25.03.2010

»Viel­leicht ist Gott ein Rela­ti­vist?«

Szenenbild AGORA
Mehr als ein Sandalenfilm

Der spanische Regisseur Alejandro Amenábar über seinen neuen Film Agora, über christlichen Fundamentalismus, spätrömische Dekadenz und Parallelen zur Gegenwart und die geistige Situation der Spätantike

Alejandro Amenábar wurde 1972 in Chile geboren. Nach dem Pinochet-Putsch musste die Familie ins Exil gehen, und Amenábar wuchs in Madrid auf. Nach dem Studium in Madrid drehte er 1996 seinen ersten Spielfilm Tesis, der sieben Goyas gewann. Sein zweiter Spielfilm Abre los ojos folgte 1997. Seit dem Horror­film The Others (2001) gilt Amenábar als wich­tigster spani­scher Regisseur neben Pedro Almodóvar. 2004 behan­delte Das Meer in mir das Thema Ster­be­hilfe. Jetzt kommt Amenábars neuer Film Agora – Die Säulen des Himmels ins Kino. Mit Alejandro Amenábar sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Sie sind ein ungemein wand­lungs­fähiger Regisseur. Auf Ihre Horror­filme Open Your Eyes und The Others folgte das Ster­be­hilfe-Melodram Das Meer in mir. Danach hätte niemand von Ihnen einen Sanda­len­film erwartet. Woher kam die Idee für Agora?

Alejandro Amenábar: Es geht bei mir immer damit los, dass ich Urlaub mache. Da kommen mir die Ideen für meine neuen Filme. Der für mich inter­es­san­teste Aspekt an Agora ist der Konflikt zwischen Wissen­schaft und reli­giösem Glauben. Er hat die zwei­tau­send Jahre Astro­no­mie­ge­schichte bis heute bestimmt. Noch vor vier Jahren habe ich mich überhaupt nicht für Astro­nomie inter­es­siert. Aber eines Abends während des Urlaubs konnte ich nicht schlafen, und blickte in den Nacht­himmel. Und da sah ich die Milch­straße, als wäre es überhaupt das erste Mal. Das ließ mich nicht mehr los. Ich begann astro­no­mi­sche Literatur zu lesen. Ich entdeckte die Arbeiten und TV-Doku­men­tar­filme von Carl Sagan. Er beschäf­tigte sich mit der Frage von intel­li­gentem Leben auf anderen Planeten und kalku­lierte die Wahr­schein­lich­keit, dass es so etwas gäbe. Mir haben seine Über­le­gungen sehr einge­leuchtet, nach denen es sehr wahr­schein­lich sei, dass es nicht nur irgendein Leben auch ande­ren­orts geben könnte, sondern dass viel dafür spricht, dass einige dieser Zivi­li­sa­tionen der unseren sehr nahe stehen: Dass sie zwei Augen haben, Elek­tri­zität, Fort­be­we­gungs­mittel, die unseren Autos ähnlich sind, etc. Mit Freunden unter­hielt ich mich darüber die Möglich­keit von solchen anderen Zivi­li­sa­tionen. Über­ra­schen­der­weise für mich hielt kaum einer meiner Freunde die Möglich­keit von Leben jenseits der Erde für möglich.
Ich war mehr und mehr von dem Thema faszi­niert, ich las und las.

artechock: Und so kamen Sie auf die Kosmo­login Hypatia, die bisher nur Experten bekannt war, aber nun in Ihrem Film fast eine philo­so­phi­sche Action­heldin wird…

Amenábar: Genau! In den zwei­ein­halb­tau­send Jahren der Wissen­schafts­ge­schichte unseres kosmo­lo­gi­schen, physi­ka­lisch-astro­no­mi­schen Welt­bildes, von Pytha­goras über Kepler zu Einstein, gab es eine einzige Frau: Hypatia. Und sie wirkte an einem entschei­denden Moment der Geschichte: Dem Ende der antiken Welt mit ihren vielen Göttern, dem Beginn des vom Mono­the­ismus des Chris­ten­tums und dessen tota­li­tärem Allein­ver­tre­tungs­an­spruch domi­nierten Mittel­al­ters. Ein Sanda­len­film ist Agora nur geworden, weil diese inter­es­sante Frau eben in dieser Zeit lebte. Carl Sagan hat sie in der ersten Folge seiner Serie Cosmos erwähnt, er hat gesagt, wenn er zurück in der Zeit reisen könnte, würde er exakt in diesen Moment reisen: Ins Alex­an­dria von Hypatia. Der Film ist durchaus eine Würdigung. Eine Würdigung dieser Frau, die sich sehr nahe an der histo­ri­schen Wahrheit bewegt.

