11.10.2012

Kennst Du Bollywood nicht, kennst Du Indien nicht

Kiran Nagarkar
Kiran Nagarkar während eines Gesprächs in Mumbais Britannia & Co. Restaurant
(Foto: Axel Timo Purr)

Kiran Nagarkar über seinen neuen Roman „Die Statisten“, westliche Einflüsse auf alte Hindifilme und das neue Bollywood

Kiran Nagarkar gilt als einer wich­tigsten Vertreter zeit­genös­si­scher indischer Literatur. Neben Thea­ter­s­tü­cken und Dreh­büchern verfasste Nagarkar vier Romane. Für seinen zweiten auf Englisch geschrie­benen Roman „Ravan and Eddie“ (1994; dt. „Ravan & Eddie“, 2004) wurde Nagarkar nicht nur wegen der Wahl der Sprache ange­feindet. Die Geschichte einer Kindheit zweier Jungen aus einer hindu­is­ti­schen und einer christ­li­chen Familie, die Nachbarn sind, dabei aber in völlig verschie­denen Welten leben, wurde sowohl als anti-hindu­is­tisch als auch als anti-christ­lich kriti­siert. Nagarkars in diesem Herbst auf Deutsch erschie­nener fünfter Roman kann als Fort­set­zung von „Ravan & Eddie“ gelesen werden. Gleich­zeitig sind „Die Statisten“ aber auch eine völlig allein­ste­hende furiose, spannende und groteske Zeitreise in das Bollywood und Indien der 1970er Jahre- und eine wunder­voll poeti­sches Erklärungs­mo­dell für das heutige Indien.

Das Interview führte Axel Timo Purr in Nagarkars Appart­ment in Mumbai.

artechock: Fort­set­zungen in Buch- und Filmwelt brauchen norma­ler­weise nur ein paar Jahre, warum hat es in diesem Fall 17 Jahre gedauert und warum überhaupt eine Fort­set­zung von „Ravan & Eddie“?

Kiran Nagarkar: In einem Satz: schon „Ravan & Eddie“ ist eigent­lich eine Fort­set­zung, weil ich ursprüng­lich ein Screen­play verfasst habe, das genau diesen Prolog, den Sturz beinhaltet. Und diese Szene wiederum ist natürlich auch Fort­set­zung bzw. Zitat und Anspie­lung auf einen Trend in den indischen Filmen der 1970er und 1980er Jahre. Es gab da immer eine Familie, nicht reich, aber harmo­nisch zusammen lebend. Meist mit drei Kindern, manchmal auch zwei. Dann kam die Mafia und zerriss die Familie oder sie reisten mit dem Zug oder es gab einen Unfall, der Zug stürzte in einen Fluss und der Vater starb und die Kinder waren allein, jeder für sich, die Familie völlig getrennt. Dann gab es einen Schnitt und die Darstel­ler­listen würden abge­spielt, sehr lang Listen, dazu ein Lied, dann ein Schnitt und der eigent­liche Film würde viele Jahre später einsetzen. Ein Film­stan­dard. Drei Kinder. Eins von Katho­liken, eins von Muslims, eins von Hindus gross­ge­zogen. Irgend­wann würden die Kinder sich finden und dann ihre Mutter. Für mich gab es nur eins: das indische Kino zu parodieren, also im Grunde eine Parodie zu parodieren. Worum es mir natürlich nur ober­fläch­lich ging. Es ging mir vielmehr um die Erziehung durch das Kino. Schon in „Ravan & Eddie“ sehen die beiden Kinder ständig Filme. Ravan Hindi-Filme, Eddie Rock Around the Clock. Beide Kinder folgen zwar filmmäßig ihren Tradi­tionen und werden Feinde, über­queren aber im übrigen Leben diese Grenzen und schaffen das, was ihren Eltern verwehrt ist.

artechock: Sie erwähnen Rock Around the Clock – welchen Einfluss hatten englisch­spra­chige Filme damals?

Nagarkar: Oh mein Gott, einen großen, ich erinnere mich an das Strand-Kino, das es nicht mehr gibt, seit Jahr­zehnten nicht mehr gibt. Ein engli­scher Film lief norm­nal­er­weise 18, 19 Wochen. Und bei Musik­filmen tanzten alle mit, und das, obwohl es Katho­liken waren und die katho­li­sche Kirche Rock Around the Clock verboten hatte. Diese wunder­baren Lieder, tolle Lieder, die Bombay im Sturm nahmen. Und wir gingen nicht nur einmal, sondern mehrmals rein, der Schwarz­markt blühte. The Sound of Music lief 24 Wochen. Und andere Musicals ebenfalls. Aber auch britische Filme, Hollywood, egal welcher Art.

artechock: Und heute?

