16.08.2018

Räche­rinnen der Gerechten – Erlö­se­rinnen der Erlösten?

Tödliche Erlösung: Figuren der Rächerin im aktuellen Kino

Von Frederic Jage-Bowler

Rache ist ein Anachro­nismus. Sie ist infantil und unan­s­tändig, bedient zutiefst archai­sche Triebe, gerade wenn es ums Rächen von Gewalt­taten, die unend­liche Rezi­pro­zität von Gewaltakt und Gegen­ge­walt geht. Schließ­lich gibt es ja das Recht. Das soll für faktische Gerech­tig­keit sorgen. Tatsäch­lich scheint die Rache – blutig, rück­sichtslos, wahnhaft – auf den ersten Blick aus unserem kultu­rellen Reper­toire verschwunden, zurück­ge­drängt von einem rechtlich geord­neten Prozess. Doch lässt sich kaum sagen, die Rache sei wirklich verschwunden. Davon zeugen Ehrenmord und Revenge Porn, soge­nannter »Handels­krieg« und diverse Bürger­kriege, sowie ein nicht enden wollender Strom popkul­tu­reller Ergüsse. Vom alten Rächer-der-Gerechten-Szenario scheinen wir einfach nicht genug kriegen können. Die Rache, in ihrer Rohform vom modernen Staat halbwegs gebändigt, fristet ihr Dasein in Nischen. Dort bedeutet Rache, sich über herr­schendes Recht hinweg­zu­setzen, das Recht selbst in die Hand zu nehmen.

Woher dieser Hang zur Selbst­justiz? Sind Rache und Gewalt logische Konse­quenzen der Kluft zwischen offi­zi­ellem Recht und empfun­denem Unrecht?

Was sich immerhin fest­stellen lässt: Fantasien der Rache und der Selbst­justiz drängen sich auf. Als wäre der Hang dazu in unsere Großhirn­rinde gemeißelt, als löste der Jähzorn in irgend­einer Weise alltä­g­liche Probleme des Über­le­bens und der Repro­duk­tion. Und doch existiert die Rache in Tagträumen weiter. Alleine im Dunklen, den stillen Wahnsinn in mir verber­gend, bereite ich mich vor. Ich denke an Jigsaw, den Dauer-Antago­nisten der Horror­film­reihe Saw, der nicht müde wird seine normative Orien­tie­rung zu betonen: »Wir dürfen nie aus blinder Wut handeln oder aus Rache­ge­fühlen.« Gerech­tig­keit werde herrschen, und zwar, »weil wir für die Toten sprechen«. Menschen sehnen sich nach Genug­tuung, nach Erlösung – in der Tat. Und verbleiben doch stets auf der Ebene der Fantasie.

Das Medium Film scheint in ganz beson­derem Maße von der mensch­li­chen Veran­la­gung zum Rache­gelüst zu profi­tieren. Vom Super­helden-Epos über Rambo-Die-Hard-Action bis zum Revenge Porn kann es unter­schied­lichste Formen annehmen. Zwei Dinge haben diese gemein: einen männ­li­chen Prot­ago­nisten und den Anspruch, der Zuschauer solle stets nach­voll­ziehen können, was vor sich geht. Aha, der rächt sich. Der wurde mal ungerecht behandelt. Ist aber eigent­lich nicht gut.

Zwischen­töne, Ambi­va­lenzen und Dilemmata? Fehl­an­zeige. Wesent­lich komplexer dagegen Aus dem Nichts und Three Bill­boards Outside Ebbing, Missouri. Beide Filme geben ihren weib­li­chen Haupt­fi­guren die Mittel der Selbst­justiz an die Hand und treiben sie damit in den Wahnsinn.

Wie jede filmische Rachefan­tasie wählen die Filme vom Schicksal gebeu­telte Menschen. In Aus dem Nichts erliegen Ehemann und Sohn von Haupt­figur Katja einem rassis­ti­schen Terror­an­schlag. In Three Bill­boards verliert Mildred dagegen ihre Tochter durch einen brutalen und tödlichen Fall sexuellen Miss­brauchs. Zwar ist die tech­ni­sche Heran­ge­hens­weise unter­schied­lich – ein Film kommt als natu­ra­lis­ti­sches Psycho-Polit­drama daher, der andere als sati­ri­sche Studie des Südstaa­ten­mi­lieus – doch beide stellen Fragen der Gerech­tig­keit und der Schuld in den Vorder­grund. Wir beob­achten zwei geschä­digte Frauen auf ihrer Suche nach Genug­tuung. Das klingt irgendwie vertraut – doch anstatt Uma Thurman oder Jigsaw dabei zuzusehen, wie sie das Ausmaß ihrer Gnade in abge­trennten Körper­teilen bemessen (Spoiler: Gnade = Null), hat man sich hier eher mit der Frage befasst, ob es so etwas wie Gerech­tig­keit überhaupt geben kann. Als komplexe Rachefan­ta­sien zeigen sie, worum es wirklich geht. Das ist nämlich keines­wegs das Recht auf Selbst­justiz. Denn was die beiden Filme ausmacht und trotz allem nach­voll­ziehbar werden lässt, ist nicht ihr Fest­halten an einer unbe­dingten Moral, sondern ihr Porträt der Rache als Prozess des Loslas­sens und der Erlösung.

