15.06.2017

Wie eine Kontur, die im Lauf der Zeit noch an Stärke gewonnen hat...

Lisa Reihana - In Pursit of Venus (infected)
Ein Wunder an Schönheit und Tiefe: Lisa Reihanas Mehrkanal-Videoarbeit »In Pursuit of Venus (infected)«

Es ist wieder einmal die Videokunst, die die Biennale rettet, auch wenn sich das in der Verleihung der diesjährigen Preise nicht ausdrückt. Dafür zeigen verstärkt Hollywood-Größen Interesse, das schauspielerisch bisher neutrale Terrain der Videokunst zu kapern.

Von Axel Timo Purr

Die Angst geht mit. Und das fast einen halben Tag lang. Die Angst, dass dieses Mal wirklich nichts dabei sein könnte, was einem gefällt. Und die Giardini nähren diese Angst. Denn obwohl der deutsche Pavillon den Goldenen Löwen erhält und Anne Imhofs dysto­pi­sche Perfor­mance »Faust« auch nach der langen Wartezeit tatsäch­lich unter die Haut geht, bleibt die wirkliche Begeis­te­rung aus, wird eher die Frage lauter, wie lang sich denn noch ein Künstler nach dem anderen an der NS-Vergan­gen­heit des Pavillons abar­beiten, sie unbedingt brechen will. Denn das ist auch in Imhofs Perfor­mance immanent: ohne den Pavillon und seine Vergan­gen­heit ist sie im Grunde nicht denkbar und damit auf den dann doch ewig gleichen Diskurs reduziert. Ein Diskurs, der viel­leicht erst zur Ruhe kommen wird, wenn ein Künstler den Mut zu einer wirk­li­chen radikalen Lösung, wie etwa den Abriss des Pavillons, hätte.

Aber auch ohne den Ballast der eigenen Vergan­gen­heit ist es scheinbar nicht einfach, sich in den Gärten der Biennale zu behaupten. Vieles wirkt beliebig (Israel), kitschig (Tsche­chien) oder einfach nur artig (Schweiz), und da hilft wie im Fall der Schweiz auch die filmische Dreingabe (Theresa Hubbards und Alexander Birchlers FLORA) nicht weiter. Im Gegenteil. Holland versucht sich mit seinem Pavillon zwar gleich ganz als »Cinema Olanda« zu insze­nieren, die filmi­schen Bits & Bytes wirken jedoch derartig aufge­setzt und dem vermeint­li­chen Zeit­ge­schmack angepasst, dass bei all den »Flüch­tenden« nur die eigene Flucht hilft, mehr noch, als der Hauptfilm – eine 15-minütige ohne Schnitt gefilmte thema­ti­sche Drei­er­se­quenz zu Sozia­lismus, Schwarz­sein und Migration – derartig offen­sicht­lich und gleich­zeitig stüm­per­haft mit dem Expe­ri­men­tellen spielt, dass man den Künstler, Wendelien Olden­borgh, lieber im Nach­sitzen in einer Film­klasse statt auf einer der größten Kunst­messen der Welt sehen möchte.

Moffat

Tracey Moffats »Vigil«

Besser wird es bei den Austra­liern, wo Tracey Moffatt als erste indigene Künst­lerin ihres Landes den austra­li­schen Pavillon mit Stills aus einem nie fertig­ge­stellten Film, falschen Erin­ne­rungen und insze­nierter Historie bestückt; die inter­es­san­testen Arbeiten sind die Film­ar­beiten: eine Zwei-Minuten-Loop eines imaginären Films, der von austra­li­schen Abori­gi­nees im Jahr 1788 gedreht worden sein soll. »The White Ghosts Sailed In« zeigt verpixelt die Bucht von Sydney und hat in seiner sogar­tigen Histo­ri­zität eine fast stärkere Wirkung, vergisst man Moffatts beigelegte absurde Geschichts­um­schrei­bung. Aufre­gender, weil direkt und ohne theo­re­ti­schen Ballast ist hingegen die auf einer Aussend­wand des Pavillons instal­lierte Video­ar­beit »Vigil«, in der Moffatt Filmclips mit Hollywood-Größen wie Elizabeth Taylor, Cary Grant, Julie Christie and Donald Suther­land in Ausschnitte von über­füllten Flücht­lings­booten geschnitten hat. Weil die Stars allesamt in Momenten großer Erregung gezeigt werden, scheinen sie sich stell­ver­tre­tend für eine Zukunft aufzu­regen, die diese Empa­thie­fähig­keit vergessen hat; da sie jedoch auch nur »Schau­spieler« sind und emotio­nale Authen­ti­zität hier mehr als frag­würdig sein dürfte, hinter­fragt Moffatt damit natürlich auch den Betrachter.