artechock: Weil sie die Fakten ohne Schön­fär­berei erzählen, geht die Geschichte auch nicht gut aus: Hypatia wurde von fana­ti­schen Christen ermordet…

Amenábar: Ja, es ist die Geschichte einer Nieder­lage: Objektive Wissen­schaft unterlag dem Furor der Religion. Aber offen gesagt: Ich mag die Vorstel­lung, dass jemand für seine Ideen stirbt. Dass sie es ernst meinte. Hypatia starb aus zwei Gründen: Zum einen, weil sie sich nicht taufen lassen wollte, zum anderen, weil sie eine Frau war. Eine einfluss­reiche Frau.

Ich liebe die Wider­sprüch­lich­keit dieser Geschichte. Man kann in Agora natürlich einen anti­christ­li­chen Film sehen. Aber die Figur der Hypatia steht zugleich Jesus Christus so nahe, wie keine andere in dem Film: Sie ist offen, aufge­schlossen, human, am Ende wird sie gefoltert und für ihre Ideen getötet. Das ist die gute Seite des Chris­ten­tums, die ich auch zeigen wollte. Zugleich ist dies ein Film gegen Funda­men­ta­lismus, gegen die Haltung, Anders­den­kende für ihr Denken zu töten.

Hypatia war eine Aufklä­rerin: Sie war keine Atheistin, sondern glaubte an einen ratio­nalen Gott: Sie hatte Christen als Schüler, Juden. Was klar ist: Sie wollte keine Christin werden. Sie starb lieber, als sich taufen zu lassen und zu Kreuze zu kriechen.

Diese Zeit und diese Welt hat sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun. Wir dachten, wir würden einen histo­ri­schen Film machen, aber tatsäch­lich haben wir einen Film über die Gegenwart gedreht. Zumal die Kosmo­logen Alex­an­drias auch im Vergleich zu den mono­the­is­ti­schen Reli­gionen eine tole­ran­tere, pluralere Auffas­sung hatten – Kosmo­logie war ja auch ein Zweig der Philo­so­phie, keine Religion. Die kosmo­lo­gi­sche Haupt­these lässt sich sehr einfach zusam­men­fassen: Man darf Gott nicht vorschreiben, was er tun und lassen soll, wie das die Reli­gionen implizit tun.

artechock: Gerade scheint die Religion ins Autoren­kino zurück­zu­kehren: Ob die neuen Filme von Haneke, von Trier, Dumont oder Jessica Hausner – immer steht auf die eine oder andere Art Religion im Zentrum. So auch in Agora. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Amenábar: Überhaupt nicht, mich wundert diese Koin­zi­denz auch. In meinem Fall ist die große Rolle, die Religion in Agora spielt, fast schon ein Zufall. Ich wollte ursprüng­lich etwas ganz anderes: Ich wollte keinen Film über Reli­gionen machen, sondern einen Film über Kosmo­logie – aller­dings aus spiri­tu­eller, philo­so­phi­scher Perspek­tive. Wenn wir heute an Astro­nomie denken, dann denken wir als erstes an Physik, an Umlauf­bahnen, Formeln und mathe­ma­ti­sche Glei­chungen. Für mich hat Astro­nomie aber auch einen sehr spiri­tu­ellen Aspekt. Wir erkennen uns durch sie als Teil des Univer­sums. Die Erfahrung möchte ich auch dem Publikum vermit­teln.

Was dann geschah, als wir für das Drehbuch die histo­ri­schen Ereig­nisse recher­chierten, und nach den inter­es­san­testen Figuren unter den Wissen­schaft­lern von Alex­an­dria suchten, um schließ­lich zu wissen, auf wen wir uns konzen­trierten, den Held unseres Films also, da fanden wir diese Frau, die Philo­so­phin Hypatia. Wir begriffen, dass man über ihr Leben und ihr Zeitalter ein unglaub­lich inter­es­santes Gesamt­bild entwerfen können würde. Denn zu dieser Zeit, um das Jahr 400, steigt das Chris­tentum gerade zur offi­zi­ellen Religion auf. Diese Wende markiert das Ende des Römischen Welt­reichs und den Beginn des Mittel­al­ters. Genau darum spielt Religion eine derart bedeu­tende Rolle.

artechock: Kosmo­logie – können Sie etwas genauer erklären, was sie darunter verstehen?

