16.11.2023

Cineastische Abrechnungen mit der Kolonialmacht Russland

Theater Cottbus
Eröffnungsabend im Theater Cottbus
(Foto: FilmFestival Cottbus)

Alles so schön blau hier: Das 33. Festival des osteuropäischen Films in Cottbus

Von Katrin Hillgruber

Es sind tatsäch­lich drei­tau­send Einzel­teile, in die Bühnen­ar­beiter eines Berliner Theaters das baufäl­lige Haus einer unga­ri­schen Roma-Siedlung zerlegen und in einen Lastwagen packen. Anschließend wird es als authen­ti­sche Kulisse dem stau­nenden Haupt­stadt­pu­blikum darge­boten, um dann erneut demon­tiert und wieder zurück nach Ungarn gebracht zu werden. Und was ändert sich dadurch für die diskri­mi­nierte Minder­heit vor Ort? Natürlich nichts. Ihre armselige Behausung diente nur als hippes Reenact­ment, um die hiesigen Feuil­le­tons und den blasierten Kultur­ap­parat zu delek­tieren.

Der unga­ri­sche Regisseur Ádám Czászi bedient sich in seinem essay­is­ti­schen Film Three Thousand Numbered Pieces geschickt der sprich­wört­li­chen deutschen Gründ­lich­keit, um den west­eu­ropäi­schen Kultur­be­trieb aufs Korn zu nehmen: Armut und Elend werden zu »woken« Acces­soires »gebranded«. Ob er sie den Geruch von Dreck und Rauch riechen könnten, fragt der deutsche Intendant (Wieland Speck) begeis­tert die Umste­henden, als das gräuliche Steinhaus mit lila Farb­resten endlich auf der Bühne steht: Das sei ohne Parallele in der deutschen Thea­ter­ge­schichte. Während­dessen widmet sich der unga­ri­sche, als »weiß« bezeich­nete Regisseur (gespielt von dem Roma Kristóf Horváth) hinge­bungs­voll der Pflege seines Bartes. Er hat verschie­dene Roma-Laien­schau­spie­le­rinnen und -Schau­spieler profes­sio­nell dazu ange­leitet, ihre jeweilige Lebens­ge­schichte vorzu­tragen. Diese wimmeln voller Kriminal-Klischees, von Schmuggel über Verge­wal­ti­gung und Zwangs­pro­sti­tu­tion bis hin zur Züch­ti­gung der eigenen Kinder. Doch was ist wahr und was erlogen, wer ist hier wirklich wer?

Spätes­tens als ein Cross-Gender-Ballett der ugan­di­schen Armee mit glit­zerndem Kopf­schmuck auftritt, während Gräuel­taten der soge­nannten Kinder­sol­daten an die Wand proji­ziert werden, gibt sich Ádám Czászi als radikaler Anhänger von Bertolt Brechts Verfrem­dungs­theorie zu erkennen. Sein Film hat einen realen Hinter­grund, denn vor vier Jahren wurde er tatsäch­lich ans Deutsche Theater nach Berlin einge­laden: mit einem in Ungarn sehr erfolg­rei­chen Stück und eben jener Roma-Thea­ter­gruppe aus dem Film. Rück­bli­ckend spricht er von einem »Armut­s­porno«, der in Berlin sehr gut ange­kommen sei, da auch Linke bezie­hungs­weise Woke ihre Vorur­teile pflegten. Fünf Jahre habe er warten müssen, um diesen Film reali­sieren zu können, erzählte Császi beim 33. FilmFes­tival Cottbus. Zuvor war er mit seinem schwulen Film Sturmland bei den unga­ri­schen Behörden in Ungnade gefallen.

Rund 150 Film­pre­mieren aus 40 Ländern bot das dies­jäh­rige FilmFes­tival Cottbus, wobei der Begriff »Osteuropa« großzügig Finnland oder die früheren Sowjet­re­pu­bliken Estland, Aser­bai­dschan und Kasach­stan mitein­schloss. Kasach­stan war ein eigener Länder­schwer­punkt gewidmet, in dem zum Beispiel Killer von Darezhan Omirbayev lief. Diese 1998 gedrehte Film-Noir-Perle zeigt, wie die unge­wohnte kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­ord­nung zwei Männer zum Selbst­mord bezie­hungs­weise einem Auftrags­mord drängt.

