Die wunderbare Unwahrscheinlichkeit des Seins |
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Radikalität und Kompromisslosigkeit der Figuren: Wilhelm und Anka Sasnals The Assistant | ||
(Foto: goEast) |
Von Dunja Bialas
»Omas, Babas, Babushkas«: Festivalleiterin Heleen Gerritsen, die ab nächstem Jahr Leiterin der Deutschen Kinemathek werden wird, widmete die 25. Ausgabe des GoEast-Festivals des Mittel- und Osteuropäischen Films den »unsichtbaren« Frauen. Unsichtbar sind Frauen ab einem bestimmten Lebensalter, wenn sie in der Gesellschaft in vielen Bereichen verschwinden, keine mediale Präsenz mehr finden, weil sie aus Filmen und Fernsehstudios entfernt werden, die unsichtbar werden unter dem Diktat von Fruchtbarkeit und Jugend. Coraline Forgeats The Substance deklinierte die Extremform des Schwunds der eigenen Existenz im Alter als Body Horror durch.
Wie werden alte Frauen – nennen wir sie ruhig einmal so, ohne jeglichen Euphemismus – in Filmen repräsentiert? Die Fragestellung war Thema für ein umfangreiches Symposium, angestoßen und begleitet vom Forschungsprojekt AGE-C: Ageing and Gender in European Cinema. Das Programm mit 14 Filmen öffnete die Augen für die Darstellungsvariablen osteuropäischer Frauen im Großmutter-Alter. Oftmals wurde die Kontinuität perspektiviert, die Lebenslinie zurück zur Vita activa gezogen, wie im ungarischen Granny Project von Bálint Révész, in dem sich drei junge Männer mit dem vergangenen Leben ihrer Großmütter befassen, die eine Kollaborateurin, die andere britische Spionin, die dritte eine Holocaust-Überlebende. Während A Postcard From Rome der Litauerin Elza Gauja das allmähliche Verblassen des Lebens und die Neuordnung bei einem zusammen alt gewordenen Paar in den Blick nahm, stellte das Kurzfilmprogramm wiederum aktive »Seniorinnen« vor, die ihren ganzen Charme über die große Leinwand in der eindrucksvollen Caligari-Filmbühne ausbreiteten.
Meine Kollegin Paula Ruppert bespricht hier bereits Ludmilla’s Applepie der Georgierin Loukia Hadjiyianni. Ein Publikumserfolg wegen der Hemdsärmligkeit und Offenherzigkeit der alten Ludmilla, die aus einem arg verbeulten und rostigen Ofen einen sichtlich von der Leinwand herabduftenden Apfelkuchen hervorholt. Eindrücklich auch I Choose To Go der Russin Elena Murganova, die in das Zentrum ihres Kurzfilms Ludmila Vasilieva rückt, die mit 83 Jahren noch einmal für das Amt des Gouverneurs von St. Petersburg kandidiert. Sie hält sich fit, indem sie rückwärts die zehn Stockwerke des Plattenbauhochhauses hinuntergeht, in dem sie wohnt.
Wenn man die Filme mit den alten Frauen, aber auch Männern – wie zum Beispiel Zelimir Zilniks Eighty plus, der den Preis der Fipresci bekam – sah, fand man unweigerlich zu einem neuen Blick, den einem die Vorträge und Diskussionen auf dem »Babushka«-Symposium beigebracht hatten. »Can Women Age in Eastern European Cinema« oder »Fragility, Gender and Agency« sensibilisierte für die unterschiedlichen Darstellungen in den verschiedenen Filmographien. Sind ältere Frauen liebenswerte, apfelkuchenbackende Großmütterchen? Sind sie skurrile Kraftmaschinen, die rückwärts die Treppe hinuntergehen? Brechen sie auf zu einem späten Frühling an der Seite eines noch älteren Herrn (Zilnik)? Sind sie »elder heroines«, die auf ein bewegtes Leben zurückblicken? Und dann die Französinnen: Auch wenn Mia Hansen-Løves L’avenir mit Isabelle Huppert als aussortierte Lektorin, die nach ihrer späten Scheidung ihr Leben noch einmal mit voller Kraft neu sortiert, in dem Vortrag von Matthijs Wouter Knol nicht vorkam, er stattdessen Hansen-Løves An einem schönen Morgen erwähnte, eine Auseinandersetzung der Regisseurin mit ihrem dement gewordenen Vater, musste man als westliche Gegenentwürfe immer wieder an das Bild der mindestens »rüstigen Rentnerin« und den Trend der Longevity denken, der das Altern nicht mehr sehen, schon gar nicht zulassen will.