Amenábar: Ja. Es geht mir nicht um zeit­genös­si­sche Atom­physik, sondern um die antike Kosmo­logie, um den Versuch, das Wissen von der Welt in einer ganz­heit­li­chenm trotzdem immer ratio­nalen Theorie zusam­men­zu­fassen. Das musste dann die Sterne, den Weltraum, Natur­wis­sen­schaften, aber auch die Auffas­sung von den Göttern beinhalten. Im Verhältnis zu den seiner­zei­tigen mono­the­is­ti­schen Reli­gionen hatten die antiken Kosmo­logen eine tole­ran­tere, pluralere Auffas­sung – Kosmo­logie war ja auch ein Zweig der Philo­so­phie, keine Religion.
Die kosmo­lo­gi­sche Haupt­these lässt sich sehr einfach zusam­men­fassen: Man darf Gott nicht vorschreiben, was er tun und lassen soll.

Um die Brisanz dieses Satzes zu verstehen, muss man sich diesen berühmten Ausspruch von Einstein ins Gedächtnis rufen: »Gott würfelt nicht.« Klingt erstmal toll und sehr demütig. Aber der Satz war eigent­lich nur Polemik gegen die Quan­ten­phy­siker. Im Gegenteil: Es ist im Prinzip die pure Anmaßung. Viel­leicht spielt Gott sehr gern mit Würfeln. Viel­leicht ist Gott ein Rela­ti­vist. Wer sind wir, um das zu entscheiden? Wir sollten uns keinen Gedanken verbieten lassen. So hat Bohr später auch gegen Einstein argu­men­tiert.

artechock: War es schwierig, das antike Alex­an­dria wieder­auf­er­stehen lassen? Ihr Film ist rein europäisch finan­ziert, und im Vergleich zu Hollywood-Produk­tion mit knapp 50 Millionen sehr billig…

Amenábar: Wir haben uns alle möglichen Filme angesehen. Viele histo­ri­schen Filme, die heute gemacht werden, haben durch die neuen digitalen Möglich­keiten mit CGI und so weiter, Perspek­tiven und Bewe­gungen, die absolut unmöglich sind. Das wollte ich nicht. Ich wollte die Zuschauer in die Position von unmit­tel­baren Augen­zeugen versetzen. Es sollte nicht »schön« aussehen, sondern realis­tisch und ausdrucks­stark. Ich wollte Authen­ti­zität. Die Geogra­phie der Stadt sollte stimmen. Es war eine Großstadt: Laut, schnell, kalt und brutal. Ich wollte eine Sicht der Dinge bieten, die so zeitgemäß wie irgend möglich ist – in ihrer Perspek­tive auf die histo­risch wissen­schaft­li­chen Vorgänge ebenso, wie in stilis­ti­scher und film­tech­ni­scher Hinsicht – ohne aber die histo­ri­schen Ereig­nisse zu verraten, oder nur als lose Folie zu benutzen.

artechock: Agora ist zwar ein histo­ri­scher Film, aber er wirkt ungemein aktuell – politisch wie welt­an­schau­lich: Man kann sagen, er handle von Funda­men­ta­lismus, in dieser Welt der Spätan­tike finde ich viele Gemein­sam­keiten zu unserer Welt: Eine multi­kul­tu­relle Gesell­schaft, verschie­dene Reli­gionen im Wett­streit mitein­ander, zugleich enorme Fort­schritte in den Wissen­schaften, die unser Weltbild verändern…