Jemand hat Katjas Sohn und Ehemann an dessen Arbeits­platz in die Luft gesprengt. Zunächst geht die Polizei davon aus, dass Verstri­ckungen ihres Mannes in die migran­ti­sche Unterwelt dafür verant­wort­lich sind. Katja jedoch bestreitet dies vehement. Sie gibt an, die mutmaß­liche Täterin vormit­tags am Tatort beob­achtet zu haben und vertritt eine alter­na­tive These: Katja glaubt an eine rechts­ex­tre­mis­tisch moti­vierte Tat. Doch in der Welt des leitenden Krimi­nal­be­amten ist das unvor­stellbar. Als ihr niemand glauben schenken mag, beschließt sie sich umzu­bringen. Schon mit aufge­schlitzten Pulsadern in der Badewanne liegend, erfährt sie jedoch von ihrem Anwalt auf dem Anruf­be­ant­worter, dass »zwei Nazis« fest­ge­nommen worden sind. Ein Streifen Hoffnung, die Szene endet, wir befinden uns vor Gericht. Katja und ihr Anwalt Danilo sitzen zwei Menschen gegenüber, jung und verhei­ratet. Den leeren Blick starr geradeaus gerichtet und leicht zurück­ge­lehnt posieren diese Nazi-Köpfe mit ihren Nazi-Schuhen und Nazi-Jacken. Ein wasch­echtes Rassisten-Paar also. NSU-Skandal lässt grüßen. Kurz nachdem sich diese für den Film entschei­dende Konstel­la­tion einge­brannt hat, kommt es zum Eklat: Eine Gerichts­me­di­zi­nerin berichtet von den Folgen der Bomben­ex­plo­sion auf die Körper der Opfer. Es ist eine nicht enden wollende Aufzäh­lung von verbranntem und zerfetztem Fleisch, nüchtern und teil­nahmslos im Ton. Katja bittet darum, den Saal verlassen zu können. Es ist unklar, ob es die blutigen Details sind oder die betonte Gleich­gül­tig­keit, die dem Auftritt der Medi­zi­nerin innewohnt, die Katja dazu veran­lasst hat. Kurz darauf fällt Katja über die mutmaß­liche Täterin her, jene junge Frau, die sie ursprüng­lich am Tatort beob­achtet hatte. Wochen vergehen und das Verfahren wird mangels Beweisen einge­stellt. Daraufhin reist Katja nach Grie­chen­land. Danilo drängt auf eine Revision, weist mit staats­tra­gendem Pathos darauf hin, dass »wir diese Bastarde kriegen, das schwör' ich dir!«, und wirkt doch insgesamt weniger an Katja inter­es­siert als an dem, was der Prozess seines Lebens werden könnte. Am Ende sprengt sich Katja gemeinsam mit den Tätern und mit einer selbst­ge­bas­telten Nagel­bombe um den Bauch in die Luft.

Die lange Szene vor Gericht lässt tief blicken ins Innen­leben des Films und das seiner Prot­ago­nistin. Wir sehen Trauer in Wut umschlagen. Bezeich­nen­der­weise passiert das genau in jenem Moment, in dem sich Katjas Entfrem­dung von der rich­tenden Instanz (in Form des Vortrags der Medi­zi­nerin) anbahnt – eine Entfrem­dung, die mit dem Einstellen des Verfah­rens aufgrund der Beweis­lage voll­kommen wird. Regisseur Fatih Akin: »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde, verlöre ich Frau und Kind.« Ohnmächtig vor der Arroganz der Herr­schenden wird Katja nichts anderes übrig bleiben, als selbst zur Tat zu schreiten, die Schul­digen zu bestrafen, kurz: zu retten, was es noch zu retten gibt.

