22.01.2004

»Wir leben wieder in den 50er Jahren!«

Mike Newell bei Dreharbeiten
Mike Newell

Regisseur Mike Newell über die Arbeit mit Julia Roberts und seine Faszination für die 50er

Mit Vier Hoch­zeiten und ein Todesfall erlebte der Brite Mike Newell nach über zwei Jahr­zehnten, in denen er haupt­säch­lich im briti­schen Fernsehen gear­beitet hatte, 1994 einen Welt­erfolg. Jetzt kommt sein neuer Film Mona Lisas Lächeln ins Kino, in dem Julia Roberts als fort­schritt­liche Kunst­leh­rerin zu sehen ist.
Mit Newell sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Mona Lisa Smile ist ein Film, in dem fast nur Frauen mitspielen. War das eine besondere Heraus­for­de­rung

Mike Newell: Aller­dings! Es gibt männliche und weibliche Witze. Und es ist für einen Mann schwer manche subtilen Scherze dieser hoch­be­gabten Darstel­le­rinnen zu verstehen, jeden­falls wenn es Scherze über ein Diaphragma sind.

artechock: Wenn schon Filme über Frauen – ist es für einen Mann dann leichter, ernste, nüchterne Filme zu drehen?

Newell: Dies ist ein ernst­hafter Film! Vier hoch­be­gabte, aber unreife und arrogante Studen­tinnen mit einer Lehrerin, die ein viel zu starkes Ego hat. Ich fühle mich selbst humor­vollen Stoffen weitaus näher. Das hat auch damit zu tun, dass Menschen im richtigen Leben nie ganz genau wissen, was Ihnen gerade passiert. Man sieht sich nie genau so, wie die Anderen einen sehen. Also: Ich versuche diesen Stoff nicht als einen »bedeu­tenden« Stoff anzusehen, sondern als einen wahr­haf­tigen – wahr­haftig gegenüber der Epoche wie gegenüber den Charak­teren, dem Dilemma, in dem sie stecken. Denn das was britische Regis­seure und Autoren für Hollywood so attraktiv macht, ist, dass sie einen beson­deren Zugang zu ihren Charak­teren haben, dass sie hier dicht dran sind, und nicht zum Thesen­haften neigen.

artechock: Was hat Sie – als Briten – an einer ameri­ka­ni­schen High­school der 50er Jahre inter­es­siert?

Newell: Nun es gibt, hier, abgesehen von der Zeit und Ort der Geschichte, eine Menge Dinge für die man sich inter­es­sieren kann. Für mich selbst waren auch Zeit und Ort der Geschichte sehr inter­es­sant, denn ich erinnere mich an sie sehr gut. Ich war etwa zehn Jahre alt. Und dies erinnert mich an meine Mutter, für die das damals eine sehr harte Zeit war. Denn sie war exakt das, was diese Mädchen auch sind – ohne die Klasse. Wir waren eine ganz normale Familie aus dem Klein­bür­gertum.
Sie war eine Schönheit, aber sie saß in der Falle: Mit drei kleinen Kindern in einem kleinen Haus in einer engli­schen Provinz­stadt. Sie litt sehr. Sie hatte keine Depres­sionen, aber sie war sehr depri­miert, weil sie sich so gefangen und einge­schränkt fühlte. Während der Arbeit an dem Film habe ich daran sehr oft gedacht. Das war eine Zeit, in der sehr viel versteckt und verschwiegen wurde, eine unoffene Zeit. Die Leute wollten nicht, dass »geredet« wird.
Darum hat mich diese Zeit inter­es­siert – weil ich in gewissem Sinn selbst aus ihr stamme.

artechock: Also eigent­lich erzählt hier ein Sohn die Geschichte seiner Mutter?