Amenábar: …viel Chaos…

artechock: Kann man sagen, ja…

Amenábar: Tatsäch­lich gibt es unglaub­liche Ähnlich­keiten zwischen heute und jener Epoche: Eine sehr sehr fort­ge­schrit­tene Kultur, die sich schnell verändert, die mit Tradi­tio­na­lismus und Restau­ra­tionen zu kämpfen hat. Die klügeren Menschen und Wissen­schaftler sind Heiden, Reli­gionen sind ein Phänomen der Armen und Unge­bil­deten, der Unter­schichten. Die tradi­tio­nellen Reli­gionen erleben zugleich eine gewisse Dekadenz, einen Verfall – wie das Chris­tentum heute.
Ich will die Ähnlich­keiten im Film evident machen. Ich möchte, dass die Zuschauer, wenn sie meinen Film sehen, einen Schritt zurück­treten, und sich selber in dieser anderen Welt erkennen. Aus der Distanz gilt: So sehr haben wir uns nicht verändert. Aus einer Mars­men­schen-Perspek­tive wäre das leicht zu erkennen.
Ich versuche mich selbst in meinen Geschichten immer zu ihrem Teil zu machen. Ich habe mich gefragt: Wo hätte ich gestanden? Wäre ich ein Christ geworden? Hätte ich für meine Über­zeu­gungen getötet?

artechock: Es scheint klar, dass Sie sich in diesem Fall mit der Heldin iden­ti­fi­zieren, die von Rachel Weisz gespielt wird?

Amenábar: Das stimmt. Ja!

artechock: Also sind Sie ein Atheist? Sie kriti­sieren Religion als solche?

Amenábar: Nun ich kriti­siere jede Art von reli­giösem Fana­tismus. Und jede Form von Gewalt, die von Reli­gionen ausgeht – auch die, die keine Waffen braucht, sondern gedank­liche Gewalt, intel­lek­tu­eller Terror, der zum Beispiel gegen die Gedan­ken­frei­heit und gegen die Freiheit der Wissen­schaften gerichtet ist. Ich habe keinerlei Problem, über Religion und Glauben zu disku­tieren. Oder über tran­szen­den­tale Fragen. Die Probleme beginnen dort, wo Menschen sich gegen Vernunft entscheiden, wo sich beginnen, den Tatsachen Zwang anzutun. Da ist es bis zur rohen Gewalt nicht mehr weit.
Das ist der eigent­liche Inhalt von Agora: Er ist ein Statement gegen jede religiöse oder kultu­relle oder poli­ti­sche Gruppe, die sich an irgend­einem Punkt entschließt, ihre Ideen mit Gewalt durch­zu­setzen. Ich denke, dass ich alle Reli­gionen in meinem Film fair behandle.
Es gibt auch innerhalb der Reli­gionen – im Film, wie in der Wirk­lich­keit – immer Menschen, die moderat sind, die vermit­teln wollen, die ihren Verstand benutzen. Wie Hypatia.

artechock: Hypathia mag ja vergleichs­weise modern gewesen sein, aber sie war doch ein Kind ihrer Zeit: Man war human und liberal, aber man hatte Sklaven…

Amenábar: Die spätrö­mi­schen Jahre Alex­an­drias waren einer der hellsten, aufge­klär­testen Momente in der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schichte unseres Planeten. Die gebil­deten Menschen dieser Zeit beschäf­tigen sich mit Philo­so­phie, Astro­nomie, Poesie, Ethik, es gab ungemeine wissen­schaft­liche Fort­schritte, Bürger­rechte für viele und eine relative Gleich­be­rech­ti­gung unter den Geschlech­tern. Aber auch diese Leute hatten ihren blinden Fleck: Sie hatten Sklaven. Natürlich scheint das für uns sehr wider­sprüch­lich. Aber selbst ein kluger Mensch wie der Philosoph Aris­to­teles war ein Vertei­diger der Sklaverei. Einmal habe ich im Film Aris­to­teles zitiert: »Sklaven sind wie Tiere« schreibt er.

Es gibt daran nichts zu vertei­digen. Aber wir sollten es uns auch ande­rer­seits nicht zu einfach machen: Es gibt heute in unserer Welt auch Sklaven. Sie heißen nur anders. Sie arbeiten bei Läden wie McDonalds, in chine­si­schen Fabriken für Waren, die bei uns in Billig­shops landen sollen, oder bei uns zuhause als Putz­frauen – ihre Lage ist auch nicht grund­sätz­lich besser, als die antiker Sklaven.

artechock: Wo wir schon bei den Gemein­sam­keiten mit unserer Gegenwart sind: Sehen Sie solche Paral­lelen auch zu dem Untergang des Römischen Reiches, den Agora beschreibt?

