuchte, konnte die dies und jenes sagen. Das ist wie beim tibe­ti­schen Lama, wo der Junge die richtigen Gegen­s­tände auswählen kann. Es gibt für diese Sachen keinen wissen­schaft­li­chen Beweis – noch nicht. Aber viel­leicht können wir in Zukunft Wege finden, das zu enträt­seln.

artechock: Und wenn Sie sich selbst ein vorhe­riges und ein nächstes Leben aussuchen könnten?

Weer­a­set­hakul: Ich wäre gern ein Baum gewesen. Weil ich es liebe, in der Sonne zu sein... (Lacht) Aber im nächsten Leben wäre ich noch immer gern Filme­ma­cher. Oder jeden­falls Bilder­ma­cher.

artechock: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Lite­ra­tur­hin­weis:
2009 erschien die lesens­werte Mono­gra­phie „Apichat­pong Weer­a­set­hakul“ hg. von James Quandt (in engli­scher Sprache), Film­mu­seum-Synema-Publi­ka­tionen, Wien 2009, 255 Seiten. Preis: 20,00 Euro