20.04.2023

Tauwetter

Wenn die Kraniche ziehen
Wenn die Kraniche ziehen (1957)
(Foto: Trigon Film)

Mit der Reihe »Die „Nouvelle Vague“ im mittel-, süd- und osteuropäischen Film« erinnert das Theatiner-Kino in München an eine verheißungsvolle Umbruchzeit in Osteuropa

Von Paula Ruppert

Die Bilder, die man sieht, bleiben lange im Gedächtnis. Bilder, die Verzweif­lung zeigen, Krieg, Bruta­lität, aber auch Liebe. Bilder, die mehr beinhalten, als was auf den ersten Blick sichtbar ist. Bilder, die wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wären. Der Film Wenn die Kraniche ziehen des sowje­ti­schen Regis­seurs Michail Kolotozov gilt nicht nur als Meis­ter­werk, sondern auch als der erste große Film der als Tauwetter bekannten Periode, die auf die Stalin­zeit folgte. Die vorher unmöglich schei­nenden Frei­heiten, die plötzlich genutzt werden konnten, führten in der Kunst zu Werken, die so viel­fältig waren, wie das unter Stalin noch undenkbar war; mussten sich da doch sämtliche Kunst­werke in das zu der Zeit geltende ideo­lo­gi­sche Narrativ einfügen – jegliche Abwei­chung war nicht nur unmöglich, sondern auch gefähr­lich.

Wenn die Kraniche ziehen nutzt die neuen Frei­heiten, wendet sich von eindeu­tigen, plaka­tiven und teils monu­men­talen Bildern ab und nutzt die Kamera und die Montage dazu, Eindrücke zu schaffen, die hinter den Bildern stehen; er nutzt die Musik teils prominent, teils subtil dafür, diese Eindrücke zu vers­tärken. Der Film entwi­ckelt eine eigene Sprache, eine eigene Ausdrucks­mög­lich­keit. Doch nicht nur der Film­branche in der Sowjet­union, sondern allen Film­schaf­fenden in Mittel-, Süd- und Osteuropa eröffnete sich zu dieser Zeit plötzlich die Möglich­keit, sich thema­tisch und ästhe­tisch neu zu finden und zu erfinden. Es entstand auch hier eine Nouvelle Vague.

Einen Einblick in diese faszi­nie­rende und viel­fäl­tige Neue Welle des mittel-, süd- und osteu­ropäi­schen Films bietet die Theatiner Filmkunst durch ihre Reihe »Die Nouvelle Vague im osteu­ropäi­schen Kino«. Beginnend am 25.04. mit Wenn die Kraniche ziehen, wird jeden Monat ein Film aus einem anderen Land gezeigt: Neben der Sowjet­union sind auch Polen mit Die unschul­digen Zauberer von Andrzej Wajda (16.05.), die Tsche­cho­slo­wakei mit Tausend­schön­chen von Věra Chytilová (13.06.) und Jugo­sla­wien mit Frühe Werke von Želimir Žilnik (04.07.) vertreten.

Diese Film­aus­wahl ist so viel­fältig wie die Geschichte und Gesell­schaften der Länder und Staa­ten­unionen, in denen sie entstanden. Deshalb wird in jeden Film vorher kurz einge­führt, Umstände und Beson­der­heiten werden erklärt. In Koope­ra­tion mit dem Institut für Slavische Philo­logie der Ludwigs-Maxi­mi­lians-Univer­sität München gestaltet PD Dr. Anja Burghardt diese Einfüh­rungen, die im Rahmen dieser Koope­ra­tion auch ein Seminar zu dieser so reichen Bewegung im Film anbietet.

Auch wenn der Beginn der Reihe mit Wenn die Kraniche ziehen nicht ausge­spro­chen lustig oder positiv ist – denn es handelt sich um einen Kriegs­film –, so wird doch eines deutlich: Die neuen Frei­heiten bringen so viele neue künst­le­ri­sche Möglich­keiten mit sich, dass sofort klar wird, dass diese Filmreihe nur ein Einblick ist. Und es ist ein Einblick, den man unbedingt nutzen sollte.

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Theatiner Filmkunst München
25.04., 16.05., 13.06. und 04.07.2023, jeweils 18:15