08.05.2025

Blicke auf die Welt erlebbar machen

Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht
Da kann man nur den Hut ziehen: Suse Itzels Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht
(Foto: Suse Itzel)

Bei der 22. Dokumentarfilmwoche Hamburg konnte man sich wieder einmal ein Bild von der Dringlichkeit und dem Formenreichtum des gegenwärtigen Dokumentarfilmschaffens machen

Von Eckhard Haschen

Dass Doku­men­tar­filme ein sehr viel diffe­ren­zier­teres Bild von der Wirk­lich­keit zu zeichnen vermögen als jour­na­lis­ti­sche Formate, ist ja eigent­lich nichts Neues. Aber dass man in fünfein­halb Tagen gleich so viele Werke sieht, aus denen man anders wieder heraus­kommt, als man hinein gegangen ist, lässt einen dann doch staunen.

»Die Dinge verschwinden. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will.« So geht ein berühmtes Zitat. Und so ist es dem titel­ge­benden Taxi­center des Pariser Flug­ha­fens Charles de Gaulle aus Vadim Dumeshs La Base inzwi­schen ergangen. Und – fast wäre es diesem zu Unrecht wenig beach­teten Film von 2023 ebenso ergangen. Wenn ihn nicht das 17-köpfige Kollektiv der Doku­men­tar­film­woche Hamburg entdeckt und zur Eröffnung gezeigt hätte. Auf der beto­nierten Fläche im Brachland neben dem Flughafen haben die Prot­ago­nisten des Films, von denen einer inzwi­schen verstorben ist, nicht nur auf ihre Fahrten gewartet, sondern einen mehr oder weniger großen Teil ihres Lebens verbracht. Ein Ort des Austauschs zwischen den verschie­denen zumeist migran­ti­schen Commu­nitys war so entstanden, ein über die Jahre gewach­sener Lebens­raum. Klug kombi­niert Dumesh seine eigenen Aufnahmen mit solchen, die seine Prot­ago­nist/innen mit ihren Handys gedreht haben.

Einen ganz anderen Nichtort haben Emerson Culur­gioni und Stefanie Schroeder für La Duna in der südlichen Küsten­re­gion von Sardinien (wieder-)entdeckt. Einst gehörten dem Großvater des Regis­seurs hier größere Lände­reien. Seit einigen Jahren hält nicht nur die NATO hier geheime Manöver ab, sondern lassen auch bekannte Auto­marken ihre Werbe­spots in der male­ri­schen Land­schaft drehen. Nicht einmal die Dünen dort scheinen allen zu gehören: Silvio Berlus­coni hat einmal eine gekauft – einige weniger Finanz­kräf­tige stehlen sogar den Sand in Plas­tik­fla­schen.

Über Dear Beautiful Beloved, in dem Juri Rechinski und Andrea Wagner nicht die Kampf­hand­lungen, sondern die Folgen des Krieges für die viele Ukrainer, nämlich Tod und Verzweif­lung ins Bild setzen, ist in diesen Spalten schon ebenso ausführ­lich geschrieben worden wie über The Landscape and the Fury (Land­schaft und Wahn) von Nicole Vögele, in dem die Regis­seurin in gebotener Distanz Geflüch­tete im Grenz­ge­biet zwischen Kroatien und Bosnien-Herze­go­wina filmt – einem buchs­täb­lich verminten Gelände. Diese, die oben genannten Arbeiten, und auch der ebenfalls gezeigte letzt­jäh­rige Berlinale-Beitrag Direct Action von Guillaume Cailleau und Ben Russell sollten idea­ler­weise nicht nur von Festi­val­be­su­chern im Kino gesehen werden…

Gleiches gilt ebenso für intimere Filme wie Tempi Passati – Die Zeit, die bleibt, in dem die Schweizer Regis­seurin Kristina Konrad, der auch eine Werkschau gewidmet war, ihre Mutter mit vielen kleinen Beob­ach­tungen beim Altwerden begleitet. Oder Brunau­park von Felix Hergert und Dominik Zietlow, die darin die Bewohner/innen eines Gebäu­de­kom­plexes in Zürich porträ­tieren, über dem lange Zeit die Abriss­birne geschwebt hat. Gar nicht erst zu reden von Suse Itzel, die in ihrem 23-minütigen Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht den durch ihren Vater im Alter zwischen 11 und 15 Jahren erlit­tenen Miss­brauch filmisch auf eine Weise verar­beitet, dass man nur den Hut ziehen kann.