06.10.2017

Nach der Musik jetzt (fast) der Film

Alles, was wir geben mussten
Das bessere Buch: Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield in Alles, was wir geben mussten

Geht der nächste Literatur-Nobelpreis an einen Regisseur? Mit dem Briten Kazuo Ishiguro erhält nach Bob Dylan im letzten Jahr zwar nun wieder ein ausgezeichneter Literat den diesjährigen Nobelpreis für Literatur, aber im Grunde beugt sich das Nobelpreis-Komitee der Tatsache, dass das »reine« Buch eine aussterbende Gattung ist, denn Ishiguros bekannteste Romane sind allesamt auch großartige Filme...

Von Axel Timo Purr

Schon bei Bob Dylan schienen die Festen zu wanken, hinter­ließ die Entschei­dung des Nobel­preis-Komitees, sich vom klas­si­schen Buch zu entfernen, ein äußerst gespal­tenes Echo. Die Entschei­dung, den Nobel­preis für Literatur 2017 an den in Japan geborenen und mit fünf Jahren nach England über­sie­delten Kazuo Ishiguro zu vergeben, scheint zumindest auf den ersten Blick die feind­li­chen Lager wieder zu einen, auch wenn mitunter von einer eher konser­va­tiven, weil apoli­ti­schen Entschei­dung geschrieben wird; hätte es nicht Amos Oz allein schon wegen seiner großar­tigen, zutiefst poli­ti­schen »Geschichte von Liebe und Fins­ternis« oder der ewige Verlierer Ngugi wa Thiong’o weitaus mehr verdient gehabt?

Aber egal. Konser­vativ kann man die Wahl für Ishiguro – wenn überhaupt – nur auf der poli­ti­schen Ebene inter­pre­tieren, denn im Grunde setzt das Nobel­preis­ko­mitee für Literatur den Weg fort, den es mit der Wahl für Dylan begonnen hat, passt es sich den wandelnden Zeiten an. Die wenigsten haben Dylans Texte nur gelesen, sondern gehört und ganz ähnlich verhält es sich mit Ishiguro. Trotz seiner tatsäch­lich faszi­nie­rend kompo­nierten und wunder­schön geschrie­benen Romane dürften die wenigsten seine beiden bekann­testen Werke »Was vom Tage übrig blieb« und »Alles, was wir geben mussten« gelesen haben, sie haben sie gesehen.

Ishiguro hat in Inter­views selbst von seiner Affinität zum Film gespro­chen, hat Dreh­bücher geschrieben, u. a. mit seinem Schrift­stel­ler­kol­legen Alex Garland auch jenes für Alles, was wir geben mussten (2010), für den er auch als ausfüh­render Produzent tätig war. Und es ist ein Film, der dem Buch in nichts nachsteht, in dem der Film über das großar­tige schau­spie­le­ri­sche Trio Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield viel­leicht sogar noch mehr erreicht hat, als der Roman es auf der lite­ra­ri­schen Ebene vermocht hat: denn diese unge­wöhn­liche Alter­nativ- und Repli­kan­ten­ge­schichte geht völlig neue Wege und befreit sich auf fast schon lyrische Art und Weise aus dem gängigen asso­zia­tiven Kanon von Dystopien wie Blade Runner und Children of Men.

Auch die erste große Verfil­mung eines Romans von Ishiguro, James Ivorys Was vom Tage übrig blieb (1993), läßt den Roman schnell vergessen, ist schlichtweg das bessere Buch. Denn Ishiguros subtiler poli­ti­scher Kommentar zum Untergang nicht nur eines Lebens­ge­fühls, sondern einer ganzen Gesell­schafts­form, ließ Ivory nach seinen überaus erfolg­rei­chen E.M. Forster-Verfil­mungen Zimmer mit Aussicht und Wieder­sehen in Howards End noch ein letztes Mal zu Höchst­form auflaufen. Hier stimmte wie Jahre später in Alles, was wir geben mussten, eigent­lich alles: das über­ra­gende Drehbuch von Ruth Prawer Jhabvala, die Regie von Ivory und die schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen von Anthony Hopkins und Emma Thompson.

Es werden sich wie üblich nach einer derar­tigen Auszeich­nung, ein paar mehr Bücher Ishiguros verkaufen, aber ange­sichts der stark rück­läu­figen Zahlen im Buch­seg­ment, werden es weniger sein als noch vor zehn Jahren anläss­lich der Preis­ver­gabe an Doris Lessing. Das eigent­liche Glück liegt deshalb woanders, wird es nun wahr­schein­lich viel schneller gehen, bis endlich auch die anderen großen Romane Ishiguros – sei es sein erster »Damals in Nagasaki« oder sein letzter »Der begrabene Riese« – filmisch adaptiert werden. Aber damit nicht genug. Das Nobel­preis­ko­mitee für Literatur deutet mit diesem Preis noch etwas ganz anderes an: dass es bereit ist, nicht nur Literatur in der Musik, sondern auch Literatur im Film zu hono­rieren, dass also auch der Tag im Oktober kommen wird, an dem einer der großen Film­re­gis­seure den Nobel­preis für Literatur erhalten wird.