Cottbus liebt sein Film­fes­tival, das war an allen sechs Tagen zu spüren. Die Menschen strömten in die Vorstel­lungen, ganz gleich, ob es um einen ebenso traurigen wie erhel­lenden Doku­men­tar­film über die mutmaß­lich zerstörten Wand­mo­saike in Mariupol ging (Smoul­de­ring: The Tree of Life von Nadila Myko­lai­enko) oder um Vlad Petris Between Revo­lu­tions, eine kunst­volle Verschrän­kung zweier Frau­en­schick­sale aus Rumänien und dem Iran anno 1979. Der Buka­rester Regisseur, dessen Mutter damals mit einer irani­schen Kommi­li­tonin Medizin studierte, hat in beiden Ländern Unmengen von Material gesichtet. Zu dem fiktiven Brief­wechsel zwischen Bukarest und Teheran aus der Feder der Schrift­stel­lerin Lavinia Braniște montiert er Sequenzen aus staat­li­chen und privaten Film­ar­chiven. Damit paral­le­li­siert er auf verblüf­fende Weise die Instru­men­ta­li­sie­rung von Frauen in einem athe­is­ti­schen und einem radikal reli­giösen System. Between Revo­lu­tions lief auch beim dies­jäh­rigen Rumä­ni­schen Film­fes­tival in München.

Ein breiter blauer Strich auf dem Pflaster verbindet die Cottbuser Spielstätten mitein­ander. Auch das wunder­schöne spät­se­zes­sio­nis­ti­sche Staats­theater des Archi­tekten Bernhard Sehring war zur Eröffnung in die offi­zi­elle Festi­val­farbe Blau getaucht. Unter der gewal­tigen Kuppel im ersten Stock flaniert man unter einer Deko­ra­tion aus Widder­köpfen, dem Jugend­stil­symbol für Frühling und Frucht­bar­keit. Nicht weit davon entfernt liegt das Kino »Welt­spiegel« aus dem Jahr 1911, das erfreu­li­cher­weise wieder voll in Betrieb ist. Im Hauptsaal mit seiner beein­dru­ckenden gewölbten Kasset­ten­decke zog die geor­gi­sche Regis­seurin Nana Janelidze, die als Mitglied der Inter­na­tio­nalen Jury angereist war, mit ihrem Drama Liza, Go On! das Publikum in ihren Bann. In der Titel­rolle ist die Schrift­stel­lerin Ekaterine Togonidze als Fern­seh­re­por­terin Liza bei ihrer rastlosen Fahrt durch Georgien zu erleben. Sie versucht, die wahren Hinter­gründe des blutigen Kriegs mit Abchasien von 1992/93 zu recher­chieren, der auch ihr Leben verändert hat. Dabei arbeitet die Regis­seurin mit animierten Szenen, um die brutalen Schil­de­rungen aus Tage­büchern von Kriegs­teil­neh­mern beider Seiten zu subli­mieren – eine für hiesige Augen gewöh­nungs­be­dürf­tige, wenn auch nach­voll­zieh­bare Methode.

Unter den zwölf Filmen des mit 25.000 Euro dotierten Haupt­wett­be­werbs in der Kategorie Spielfilm (identisch mit der Auswahl für die FIPRESCI-Jury) wagte neben Császis Expe­ri­men­tal­film ebenso Cold as Marble von Asif Rustamov aus Aser­bai­dschan eine schwarz­hu­mo­rige bis maliziöse Satire auf den Kultur­be­trieb. Darin geht es um einen hoch­ta­len­tierten Steinmetz (Gurban Ismayilov), der die Porträts von Verstor­benen in schwarze Marmor­platten hämmert, aber viel lieber Kunst­maler wäre. Er ist als Sohn eines über­führten Mörders und als heim­li­cher Geliebter der Frau eines Olig­ar­chen gleich zweifach benach­tei­ligt. Rustamovs Parabel auf eine Gesell­schaft, in der mit Macht und Geld vermeint­lich alle Probleme gelöst werden können, beschäf­tigt noch lange nach dem Kino­be­such: durch die verschach­telte Erzähl­weise und eine origi­nelle Kame­rafüh­rung. So pflanzt etwa der durch­trie­bene Vater des Stein­metzes auf dem Friedhof Tomaten, obwohl das verboten ist. Nach dem Tod des Vaters verspeist der Sohn genüss­lich eines der Nacht­schat­ten­ge­wächse, was sich in der bewegten Wasser­ober­fläche eines Eimers spiegelt.