Das Thema »Omas, Babas, Babushkas« gab so auch eine längst überfällig gewordene Ergänzung zum Thema der »Starken Frauen«, das noch vor ein paar Jahren eine steile Festivalkarriere gemacht hatte.
Den Blick dorthin richten, wohin »der Westen« nicht sehen will, könnte eine der Grundhaltungen des 2001 gegründeten Festivals sein. Zum Jubiläum war die ehemalige Leiterin und Festivalbegründerin Claudia Dillmann eingeladen, die im Rahmen von 100 Jahre Fipresci (noch ein Jubiläum!) darüber sprach, wie es einst zur Gründung gekommen war. Ihr Motiv war, den im Westen weitgehend unbekannten osteuropäischen Kinematographien eine Plattform zu geben, wo sich die Filmemacher untereinander begegnen und gleichzeitig in den Dialog mit »dem Westen« treten. Dillmann, die das Festival aus ihrer Position als Leiterin des in Frankfurt ansässigen Deutschen Filminstituts gründete, zog ihrerseits einen Reigen illustrer Gäste an. Gaby Babić, ebenfalls ehemalige Leiterin von GoEast und heute Leiterin der Kinemathek Asta Nielsen, kam, und auch Barbara Wurm, Leiterin des Forums der Berlinale, eine ausgewiesene Expertin für osteuropäische Filme. Man darf auch Margarethe von Trotta in diesen Reigen aufnehmen. Sie stellte ihren epischen Rosa Luxemburg im Jubiläumsprogramm vor und erfüllte den Saal des bald hundertjährigen Caligari-Kinos mit der scharfen Intelligenz einer 83-Jährigen, die genau weiß, worüber und wie sie darüber sprechen will.
Nicht in die Reihe der alten Damen passend, jedoch mit viel Patina versehen, war ein Film im Wettbewerb, der die Fragen des Alters auf völlig andere Weise perspektivierte. In Wilhelm und Anka Sasnals The Assistant nach dem Roman von Robert Walser »Der Gehülfe« ist eine Studie über einen müde gewordenen Erfinder, dessen Unternehmen im Niedergang begriffen ist. Er holt sich einen Assistenten ins Haus, der seine Arbeit als Buchbinder hingeschmissen hatte, arbeitssuchend ist, und in das Haus des Erfolglosen seine ganze Energie steckt.
In der Radikalität und Kompromisslosigkeit seiner Figuren erinnert der unaufgeregte, episch angelegte polnische Film auch an The Brutalist. Mit analoger Kamera gefilmt, breitet sich die Tiefe des Raums im Filmkorn aus, die historischen Kostüme und die zarten Grün- und Rosétöne geben viel sanfte Patina. Die nahezu experimentelle Erzählweise erinnert außer an Robert Walser auch an die Filme der Polen Krzysztof Zanussi oder Andrzej Żuławski, in seiner historischen Ausgestaltung auch an Cyril Schäublins Unruh. Im Hause des Erfinders würden alle Uhren unterschiedlich gehen, wundert sich ein potentieller Kunde. Das gilt für diesen Film auch auf poetologischer Ebene: Viele Anachronismen und Störmomente schälen die Erzählung aus der Historie heraus, schaffen Irritationsmomente und auch Momente einer wunderbaren, weil unwahrscheinlichen Wirklichkeit. Wilhelm Sasnal ist auch ein erfolgreicher polnischer Maler und hat in allen Innenräumen selbstgemalte Replika aufgehängt, vom Plattencover der britischen Band »The Smiths« bis hin zu »The Absinthe Drinker« von Pablo Picasso. Sie tauchen den Film in eine verwunschene, rätselhafte und sprechende Atmosphäre.