Amenábar: Nun, die USA sind gewiss das Römische Imperium unserer Zeit. Natürlich erleben wir eine Krise: Nicht nur wirt­schaft­lich, sondern – viel wichtiger! – auch politisch und kulturell. Wir spüren, dass wir irgend­wohin treiben. Wir glauben auch, dass es Zeit für Verän­de­rungen ist. Weil ich Optimist bin, glaube ich nicht ernsthaft, dass wir in ein neues dunkles Mittel­alter zurück­fallen. Aber wir spüren doch alle, dass vieles gerade nicht gut läuft, dass wir Rück­schläge erleben, und mit vielen Entwick­lungen nicht zufrieden sein können.

artechock: Gibt es bestimmte persön­liche Erfah­rungen, die von Ihrer Seite einge­flossen sind? Man könnte an die aktuellen Debatten über reli­giösen Funda­men­ta­lismus denken? An die Terror­an­schläge in Spanien? Aber auch die Geschichte Ihrer Heimat kommt einem in den Sinn: Immerhin liegt der blutige Bürger­krieg erst zwei Gene­ra­tionen zurück, die heute Alten haben noch persön­lich erlebt, wie auch Religion zum Mittel des Kampfes wurde…

Amenábar: Ja, mit diesen Asso­zia­tionen liegen sie ganz richtig: Ich zeige einen antiken Bürger­krieg, und natürlich habe ich da an den spani­schen gedacht. Der Bürger­krieg war ein Krieg um Religion.
Wir haben uns beim Schreiben überlegt: Was hätten wir gemacht?

artechock: Ist Agora ein opti­mis­ti­scher oder ein pessi­mis­ti­scher Film? Sie erwähnen am Ende den Astronom Johannes Kepler, der über 1000 Jahre später Hypatias Theorien bestä­tigte. Sie erhält also postum recht. Aber man könnte auch sagen, sie sei die Verlie­rerin des Films?

Amenábar: Der Film zeigt die besten und die schlech­testen Seiten des Menschen. Ich denke Agora ist zunächst mal die Geschichte einer Nieder­lage. Der Nieder­lage der Vernunft. Die Vernunft sollte Bestand haben, und selbst­ver­s­tänd­lich versuche ich, immer opti­mis­tisch zu bleiben. Und ich versuche zu glauben, dass wir uns in unseren unruhigen Zeiten keine Rück­schritte erleben, uns nicht zurück in vergan­gene, längst über­wun­dene Epochen flüchten.
Ande­rer­seits: In den USA bestreiten 40 Prozent der Bevöl­ke­rung die Evolu­ti­ons­theorie. Das über­rascht und erschreckt mich. Aber am Ende wird sich die Vernunft durch­setzen. Ich vertraue der Neugier. Wir wollen Antworten finden. Das wird Bestand haben.

artechock: Was war für Sie als Filme­ma­cher die größte Heraus­for­de­rung an Agora?

Amenábar: Das Geld für so ein Riesen­pro­jekt zu beschaffen. Und sicher­zu­gehen, dass wir dann unser Budget nicht über­ziehen.
Ich wollte verant­wor­tungs­voll mit dem Geld umgehen, und den Zuschauern so viel wie möglich bieten: Eine Zeitreise ins antike Alex­an­dria mit einem vergleichs­weise begrenzten, aber optimal verwen­detem Budget.

artechock: Ich finde es funk­tio­niert sehr gut: Wie mit einem Fernrohr in die Vergan­gen­heit zu blicken. Was an Ihrer Arbeit auffällt: Jeder Film ist ganz anders, als die Vorgänger. Ein Werk wie Agora steht auto­ma­tisch im Vergleich mit Werken wie den großen Sanda­len­filmen Holly­woods… Wie haben Sie sich vorbe­reitet?

