12.10.2017

Geschichte »ist«, nicht »war«

Vietnam
Nicht nur eine Erzählung über Leben und Überleben...

Braucht es nach den zahlreichen Dokumentationen und filmischen Meisterwerken eine weitere Dokumentation zum Thema Vietnam? Ken Burns und Lynn Novicks in zehn Jahren entstandene monumentale Abdeckung des Themas lässt nur eine Antwort zu: Unbedingt!

Von Axel Timo Purr

»Ich hab euch einen Engel geschlachtet.«
– Friedrich Schiller, Die Räuber

»The abyss is full
of reality, the abyss expe­ri­ences itself, the
abyss
is alive«

– Denis Johnson, Tree of Smoke

Es ist wahr­schein­lich nicht nur der medial am besten aufbe­rei­tete Krieg des 20. Jahr­hun­derts, sondern auch der hoch­de­ko­rier­teste, mit Meis­ter­werken aus allen Film­gat­tungen, von der Literatur ganz zu schweigen. So zahlreich sind allein schon die Meilen­steine dieses Genres, dass es beim Abspulen der eigenen Erin­ne­rungen schwer­fällt zu unter­scheiden, was doku­men­ta­risch ist und was aus Spiel­filmen stammt, aus Filmen wie In the Year of the Pig (1968), Winter Soldier (1972), Hearts And Minds (1974), The Deer Hunter (1978), Apoca­lypse Now (1979), Full Metal Jacket (1987). Wir waren Helden (2002) The Fog of War (2003), Last Days in Vietnam (2014), das also aus diesem Konglo­merat an Filmen im Laufe der Zeit ein ganz eigener Film entstanden ist, ein Film, der kaum mehr zu deko­dieren und gerade durch die vielen persön­li­chen Geschichten fast so etwas wie zu eigener Erin­ne­rung einge­brannt ist.

Eine weitere filmische Ausein­an­der­set­zung scheint da im ersten Augen­blick nicht nur völlig obsolet, sondern in einer Gene­ra­tion von »Viet­nam­spe­zia­listen« fast ärgerlich. Doch schon die erste Folge von Ken Burns und Lynn Novicks Serien-Saurier belehrt eines Besseren: wann hat man je in diesem Detail­reichtum auch über die Anfänge des Viet­nam­kon­flikts, die fran­zö­si­sche Herr­schaft über das Land, erzählt bekommen?

Aber nicht nur dieser tief in die Historie greifende Anfang über­rascht. Denn schon schnell wird klar, dass Burns, einer der profi­lier­testen Doku­men­tar­filmer Amerikas und in einer Umfrage nach seinem Einfluss auf den Doku­men­tar­film bereits mit Robert J. Flaherty (Nanuk der Eskimo, 1922) vergli­chen, auch in Vietnam auf ein inzwi­schen bewährtes Arsenal an Werk­zeugen zurück­greift, die seine Doku­men­ta­tionen wie Brooklyn Bridge (1981), The Civil War (1990) oder Unfor­givable Blackness (2004) fast so etwas wie zu einem Kanon ameri­ka­ni­scher Geschichte werden ließen.

Auch Vietnam wird deshalb bei nicht verfüg­baren Film­auf­nahmen durch die als Ken Burns-Effekt bekannt gewordene Technik, mittels langsamer Panning- und Zoom-Effekte sowie Über­blen­dungen aus Stand­bil­dern ein Video bzw. eine Diashow zu machen, zum Leben erweckt. Und auch in Vietnam arbeitet Burns ausgiebig mit Musik. Da Vietnam auch ein Krieg der 68er-Gene­ra­tion war, ist dieses Material an Fülle kaum zu über­bieten, doch Burns lässt es wie in seinen anderen Filmen nicht beim bloßen Sound­track, sondern verknüpft die Inhalte der Songs immer wieder akribisch mit der erzählten Geschichte, die auch hier, wenn nicht von Inter­view­part­nern, die zurück­bli­cken, dann von einem Erzähler wieder­ge­geben wird – in der OF-Fassung erzählt Peter Coyote, für den deutsch­spra­chigen Raum Joachim Król.

