08.05.2025

Die wunderbare Unwahrscheinlichkeit des Seins

The Assistant
Radikalität und Kompromisslosigkeit der Figuren: Wilhelm und Anka Sasnals The Assistant
(Foto: goEast)

Das 25. GoEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films stellte »Age & Gender« ins Zentrum seiner Jubiliäumsausgabe. Robert Walsers »Der Gehülfe« verwandelt sich währenddessen unter der Regie von Sasnal in ein vielschichtiges Kunstwerk

Von Dunja Bialas

»Omas, Babas, Babushkas«: Festi­val­lei­terin Heleen Gerritsen, die ab nächstem Jahr Leiterin der Deutschen Kine­ma­thek werden wird, widmete die 25. Ausgabe des GoEast-Festivals des Mittel- und Osteu­ropäi­schen Films den »unsicht­baren« Frauen. Unsichtbar sind Frauen ab einem bestimmten Lebens­alter, wenn sie in der Gesell­schaft in vielen Bereichen verschwinden, keine mediale Präsenz mehr finden, weil sie aus Filmen und Fern­seh­stu­dios entfernt werden, die unsichtbar werden unter dem Diktat von Frucht­bar­keit und Jugend. Coraline Forgeats The Substance dekli­nierte die Extrem­form des Schwunds der eigenen Existenz im Alter als Body Horror durch.

Wie werden alte Frauen – nennen wir sie ruhig einmal so, ohne jeglichen Euphe­mismus – in Filmen reprä­sen­tiert? Die Frage­stel­lung war Thema für ein umfang­rei­ches Symposium, ange­stoßen und begleitet vom Forschungs­pro­jekt AGE-C: Ageing and Gender in European Cinema. Das Programm mit 14 Filmen öffnete die Augen für die Darstel­lungs­va­ria­blen osteu­ropäi­scher Frauen im Groß­mutter-Alter. Oftmals wurde die Konti­nuität perspek­ti­viert, die Lebens­linie zurück zur Vita activa gezogen, wie im unga­ri­schen Granny Project von Bálint Révész, in dem sich drei junge Männer mit dem vergan­genen Leben ihrer Großmütter befassen, die eine Kolla­bo­ra­teurin, die andere britische Spionin, die dritte eine Holocaust-Über­le­bende. Während A Postcard From Rome der Litauerin Elza Gauja das allmäh­liche Verblassen des Lebens und die Neuord­nung bei einem zusammen alt gewor­denen Paar in den Blick nahm, stellte das Kurz­film­pro­gramm wiederum aktive »Senio­rinnen« vor, die ihren ganzen Charme über die große Leinwand in der eindrucks­vollen Caligari-Filmbühne ausbrei­teten.

Meine Kollegin Paula Ruppert bespricht hier bereits Ludmilla’s Applepie der Geor­gi­erin Loukia Hadjiy­i­anni. Ein Publi­kums­er­folg wegen der Hemd­särm­lig­keit und Offen­her­zig­keit der alten Ludmilla, die aus einem arg verbeulten und rostigen Ofen einen sichtlich von der Leinwand herab­duf­tenden Apfel­ku­chen hervor­holt. Eindrück­lich auch I Choose To Go der Russin Elena Murganova, die in das Zentrum ihres Kurzfilms Ludmila Vasilieva rückt, die mit 83 Jahren noch einmal für das Amt des Gouver­neurs von St. Peters­burg kandi­diert. Sie hält sich fit, indem sie rückwärts die zehn Stock­werke des Plat­ten­bau­hoch­hauses hinun­ter­geht, in dem sie wohnt.

Wenn man die Filme mit den alten Frauen, aber auch Männern – wie zum Beispiel Zelimir Zilniks Eighty plus, der den Preis der Fipresci bekam – sah, fand man unwei­ger­lich zu einem neuen Blick, den einem die Vorträge und Diskus­sionen auf dem »Babushka«-Symposium beigebracht hatten. »Can Women Age in Eastern European Cinema« oder »Fragility, Gender and Agency« sensi­bi­li­sierte für die unter­schied­li­chen Darstel­lungen in den verschie­denen Filmo­gra­phien. Sind ältere Frauen liebens­werte, apfel­ku­chen­ba­ckende Großmüt­ter­chen? Sind sie skurrile Kraft­ma­schinen, die rückwärts die Treppe hinun­ter­gehen? Brechen sie auf zu einem späten Frühling an der Seite eines noch älteren Herrn (Zilnik)? Sind sie »elder heroines«, die auf ein bewegtes Leben zurück­bli­cken? Und dann die Fran­zö­sinnen: Auch wenn Mia Hansen-Løves L’avenir mit Isabelle Huppert als aussor­tierte Lektorin, die nach ihrer späten Scheidung ihr Leben noch einmal mit voller Kraft neu sortiert, in dem Vortrag von Matthijs Wouter Knol nicht vorkam, er statt­dessen Hansen-Løves An einem schönen Morgen erwähnte, eine Ausein­an­der­set­zung der Regis­seurin mit ihrem dement gewor­denen Vater, musste man als westliche Gegen­ent­würfe immer wieder an das Bild der mindes­tens »rüstigen Rentnerin« und den Trend der Longevity denken, der das Altern nicht mehr sehen, schon gar nicht zulassen will.