Nagarkar: Sie sind immer noch da, die Action­filme und ein paar Autoren­filme, aber Bollywood ist natürlich über allem. Damals war es ein wenig anders gewichtet, weil ein Film wie Rock Around the Clock eine voll­kom­mene Kehrt­wende bedeutete. Und später dann die Filme mit Presley, der groß, ganz groß war, hier in Bombay. Aber all das ist natürlich nicht vorstellbar ohne die Einflüsse, die davor schon waren: die Jazz­mu­siker, die ihre großen Konzerte hier gaben – Duke Ellington, Louis Armstrong waren hier, und andere, sie wohnten im Taj, hinter­ließen irre Geschichten, wie Louis Armstrong, der tagelang wegen eines sprach­li­chen Miss­ver­s­tänd­nisses das gleiche Gericht aß. Einige blieben Monate, andere Wochen. Da die großen Bands nicht mitreisten, holten die Band­leader die Musiker aus Bombay, der katho­li­schen Szene, weil sie Erfahrung mit west­li­cher Musik hatten. Seit den 1920ern gab es diesen Einfluss, der sich wiederum auf die Filmmusik indischer Filme auswirkte, denn die Katho­liken spielten nicht nur, sondern fingen irgend­wann auch Musik zu schreiben, standen den Filmbands als Leader vor, so dass die 1940 und 1950er Hindi­filme voller wunder­voller Jazz-Riffs sind.

artechock: Nicht viel anders als heute.

Nagarkar: Heute ist es aller­dings weniger der Jazz. Heute nehmen wir Rap und was sonst noch am west­li­chen Horizont auftaucht, auch klas­si­sche Musik, wir nehmen alles, saugen das Fremde auf und benutzen es. Alles ist in Hindi­filmen zu finden, sucht man nur danach. Der westliche Anteil daran ist nicht zu unter­schätzen.

artechock: Bei all den musi­ka­li­schen Remakes nun zu einem filmi­schen: Sie erwähnen in „Die Statisten“ ein Hindi-Remake von Der letzte Tango in Paris. Ein Witz oder wahr?

Nagarkar: Ein Witz, aber: Bollywood hat so gut wie nie eine eigene Idee.

artechock: So wie der kana­di­sche Starbuck, für den Bollywood gerade die Rechte gekauft hat?

Nagarkar: In etwa so, aber bei diesem Film fällt mir gleich ein anderer ein, der vor einem halben Jahr das Hyderabad Film­fes­tival eröffnet hat, auch hier das Thema Samen­spende, und wer weiss, wer hier wen beein­flusst hat: Vicky Donor, kein schlechter Film, wirklich! Aber zurück zum Letzten Tango. Der wurde hier nie gezeigt und das ist gut so. Mich stört das wirklich nicht, ich habe den Film nie gemocht.

artechock: Wo wir schon beim „Zurück“ sind. Sie porträ­tieren in ihrem neuen Roman die elende Situation der Statisten, zu deren Schar Ravan und Eddie letztlich stossen. Hat sich an deren prekärer Lage inzwi­schen etwas geändert?

Nagarkar: Sie sind besser bezahlt. Gut. Aber seit dem Öffnen des indischen Marktes, 1991, konnte man wunderbar sehen, wie sich die Einstel­lung des Westens gegenüber Bollywood schlag­artig änderte. Bis dahin wurde Bollywood lächer­lich gemacht, es sei halt nur schlechte Musik. Aber als plötzlich Anteile eines riesigen Marktes einfach so zum Anbeissen da lagen, kamen sie und inves­tierten. Und nicht nur das, es gab auch eine umge­kehrte Entwick­lung, Beein­flus­sung, die ja schon immer da war, die sich nun aber auch auf die Statisten auswirkte, die Tänzer im Hinter­grund. White flesh war und ist plötzlich gefragt, weiße Statisten, weiße Brüste, die zwischen den anderen Tänzern auftau­chen und deren Namen ganz am Schluss im Abspann erwähnt werden. Sie reden nichts, werden gedubbed, aber erwähnt. Die ganze Einstel­lung hat sich geändert. Bollywood ist heut­zu­tage exotisch, die Musik fantas­tisch, die Filme werden auf Film­fes­ti­vals gezeigt.

artechock: Aber war das nicht auch so mit den großen Benga­li­filmen in den 1950ern und 1960ern?

Nagarkar: Schon und es waren fantas­ti­sche Filme, wenn ich nur an Satyajit Rays Filme denke, dagegen sind die Fahr­rad­diebe ein Witz, mehr nicht. Aber hier sprechen wir über kommer­zi­elles Kino, Bollywood. Erstaun­li­cher­weise ist aber mit dem neuen Geld und der Etablie­rung der Mulit­plexe auch mehr Platz für Expe­ri­mente entstanden ist. Vergleichs­weise kleine Filme, Autoren­filme wie der groß­ar­tige Black Friday. Oder Anurag Kashyap neuer Film, die Gangs of Wasseypur. Ein Risiko, ein Fünf-Stunden-Film, der in diesem Sommer in zwei Teilen in die Kinos kam, kein Block­buster, aber ein Erfolg. Aber es sind die Marke­ting­stra­te­gien, die ich eigent­lich meine, die sich geändert haben und Indien zu einem Invest­ment­land für welt­weites Kino gemacht haben.

artechock: Viele sagen, bei dem vielen Geld werde die Kultur immer unwich­tiger, besonders in Bombay.

