Blicke auf die Welt erlebbar machen |
![]() |
|
Da kann man nur den Hut ziehen: Suse Itzels Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht | ||
(Foto: Suse Itzel) |
Von Eckhard Haschen
Dass Dokumentarfilme ein sehr viel differenzierteres Bild von der Wirklichkeit zu zeichnen vermögen als journalistische Formate, ist ja eigentlich nichts Neues. Aber dass man in fünfeinhalb Tagen gleich so viele Werke sieht, aus denen man anders wieder herauskommt, als man hinein gegangen ist, lässt einen dann doch staunen.
»Die Dinge verschwinden. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will.« So geht ein berühmtes Zitat. Und so ist es dem titelgebenden Taxicenter des Pariser Flughafens Charles de Gaulle aus Vadim Dumeshs La Base inzwischen ergangen. Und – fast wäre es diesem zu Unrecht wenig beachteten Film von 2023 ebenso ergangen. Wenn ihn nicht das 17-köpfige Kollektiv der Dokumentarfilmwoche Hamburg entdeckt und zur Eröffnung gezeigt hätte. Auf der betonierten Fläche im Brachland neben dem Flughafen haben die Protagonisten des Films, von denen einer inzwischen verstorben ist, nicht nur auf ihre Fahrten gewartet, sondern einen mehr oder weniger großen Teil ihres Lebens verbracht. Ein Ort des Austauschs zwischen den verschiedenen zumeist migrantischen Communitys war so entstanden, ein über die Jahre gewachsener Lebensraum. Klug kombiniert Dumesh seine eigenen Aufnahmen mit solchen, die seine Protagonist/innen mit ihren Handys gedreht haben.
Einen ganz anderen Nichtort haben Emerson Culurgioni und Stefanie Schroeder für La Duna in der südlichen Küstenregion von Sardinien (wieder-)entdeckt. Einst gehörten dem Großvater des Regisseurs hier größere Ländereien. Seit einigen Jahren hält nicht nur die NATO hier geheime Manöver ab, sondern lassen auch bekannte Automarken ihre Werbespots in der malerischen Landschaft drehen. Nicht einmal die Dünen dort scheinen allen zu gehören: Silvio Berlusconi hat einmal eine gekauft – einige weniger Finanzkräftige stehlen sogar den Sand in Plastikflaschen.
Über Dear Beautiful Beloved, in dem Juri Rechinski und Andrea Wagner nicht die Kampfhandlungen, sondern die Folgen des Krieges für die viele Ukrainer, nämlich Tod und Verzweiflung ins Bild setzen, ist in diesen Spalten schon ebenso ausführlich geschrieben worden wie über The Landscape and the Fury (Landschaft und Wahn) von Nicole Vögele, in dem die Regisseurin in gebotener Distanz Geflüchtete im Grenzgebiet zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina filmt – einem buchstäblich verminten Gelände. Diese, die oben genannten Arbeiten, und auch der ebenfalls gezeigte letztjährige Berlinale-Beitrag Direct Action von Guillaume Cailleau und Ben Russell sollten idealerweise nicht nur von Festivalbesuchern im Kino gesehen werden…
Gleiches gilt ebenso für intimere Filme wie Tempi Passati – Die Zeit, die bleibt, in dem die Schweizer Regisseurin Kristina Konrad, der auch eine Werkschau gewidmet war, ihre Mutter mit vielen kleinen Beobachtungen beim Altwerden begleitet. Oder Brunaupark von Felix Hergert und Dominik Zietlow, die darin die Bewohner/innen eines Gebäudekomplexes in Zürich porträtieren, über dem lange Zeit die Abrissbirne geschwebt hat. Gar nicht erst zu reden von Suse Itzel, die in ihrem 23-minütigen Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht den durch ihren Vater im Alter zwischen 11 und 15 Jahren erlittenen Missbrauch filmisch auf eine Weise verarbeitet, dass man nur den Hut ziehen kann.