Das Thema »Omas, Babas, Babushkas« gab so auch eine längst über­fällig gewordene Ergänzung zum Thema der »Starken Frauen«, das noch vor ein paar Jahren eine steile Festi­val­kar­riere gemacht hatte.

Den Blick dorthin richten, wohin »der Westen« nicht sehen will, könnte eine der Grund­hal­tungen des 2001 gegrün­deten Festivals sein. Zum Jubiläum war die ehemalige Leiterin und Festi­val­be­grün­derin Claudia Dillmann einge­laden, die im Rahmen von 100 Jahre Fipresci (noch ein Jubiläum!) darüber sprach, wie es einst zur Gründung gekommen war. Ihr Motiv war, den im Westen weit­ge­hend unbe­kannten osteu­ropäi­schen Kine­ma­to­gra­phien eine Plattform zu geben, wo sich die Filme­ma­cher unter­ein­ander begegnen und gleich­zeitig in den Dialog mit »dem Westen« treten. Dillmann, die das Festival aus ihrer Position als Leiterin des in Frankfurt ansäs­sigen Deutschen Film­in­sti­tuts gründete, zog ihrer­seits einen Reigen illustrer Gäste an. Gaby Babić, ebenfalls ehemalige Leiterin von GoEast und heute Leiterin der Kine­ma­thek Asta Nielsen, kam, und auch Barbara Wurm, Leiterin des Forums der Berlinale, eine ausge­wie­sene Expertin für osteu­ropäi­sche Filme. Man darf auch Marga­rethe von Trotta in diesen Reigen aufnehmen. Sie stellte ihren epischen Rosa Luxemburg im Jubiläums­pro­gramm vor und erfüllte den Saal des bald hundert­jäh­rigen Caligari-Kinos mit der scharfen Intel­li­genz einer 83-Jährigen, die genau weiß, worüber und wie sie darüber sprechen will.

Nicht in die Reihe der alten Damen passend, jedoch mit viel Patina versehen, war ein Film im Wett­be­werb, der die Fragen des Alters auf völlig andere Weise perspek­ti­vierte. In Wilhelm und Anka Sasnals The Assistant nach dem Roman von Robert Walser »Der Gehülfe« ist eine Studie über einen müde gewor­denen Erfinder, dessen Unter­nehmen im Nieder­gang begriffen ist. Er holt sich einen Assis­tenten ins Haus, der seine Arbeit als Buch­binder hinge­schmissen hatte, arbeits­su­chend ist, und in das Haus des Erfolg­losen seine ganze Energie steckt.

In der Radi­ka­lität und Kompro­miss­lo­sig­keit seiner Figuren erinnert der unauf­ge­regte, episch angelegte polnische Film auch an The Brutalist. Mit analoger Kamera gefilmt, breitet sich die Tiefe des Raums im Filmkorn aus, die histo­ri­schen Kostüme und die zarten Grün- und Rosétöne geben viel sanfte Patina. Die nahezu expe­ri­men­telle Erzähl­weise erinnert außer an Robert Walser auch an die Filme der Polen Krzysztof Zanussi oder Andrzej Żuławski, in seiner histo­ri­schen Ausge­stal­tung auch an Cyril Schäu­blins Unruh. Im Hause des Erfinders würden alle Uhren unter­schied­lich gehen, wundert sich ein poten­ti­eller Kunde. Das gilt für diesen Film auch auf poeto­lo­gi­scher Ebene: Viele Anachro­nismen und Stör­mo­mente schälen die Erzählung aus der Historie heraus, schaffen Irri­ta­ti­ons­mo­mente und auch Momente einer wunder­baren, weil unwahr­schein­li­chen Wirk­lich­keit. Wilhelm Sasnal ist auch ein erfolg­rei­cher polni­scher Maler und hat in allen Innen­räumen selbst­ge­malte Replika aufgehängt, vom Plat­ten­cover der briti­schen Band »The Smiths« bis hin zu »The Absinthe Drinker« von Pablo Picasso. Sie tauchen den Film in eine verwun­schene, rätsel­hafte und spre­chende Atmo­sphäre.