Neben dem National-Epos Liza, Go On! komplet­tierten weitere Filme den Triumph Georgiens in Cottbus: Rezo Gigin­eish­vili erhielt den Spezi­al­preis für die beste Regie für sein tragi­ko­mi­sches Hospi­ta­l­epos Patient #1. In einem Klima der Angst bemüht sich das vom Geheim­dienst über­wachte Personal einer Klinik, einen greisen Sowjet­po­ten­taten am Leben zu erhalten. Bis hin zu den Unter­schrifts­mappen, Zimmer­pflanzen und Bake­lit­te­le­fonen erschafft der Regisseur mit seinem phan­tas­ti­schen Ensemble einen hyper­rea­lis­ti­schen Einblick ins Innere einer Diktatur. Ohnehin war die cine­as­ti­sche Abrech­nung der nicht­rus­si­schen Ex-Sowjet­re­pu­bliken mit ihrer einstigen Kolo­ni­al­macht ein ständiges Thema. Einen bezau­bernden geor­gi­schen Nicht-Liebes­film drehte Elene Naveriani mit Blackbird Blackbird Black­berry, der den Preis der Ökume­ni­schen Jury erhielt. Die Haupt­dar­stel­lerin Eka Chav­leish­vili bekam zusätz­lich den Preis für eine heraus­ra­gende darstel­le­ri­sche Einzel­leis­tung, so sehr über­zeugte ihre Inter­pre­ta­tion einer in sich ruhenden 48-jährigen Drogistin auf dem Lande, die wider­stre­bend die erste Liebe erlebt.

Ganz von ihren charis­ma­ti­schen Haupt­dar­stel­le­rinnen geprägt waren ebenso der polnische Film Imago (Regie: Olga Chajdas) und Forever-Forever aus der Ukraine. Imago handelt von einer manisch-depres­siven Sängerin, die mit acht Geschwis­tern in der elter­li­chen Plat­ten­bau­woh­nung haust und vor lauter Beschäf­ti­gung mit ihrem labilen Ego nichts von der Soli­dar­ność-Bewegung mitbe­kommt. Neben der Post-Punk-Musik von Smolik gefielen die sepia­braune »zufällige« Bild­ge­stal­tung und Lena Góra als ketten­rau­chende, allzeit­ner­vöse Verpup­pungs­kan­di­datin (daher der Titel). Der Cottbuser Haupt­preis, gestiftet von der in München ansäs­sigen Gesell­schaft zur Wahr­neh­mung von Film- und Fern­seh­rechten (GWFF), ging an die ukrai­nisch-nieder­län­di­sche Kopro­duk­tion Forever-Forever: Anna Buryach­kova erzählt in den bunten Farben von Werbe­clips vom unge­zü­gelten Leben einer Teenager-Gruppe im Kyjiw der späten 90er Jahre. Als die bild­hüb­sche Tonia (Alina Cheban) auf der Flucht vor ihrem gewalt­tä­tigen Ex-Freund an eine neue Ober­schule kommt, verdreht sie dort gleich zwei jungen Männern den Kopf – mit verhee­renden Folgen. Zu erleben ist eine anar­chi­sche Szenerie, in der weder Eltern noch die Polizei auftau­chen. Sie habe dem ukrai­ni­schen Kino einen Teen­ager­film schenken wollen, erklärte die Regis­seurin. Ein Großteil ihres Filmteams befindet sich mitt­ler­weile an der Front im Kampf gegen den russi­schen Aggressor. Forever-Forever konnte nur durch die Hilfe einer hollän­di­schen Produk­ti­ons­firma fertig­ge­stellt werden.

Die eindrucks­volle Tonia springt im roten Badeanzug in die Fluten des Hallen­bades. In Tudor Giurgius Film Libertate hingegen steht das Schwimmbad von Sibiu/Hermann­stadt leer. Während der blutigen Revo­lu­tion im Dezember 1989 nutzte es die rumä­ni­sche Armee, um im geka­chelten Becken vermeint­liche »Terro­risten« gefan­gen­zu­halten. Er habe sich gegen die ober­fläch­liche Verklärung der Revo­lu­tion in den Schul­büchern wenden wollen, sagt der Regisseur, der mit seinem Tableau Vivant voller meis­ter­lich insze­nierter Massen­szenen eine reale Bege­ben­heit aufar­beitet. Angeregt durch den Film hat auch die rumä­ni­sche Staats­an­walt­schaft die Ermitt­lungen wegen der Gescheh­nisse von Sibiu wieder­auf­ge­nommen.

Mit dem verhaf­teten Poli­zisten Viorel taucht die Zuschauerin, der Zuschauer zum Klang von Maschi­nen­ge­wehr-Salven in ein nicht nur akustisch verwir­rendes, blutiges Revo­lu­ti­ons­sze­nario ein, bei dem bald nicht mehr feststeht, wem zu trauen ist. Mit Libertate gehe Tudor Giurgiu über die Ästhetik der rumä­ni­schen Neuen Welle hinaus, befand die FIPRESCI-Jury. Für Leich­tig­keit sorgte anschließend Rainer Sarnets The Invisible Fight: Ein Kung-Fu-Film, gedreht in einem verwun­schenen estni­schen Kloster, und damit ein weiterer, durchaus schla­gender Beweis für die phan­tas­ti­sche Vielfalt des osteu­ropäi­schen Kinos.