Newell: Ein bisschen. Ich erinnere mich, wie ich einmal früher als sonst nach Hause kam. Und meine Mutter war auf ihrem Lese­sessel einge­schlafen mit einer aufge­schla­genen Frau­en­zeit auf den Knien. An dieses Bild erinnere ich mich sehr stark. Denn die Frau­en­be­we­gung in England entstand aus einer wissen­schaft­li­chen Analyse dieser Frau­en­zeit­schriften. Ich wollte immer wissen, was sie da wohl gelesen hatte...

artechock: Hat Ihre Mutter dann in den 60ern irgend­eine Form von Eman­zi­pa­tion erlebt?

Newell: Nein, leider gar nicht. Sie wurde dadurch »gerettet«, dass sie eine sehr enthu­si­as­ti­sche, geradezu süchtige Thea­ter­a­ma­teurin war. Sie trat in einer Thea­ter­gruppe auf. Aber sie floh nicht in eine irgendwie kolossale neue Weltsicht. Das passiert ja auch nur den wenigsten.
Zur Zeit gibt es Streit zwischen einigen Mitglie­dern der Gruppe der „Wellesley Old Girls“ und uns, die wir den Film gemacht haben. Sie sagen: »Wir waren ganz anders, nicht so, wie uns der Film zeigt. Dies und jenes haben wir nie gemacht. Wir haben unsere Ausbil­dung sehr ernst genommen. Schauen Sie sich Madeleine Albright an« – die mögen wir doch alle.
Sie wollen es einfach nicht wahrhaben! Aber man kann die College-Zeitung lesen, und da kann man sehen, was tatsäch­lich der Fall war. Es war nicht repressiv, aber es war sehr sehr konser­vativ. Viele Mädchen haben gehei­ratet, bevor sie mit der Schule fertig waren. Viele verließen darum die Schule vor dem Abschluss. Und viele andere wollten unbedingt den Namen ihres Mannes auf der Examens­ur­kunde haben. Die Geschichte wird eben von Zeit zu Zeit neu geschrieben.

artechock: Was macht nun diese Geschichte zeitgemäß? Sie spielt in den 50ern – man könnte sagen: Wir leben in ganz anderen Zeiten...

Newell: Leben wir wirklich in ganz anderen Zeiten? Denken Sie das? Das ist die Schlüs­sel­frage! Es gibt nämlich Ähnlich­keiten: Die 50er waren eine Zeit von sehr rigider Kontrolle. Die Welt sollte unbedingt ein ganz bestimmtes Aussehen haben. Um uns in die Zeit einzu­fühlen, haben wir uns sehr viele alte Hollywood-Filme angeguckt, Doris-Day-Filme und sowas. Was man da sieht, ist, das die Ober­fläche absolut alles war. An dieser Ober­fläche war alles wunderbar: Die Sonne schien immer, es gab keine Armut, keinen Stress, keine Depres­sion – alles war fein. Es gab viel­leicht ab und zu ein paar klit­ze­kleine zwischen­mensch­liche Probleme, gerade genug, damit Doris Day laut »Oh no!« quiet­schen kann – aber alles war ziemlich nett. Wenn man dann aber mal den Deckel hebt, findet man ziemlich viel Schmutz. Da ist die McCarthy-Hexenjagd, um nur eines zu nennen.

Also: Es gibt zwei Seiten dieser Zeit. Aber die Menschen dieser Epoche waren unglaub­lich bestrebt, genau das zu leugnen, zu sagen: nein nein, es gibt nicht zwei Seiten, sondern alles passt zusammen, wir kümmern uns um die weniger Glück­li­chen, wir leben in einer fürsorg­li­chen Gesell­schaft, allen wird es morgen besser gehen, und die kleinen Rest­pro­bleme bekommen wir auch noch in den Griff.

Und genau dies verbindet uns mit den 50ern:
Der Boden hat sich verändert. Heute geht alles um Wahl und das Indi­vi­duum. Die indi­vi­du­elle Psyche gilt heute als das Wich­tigste: Man kauft dafür Kleidung, kauft dafür Häuser, kauft dafür Autos – das einzig Inter­es­sante ist: kaufen, kaufen, kaufen. Und es hat alles immer damit zu tun, wie die Dinge aussehen sollten.