»Das Recht der Menschen, selbst für sich zu sorgen, auch wenn das Gesetz es nicht tut, ist unan­greifbar«, so ein Professor Bigger bei einem Vortrag irgendwo im Süden der USA anno 1867. Und auch wenn Besagter damit wohl keine Selbst­mord­at­ten­tate auf Rassisten gemeint hat, so ist diese Ansicht doch bezeich­nend für den in der US-ameri­ka­ni­schen Kultur sehr stark ausge­prägten Hang zur Selbst­justiz. Three Bill­boards behandelt diesen Sach­ver­halt aus Perspek­tive der starr­sin­nigen Mildred Hayes, die durch ihren Versuch, die einge­fro­renen Ermitt­lungen im Mordfall ihrer Tochter wieder in Gang zu bringen, zu eigen­wil­ligen Mitteln greift: Mildred lässt Werbe­ta­feln aufstellen, auf denen sie den lokalen Poli­zei­chef dazu auffor­dert, endlich jemanden für die Tat zu belangen. Die Logik dahinter ist so dumm nicht. »Je mehr Raum ein Fall in der Öffent­lich­keit einnimmt«, sagt sie einmal, »desto größer die Chance, dass er aufge­klärt wird.« Und tatsäch­lich gelingt es ihr mithilfe dieser unge­wöhn­li­chen Taktik, die ganze Stadt aufzu­scheu­chen. Schon meldet sich Chief Woody – im steifen Hemd und pech­schwarzen Sheriffhut eine makellose Verkör­pe­rung des recht­schaf­fenen, liberalen (und weißen) Amerikas – bei ihr. Er versi­chert, es tue ihm ja leid, dass man den Verant­wort­li­chen nicht geschnappt habe, aber die lokalen Behörden hätten schließ­lich alles gegeben. Es gebe niemanden in der natio­nalen Vorstra­fen­da­ten­bank, der mit der DNA-Spur am Tatort über­ein­stimme. Mildred entgegnet trocken, an seiner Stelle würde sie dem ganzen Land DNA-Proben abnehmen lassen. »Ich glaube, es gibt Bürger­rechts­ge­setze, die das verhin­dern«, antwortet Woody. Ohne sich davon beirren zu lassen, spricht Mildred weiter. An seiner Stelle würde sie den Täter finden und ihn zur Strecke bringen. Dagegen spräche aller­dings ganz sicher ein Bürger­rechts­ge­setz, so der Sheriff.

Das Nicht­ver­ständnis der Gekränkten für Woodys Verweis auf Bürger­rechte und „due process“ erinnert an die Irri­ta­tion diverser Law-and-Order-Politiker, dass Menschen hier­zu­lande tatsäch­lich Rechte besitzen, auch wenn sie Unrechtes getan haben (wir denken ans neue baye­ri­sche Poli­zei­ge­setz). Der Gerech­tig­keits­sinn der Menschen hat eben gerne einen Schul­digen. »Von der „Geier­wally“ bis zum Hamburger Hafen­krimi dreht sich ein unend­li­cher, wirrer, unauf­lös­li­cher Zirkus von Bildern über Schuld, Verant­wor­tung, Leiden, Bedeutung«, schreibt der Bundes­richter Thomas Fischer. Hinzu komme der Medi­en­rummel um immer neue „Sauereien“ und die Über­for­de­rung der Sicher­heits­kräfte. So etwas verstärkt natürlich das Unbehagen am Staat und fördert die Tendenz, das öffent­liche Tragen von Schuss­waffen als Tugend anzusehen. Bürger­wehren, die das Recht einfor­dern, es selbst in die Hand zu nehmen, sind eine Art ohnmäch­tiger Racheakt. Heinrich von Kleist berichtet, sein Michael Kohlhaas – dessen Rechts­ge­fühl übrigens »einer Goldwaage glich« – habe sich im Akt der Selbst­justiz von doppelten Motiven leiten lassen. Er sehnt sich nach »Genug­tuung für die erlittene Kränkung, und Sicher­heit für zukünf­tige seinen Mitbür­gern zu verschaffen.« Es ist also aus Rache und Berufung, dass Kohlhaas einen Klein­krieg vom Zaun bricht.

In allen beschrie­benen Narra­tiven gilt: Recht und die Sehnsucht nach Gerech­tig­keit kommen auf keinen grünen Zweig. Sie sugge­rieren, dass in solch verfah­renen Situa­tionen eine Vermitt­lung zwischen BürgerInnen und herr­schender Ordnung kaum mehr möglich ist. Beiden Filmen ist eigen, dass sie die „starken“ mora­li­schen Männ­er­fi­guren – der Sheriff, Katjas Anwalt (in Kleists Fall gar einen Martin Luther) – beim Versuch scheitern lassen, vernünf­tiges Recht mit emotio­naler Gerech­tig­keit zu vereinen. Was bleibt, ist nicht einmal mehr der Ruf nach Gerech­tig­keit, sondern der nach nackter Schuld.

In beiden Filmen, und das ist das Perfide-Natu­ra­lis­ti­sche an ihnen, richtet sich die Frage nach der Schuld immer schon nach innen. In ihrer hoff­nungs­losen Suche nach „Gerech­tig­keit“ fallen die beiden Prot­ago­nis­tinnen stets auf sich selbst zurück. Indem sie sich die Schuld an ihrem Elend geben (Katja hätte die Nazi-Terro­ristin vorher aufhalten können, Mildred hätte ihrer Tochter bei ihrem letzten Gespräch nicht wünschen sollen, sie möge auf dem Weg zur Party verge­wal­tigt werden), rächen sie sich in Wirk­lich­keit an sich selbst. Stets müssen sie ihr Handeln vor sich recht­fer­tigen, denn sie stehen vor der ewigen Frage: Warum lebe ich und nicht du? Im Falle dieser beiden vom Schicksal getrof­fenen Frauen bedeutet der Rache­feldzug also immer auch das Infra­ge­stellen der eigenen Daseins­be­rech­ti­gung. Nicht in der Lage, diese Hölle zu ertragen, flüchten sie sich in einen Hand­lungs­drang, dessen einzig möglicher Ausgang sich in der – meist tödlichen – Erlösung findet.