Und was in diesem Serien-Monument erzählt wird, ist dann tatsäch­lich so über­bor­dend, mitreis­send, berührend, scho­ckie­rend und über­ra­schend, dass nach einem Binge-Watching der deutschen Version eigent­lich nur eine Frage offen­bleibt: warum nur zeigt ARTE eine derartig stark beschnit­tene Version des Originals?

Denn anders als viele der bislang entstan­denen Filme zu dieser Thematik haben Burns und Novick sich die Mühe gemacht, wirklich fast alle nur erdenk­li­chen Seiten dieses Konfliktes zu beleuchten, die Vorge­schichte wie die Nach­ge­schichte, die Haupt­ge­schichte wie auch die vielen, kleinen, aber dennoch wesent­li­chen Neben­ge­schichten. Die große Politik ist genauso Thema wie der ganz normale Alltag. Es werden erschüt­ternd demas­kie­rende, auf Tonband fixierte Dialoge zwischen Außen­minster McNamara und Präsident Johnson genauso präsen­tiert wie die Selbst­zweifel eines jungen Ameri­ka­ners, der dem Grup­pen­druck seines Umfelds trotz massiver Zweifel nachgibt und nach Vietnam geht und für den der Krieg dann weniger schlimm gewesen ist als die 40 Jahre danach, die er sich für seine Schwäche geschämt hat.

Und auch was in den letzten Jahren nahezu in Verges­sen­heit geraten ist, wie stark die 68er-Bewegung auch eine Bewegung gegen Vietnam war, wird von Burns und Nowick erzählt, ohne dabei auch die sozi­o­po­li­ti­schen Entwick­lungen auf Vietnams Seite zu vergessen. Vietnam hält sich dabei schon fast politisch über­kor­rekt an einen Zeitplan, der sowohl der ameri­ka­ni­schen als auch der viet­na­me­si­schen Seite glei­cher­maßen »Mitsprache« einräumt. Politiker aus beiden Ländern kommen – in histo­ri­schem wie aktuellem Material – genauso zu Wort wie Soldaten, Fami­len­an­gehö­rige und die Zivil­be­völ­ke­rung Vietnams und Amerikas. Durch den dyna­mi­schen Wechsel von histo­ri­schem und Gegen­warts­ma­te­rial, das die jeweils Betei­ligten erst als meist junge, kämpfende, dann als alte, reflek­tie­rende Menschen zeigt, gelingt Burns und Novick nicht nur eine Erzählung über Leben und Überleben, sondern erhärtet Burns einmal mehr sein Geschichts­bild, dem er sich verpflichtet fühlt: »The big mistake is that history is back down and the past is gone. History is right now, history is is, not was.«

Vermeiden lässt sich jedoch auch durch diesen fast univer­salen Ansatz nicht, dass die erzählten Geschichten der Ameri­kaner am Ende dann doch die Geschichten sind, die uns in west­li­cher Kultur Sozia­li­sierte wohl stärker berühren, die in ihrem tragi­schen Ausmaß uns nicht nur deshalb näher stehen, weil wir durch unser intuitiv iden­ti­fi­ka­to­ri­sches Sehen in jedem Ameri­kaner auch uns selber sehen, und der ameri­ka­ni­sche Abgrund Vietnams nicht der erste Abgrund unseres Kultur­raums gewesen ist, nein, vor allem ist es wohl das nicht enden wollende Paradoxon des west­li­chen Menschen, dieser trotz hehrer Ideale und mora­li­scher Postulate immer wieder­keh­rende, gnaden­lose Verlust von Unschuld, der uns keine Ruhe lässt.

Vietnam (The Vietnam War, 2017) von Ken Burns und Lynn Novick lässt sich mit einem Fix der Länder­ken­nung des Browsers die OF-Version, und damit alle 10 Folgen in einer Gesamt­länge von 17 Stunden bei PBS streamen. Netflix bietet ebenfalls die Origi­nal­fas­sung in voller Länge zum Stream an, optional mit deutscher Unter­ti­te­lung.