Und was dann passiert, ist, dass die Menschen, vor allem die Frauen begreifen, dass die scheinbar perfekte Weise, wie sie ihr Leben geordnet haben – zuerst eine gute Ausbil­dung, dann ein guter Job, damit viel Geld, damit einen netten Platz zum Leben, dann suchen wir uns einen Lebens­ge­fährten und am Ende kommen der kleine Bobby und die kleine Barbara und alle sind glücklich –, dass dies nicht passiert. Und die Menschen fassen es nicht, dass das nicht passiert: Was lief falsch? Wir leben schließ­lich in einer Wahl-Gesell­schaft. Dies ist ein offen­sicht­liche Metapher: es war damals sehr ähnlich, nur die Etiketten waren andere.

Ich denke auf eine sonder­bare Art ist folgendes passiert: Es gab diese wunder­bare Zeit der Störung und Vers­törung in den 60ern und 70ern. Das System brach zusammen, es gab sexuelle Befreiung und das alles und es schien die echte Möglich­keit zu bestehen, dass die Gesell­schaft, in der wir leben, nicht überleben würde. Keiner hat sich unbe­tei­ligt zurück­ge­lehnt. Die Welt hat viel Lärm und Dampf gemacht, war aktiv.

Und dann, seit den 80ern haben alle nur noch gerafft. Und ohne es zu merken haben wir genau das wieder erschaffen, was zuvor da war.

artechock: Wenn sich das alles so ähnelt – warum wollten sie diese Geschichte nicht als zeit­genös­si­sche erzählen?

Newell: Weil es sich so sehr dann wieder doch nicht ähnelt. Es ist ein Film, darum handelt es sich unver­meid­lich um einen roman­ti­sie­renden Blick auf die Welt für ein breites Publikum, das einen Julia-Roberts-Film erwartet. Und was es dann bekommt, ist ein schmerz­hafter Julia-Roberts-Film, über eine moderne Frau, die eine ganze Menge Probleme hat, weil sich die Dinge nicht so entwi­ckeln, wie sie sich entwi­ckeln sollten. Darin will man Julia Roberts nicht unbedingt sehen. Viel­leicht Julianne Moore. Aber durch Julia Roberts erreicht man ein ganz anderes Publikum. Wir spielen also mit den Erwar­tungen.
Das ist ein Hollywood-Film, klar. Aber einer der schwie­rigen Sorte: ein Hollywood-Film mit Anspruch. Hollywood-Filme ohne Anspruch sind tradi­tio­nell weitaus erfolg­rei­cher. Also war klar, dass der Film für manche schwierig werden würde.

artechock: Wie war es, mit Julia Roberts zu arbeiten?

Newell: Sie ist einzig­artig. Sehr ausge­reift, klug, sich sehr bewusst, was das Publikum von ihr erwartet, und wie das Publikum auf das reagiert, was sie tut. Sie ist sehr inter­aktiv in der Vorbe­rei­tung, spricht viel, will viel wissen. Und dann zieht sie sich zurück. Und wenn sie wieder­kommt, ist die Figur da. Wie sie das macht, weiß ich selber nicht.

Und wenn man das dann als Regisseur versucht, zu verändern, oder zu beein­flussen, bemerkt man schnell, dass das Resultat nicht so gut wird, wie ihre ursprüng­liche Entschei­dung. Man lernt also ihrem Instinkt und ihrem Entschei­dungs­pro­zess zu vertrauen. Denn was sie auch weiß, ist was das Publikum von ihr will.

Was man also als Regisseur tut, ist, dass man diese Entschei­dungen mit dem Rest harmo­ni­siert – oder dishar­mo­ni­siert, denn ich wollte ja, dass die Handlung eine gewisse nervöse Atmo­sphäre besitzt.
So ist das mit ihr: Sie weiß wer und wie sie ist. Und für ihr Publikum ist der Film gemacht.