Nagarkar: Absolut. Es ist eine Übernahme ameri­ka­ni­scher Ideen. Korrupion gab es immer, aber die Skala hat sich verändert, die Skandale sind immer gewaltig, jeder ist invol­viert, aber es hat noch andere Auswir­kungen. Alles ist uferlose Gier. Freier Markt halt. Und das was ich in meinem Buch beschreibe, die Hoch­zeits­bands, in denen Ravan und Eddie spielen, das ist kein Vergleich mehr zu heute. Was wir heute z.B. haben sind: Mons­ter­hoch­zeiten. Ich wollte das erst in »Die Statisten« aufnehmen, diese Entwick­lung, ein Gegen­warts­snapshot. Es ist wirklich irre: Das Vorbild für jede Hochzeit heut­zu­tage ist die Bolly­wood­hoch­zeit. Es gibt diesen Film HUM AAPKE HAIN KOUN..! – Who am I to you. Dort geht es um zwei Hoch­zeiten in einer Familie. Das Liberty Theatre, das Eröff­nungs­kino für Who am I to you, wurde in ein Hoch­zeits­fest verwan­delt, die Hoch­zeiten im Film dann selbst wurden zur Blaupause für alle Hoch­zeiten, in ganz Indien, selbst hier in Maha­ra­stra, wo Hoch­zeiten nie wichtig gewesen sind. Seit dem Film ist das anders. Dabei ist der Stil völlig »Punjabi«. Genauso wie das Essen, dass Sie inzwi­schen in fast jedem Restau­rant kriegen, alles Mughlai, alles Punjabi. Weil sie die Händler und wir, das muss mal klar gesagt werden – die blöden Arschlöcher sind.

artechock: Und darauf sind „Die Statisten“ eine Antwort? Eine Art geschicht­li­cher Erklärungs­an­satz für das heutige Indien?

Nagarkar: Ich habe die Extras geschrieben, weil ich die Hindi­filme früher so schreck­lich fand, keine Storyline, nichts. Meine Familie ist nie rein­ge­gangen. Ich war ein Hollywood-, aber kein Bolly­wood­kind. Aber dann, später, in Pune, bin ich mit Freunden rein­ge­gangen und habe es zu schätzen gelernt. Ich bin sogar zwei und dreimal in einen Film gegangen. Und ich habe erst viel später verstanden, warum. Meine Lebens­part­nerin Tulsi hat das gut umrissen: wenn du kein indisches Essen isst, wenn du keine Bolly­wood­filme siehst, weisst Du nicht, was Indien ist. Und darum geht es auch in meinem Buch, das mir unfrei­willig meta­pho­risch geraten ist, eine Metapher für 99 Prozent aller Hindus.

Ich meine, man muss sich das einfach mal vorstellen: 75-85 Prozent aller abge­henden indischen Schüler wollen einen Job in Bollywood. Bis vor kurzem gingen nur Prosti­tu­ierte und anders Gefallene nach Bollywood, um Tänzer zu werden, oder anders­weitig irgenwie rein­zu­kommen. Kindern aus guten Familien war das damals verwehrt, es war tabu. Noch der Tochter meiner Tante wurde verboten, in der »Öffent­lich­keit«, für die »Öffent­lich­keit« zu tanzen. Heute will und darf das jeder. Gucken Sie sich die Bombay Times an: alles Bollywood, Tratsch und Quatsch. Was in den 1970ern, zu der Zeit, da mein Roman spielt, nur eine Rand­er­schei­nung war, ist heute Main­stream. 100.000 wollen Schau­spieler werden, aber wie viele werden es dann wirklch: 40 Männer, 40 Frauen. Und ein paar mehr Statisten. Und Sie tuen alles dafür. Lesen Sie unbedingt Meenal Baghel „Death in Mumbai“, das porträ­tiert diese Gegenwart ganz hervor­ra­gend.

artechock: Eine faszi­nie­rende, aber auch irgendwie vers­tänd­liche Einstel­lung: jeder will halt an „seiner“ künftigen Realität „mitschreiben“...

Nagarkar: Und diese Einstel­lung sitzt tief, ganz tief. Unsere Geschäfts­me­thoden haben sich verändert, unsere Kinder gehen nach Amerika, sie werden da sesshaft, aber du kannst dort in jede indische Familie gehen und stets zwei Dinge vorfinden: indisches Essen und Bolly­wood­filme.

Kiran Nagarkar: Die Statisten. Aus dem Engli­schen von Giovanni und Ditte Bandini. A1-Verlag, München 2012. 640 Seiten, 28 Euro.

Meenal Baghel: Death in Mumbai. Random House, India 2011. 248 Seiten.