Amenábar: Ja, ich habe mir zur Vorbe­rei­tung alle möglichen Histo­ri­en­filme über das alte Rom angesehen: Spartacus, Ben Hur, Gladiator, Der Untergang des Römischen Reiches und Cleopatra. Auch die Kostüm-Filme von David Lean.
Aber ab einem bestimmten Punkt in der Arbeit musste ich mich wieder von diesen Einflüssen befreien: Ich habe versucht, mir eine Zeitreise vorzu­stellen: Als ob ich mit meinem heutigen Wissen mit der Kamera in diese Vergan­gen­heit reisen dürfte.
Was die Film-Archi­tektur angeht, insbe­son­dere das Bild dieses antiken Alex­an­dria: Es wurde geradezu eine Obsession von mir, alles so realis­tisch wie möglich zu gestalten. Es gibt eine Art Biogra­phie der Stadt. Wir wissen zum Beispiel genau, wie das berühmte Biblio­theks­ge­bäude aussah, wo es lag.

artechock: In dieser Hinsicht hat der Film fast die Qualität eines Doku­men­tar­films…

Amenábar: Ja. Kino hat manchmal genau diese Eigen­schaft: Es bringt dem Publikum etwas wieder bei, was es vergessen hat. Ich habe nichts gegen Erziehung, ich möchte meinem Publikum etwas vermit­teln. Die digitalen Techniken funk­tio­nieren in dieser Hinsicht wie ein Türöffner. Aber sie verschließen auch einiges: Viele Filme tendieren zu völlig unglaub­li­chen Kame­ra­be­we­gungen, die Bilder sind übergroß, übermäßig bevölkert mit Menschen. Es geht vor allem um Masse: Massen­auf­mär­sche – das sieht man gerade in Kostüm­filmen. Aber das ist reine histo­ri­sche Fantasy: Es gab seiner­zeit gar nicht so viele Leute. Verg­li­chen mit einer heutigen Metropole war das antike Alex­an­dria eine Klein­stadt.

Da sind die Kino­bilder einfach irreal. Und man sieht den kleinen Menschen­punkten dieser digitalen Bilder in ihren dauernden amei­sen­haften Bewe­gungen auch an, dass es Compu­ter­pro­gramme sind, die sie zum Leben erwecken. Auch die Kame­ra­be­we­gungen sind völlig ausge­dacht. Damit macht man dem Publikum mutwillig klar: Das, was ihr da seht ist gefälscht. Das alles finde ich unsinnig.

Ich habe versucht, mit Agora zu etwas mehr Realismus zurück­zu­kehren, zu etwas mehr Beschei­den­heit. Ich wollte das Publikum nicht betrügen. Die Grenze zwischen Aufnahme und digitaler Repro­duk­tion sollte auch immer sichtbar bleiben, nicht verwischt werden. Das gilt zum Beispiel auch für das Spiel der Darsteller: Sie sollten wirklich mit dem Set inter­agieren. Bei diesen Blue- oder Green-Box-Passagen anderer Filme spürt man meiner Ansicht nach immer: Hier stimmt etwas nicht.

artechock: Das Geld kommt ganz und gar aus Europa?

Amenábar: Ja.

artechock: Das zeigt ja auch, was in Europa möglich ist. Man braucht kein ameri­ka­ni­sches Geld um Kostüm­filme zu drehen.

Amenábar: Es ist alles eine Frage des Willens und der Prio­ri­täten.

artechock: Es gibt auch einen inhalt­li­chen Unter­schied zu den klas­si­schen Hollywood-Kostüm­filmen: Dort werden die Haupt­fi­guren fast immer chris­tia­ni­siert, oft sind es Kämpfer, die zu Quasi-Pazi­fisten mutieren. Hier sind eher die Bösen und die ambi­va­lenten Charak­tere Christen. Die Heldin ist dagegen eine Atheistin, die das Chris­tentum als Funda­men­ta­lismus bekämpft. Ande­rer­seits gibt es auch keine Figur, die dezidiert anti­christ­lich ist. Die findet man eher im Subtext.

Amenábar: Jede Figur hat eine eigene Biogra­phie. Wir wissen, dass sich die histo­ri­sche Hypatia konstant geweigert hat, sich taufen zu lassen. Obwohl ihre besten Freunde Christen waren. Wir wollten Unge­rech­tig­keit zeigen. Das Chris­tentum war in der Antike die Religion der Unter­klassen. Chris­tentum war eine funda­men­ta­lis­ti­sche Revolte gegen den Ratio­na­lismus der Ober­klasse, ein Skla­ven­auf­stand.
Dieser Mönchs-Orden, den ich zeige, die Pala­banani, der sich in eine Armee verwan­delt, begann als eine Gruppe, die sich um die Armen kümmert.

artechock: Sie erinnern uns heutige an die Revo­lu­ti­ons­garden im Iran, oder gar an die SS…

Amenábar: Ja, das sollen sie auch. Ich wollte in Agora nicht wie so viele andere Sanda­len­filme nur von den Christen als Opfern erzählen. Christen waren auch Täter. Es ist nicht nötig noch einen x-ten christ­li­chen Erbau­ungs­film zu drehen, in denen Christen gefoltert werden, sich in Märtyrer verwan­deln.
Solche Filme gibt es, und das ist auch in Ordnung. Aber in einem späteren histo­ri­schen Moment – und das zeige – ich, verla­gerten sich die Gewichte: Die Christen bekamen die Oberhand, die Nicht-Gläubigen wurden nun Opfer einer Verfol­gung, die oft noch radikaler und brutaler war, als die Chris­ten­ver­fol­gung: Es war ein bildungs- und frei­heits­feind­li­cher Aufstand.

artechock: Die Macht korrum­piert die Menschen?

Amenábar: Ganz genau. Immer.

artechock: Vertrauen Sie trotzdem noch auf den Fort­schritt? Was ist Ihre Perspek­tive auf die Geschichte, ihre Geschichts­phi­lo­so­phie?

Amenábar: Die Geschichte ist eine Schleife. Keine exakte Wieder­ho­lung, aber ein paar Schritte vor und ein paar Schritte zurück. Etwas mehr vor, als zurück viel­leicht.

artechock: Haben Sie einen Lektü­retip? Für histo­risch Inter­es­sierte?

Amenábar: »Alex­an­dria in Late Antiquity: Topo­graphy and Social Conflict« von Chris­to­pher Haas. Das habe ich gehörig ausge­schlachtet. Es ist sehr detail­liert. Und auch die TV-Doku­men­tar­filme von Carl Sagan sind sehr empfeh­lens­wert. Davon habe ich viel profi­tiert.

artechock: Was meinen Sie, was alle Ihre Filme über die Unter­schiede hinweg verbindet? Worum geht es Ihnen überhaupt?

Amenábar: Tod ist mir sehr wichtig. Und wie der Tod das Leben berührt. Dann Wahr­heits­suche: Alle meine Figuren – und ich hoffe auch ich selber – versuchen, irgend­eine Wahrheit heraus­zu­finden. Was immer sie ist und was immer es kostet. Und in meinen letzten drei Filmen wird Religion immer wichtiger.

artechock: Und stilis­tisch? Was möchten Sie als Filme­ma­cher erreichen? Was sollen Film­his­to­riker mal über Sie schreiben?

Amenábar: Oh, schwere Frage! Als ich auf der Film­hoch­schule war, wollte ich einfach mit diesem Beruf meine Miete verdienen. Ich hatte die Einstel­lung eines Söldners. Ich wollte nicht die Welt verändern. Mit den Jahren wurde das Filme­ma­chen aber immer mehr eine Form, mich selbst auszu­drü­cken und mit der Welt zu kommu­ni­zieren.

artechock: Meinen Sie, dass Ihre Filme eine stilis­ti­sche Gemein­sam­keit haben?

Amenábar: Kino ist für mich natürlich eine Kunst. Meine Art Geschichten im Kino zu erzählen, ist aber sehr tradi­tio­nell. Ich werde die Geschichte der Filmäs­thetik in keiner Weise verändern. Ich mag Genres und ihre Formeln. Was meine Filme viel­leicht ein wenig unter­scheidet, und speziell macht: Ich mag Metaphern, um aufzu­klären. Meine letzten Filme starten immer mit sehr anspruchs­vollen Absichten. Sie wie hier: Ich wollte nicht weniger, als die Geschichte der Astro­nomie erzählen. Aber ich wollte es sehr vers­tänd­lich und einfach tun. Also: Das Schwere einfach machen – das ist die Gemein­sam­keit. Wären meine Filme unver­s­tänd­lich und kryptisch, wäre ich sehr unglück­lich.

artechock: In welchem Verhältnis stehen Gefühl und Verstand in Ihren Filmen?

Amenábar: Dies ist ein Film über Ideen. Aber aus Ideen können auch Gefühle entstehen. Wenn man Vernunft nur als kalt, unfle­xibel und als Gegensatz von Emotionen verstünde, wäre das doch eine sehr einge­schränkte Sicht der Dinge.

artechock: Werden auch ihre nächsten Filme von Ideen handeln?

Amenábar: Einstein wäre der Stoff für so einen tollen Spielfilm!