Auch die Griechen greifen auf die magische Wirkung schau­spie­le­ri­scher Größe zurück. Ein laby­rin­thi­scher Raum mündet schließ­lich in einer filmi­schen Insze­nie­rung des ersten lite­ra­ri­schen Textes, der sich mit dem Thema Asyl ausein­an­der­setzt, Aischylos Tragödie »Die Schutz­fle­henden«, die mit Charlotte Rampling in einer der Haupt­rollen kaum promi­nenter besetzt sein könnte. So gut funk­tio­niert hier die filmische Realität und ihre Einbet­tung in die Insze­nie­rung des Raums, dass sogar Moffatts intel­li­gentes »Vigil« in Verges­sen­heit gerät. Als mich dann jedoch ein entfernter Bekannter, ein grie­chi­scher Sammler grüßt und sagt, dass sie es diesmal wirklich geschafft hätten, dass die Arsenale schlechter seien als die Giardini, wird mir dennoch Angst und Bange. Denn so gut sich Griechen, Austra­lier und dann auch die Gimmicks der Finnen (Erkka Nissinen & Nathaniel Mellors) auch ansehen – Begeis­te­rung fühlt sich anders an.

Drivas

George Drivas' Neuin­ter­pre­ta­tion von Aischylos Tragödie »Die Schutz­fle­henden«

Kaum betritt man die dunkle Schönheit der Arsenale-Räume, scheint sich die Prophe­zeiung des grie­chi­sche Sammlers zu bestä­tigen: Dezent-Deko­ra­tives hängt neben Platt-Poli­ti­schem und auch der Film schließt sich diesem Kanon an. Ethno­lo­gi­sches Film­ma­te­rial aus den 1970ern (»Rituel en quatre couleurs«) neben einem Video über im Wasser Spielende in einem kolum­bia­ni­schen Fluss aus der Gegenwart (Marco Avila Foreros »Atrato«); Schnee­affen auf der Suche nach ihrer verlo­renen Vergan­gen­heit neben Splatter-Höhlen-Erotik (Pauline Curnier Jardins »Grotta Profunda«); Hale Tengers ästhe­tisch perfekte filmische Luft­bal­lons-auf-Wasser-Instal­la­tion neben Nika Autors Wochen­schau-Exegese und Eisen­bahn­kon­tem­pla­tion »The train of shadows«. Was soll das alles, fragt man sich, und dümpelt weiter wie ein Schiff mit Schlag­seite. Geduckt durch die an zwei gegen­ü­ber­lie­genden Wänden sich ergän­zenden Arbeiten des zweiten deutschen Biennale-Löwen­ge­win­ners, Franz Erhard Walthers, vorbei an Bernardo Oyarzuns Staffage aus Ritual-Masken und einem geor­gi­schen Haus, in dem es regnet, bis es dann, endlich so etwas wie eine Erlösung gibt.

Denn dann tritt man aus dem Dunkel der großen Arsenale-Räume in das zwei­ge­schos­sige Separee, in dem kleinere (Kunst-)Nationen ihre Areale behaupten. Eine davon ist Südafrika. Politisch korrekt teilt sich der schwarze Künstler Mohau Modi­s­akeng die Räume mit der in Berlin lebenden weissen Süad­afri­ka­nerin Candice Breitz. Reflek­tiert Modi­s­akeng mit einer mono­chromen Dreier-Screen-Video­ar­beit und ruhigen, nonver­balen Bildern über Sklaverei und afri­ka­ni­sche Identität, sind Breitz über zwei Räume und sieben Screens gehende Video-Instal­la­tion »Love Story« alles Farbe und Wort. Im ersten Raum sieht man die Schau­spieler Alec Baldwin und Julianne Moore abwech­selnd erzählen. Entspannt, dann aufgeregt und emotional erzählen sie »ihre« Flücht­lings­ge­schichte. Das erinnert ein wenig an Tracy Moffatts VIGIL, mehr noch als nach anfäng­li­chem Stutzen schnell deutlich wird, dass die Hollywood-Stars hier »beileibe« nicht ihre eigene Geschichte erzählen, sondern ein Kompen­dium von Geschichten, ohne das zunächst deutlich wird, woher sie stammen könnten. Gleich­zeitig werden die Geschichten derartig profes­sio­nell und mit über­ra­schenden Brüchen vorge­tragen, dass sie tatsäch­lich berühren und eine Empathie zum Thema Migration beim Betrachter erzeugen, die im gegen­wär­tigen, alltäg­li­chen Migra­ti­ons­dis­kurs keine Entspre­chung hat. Diese Wirkung wird verstärkt, sieht man sich im zweiten Raum mit deutlich kleineren Screens, aber inhalt­lich dem gleichen, grellgrün gehal­tenen Inter­view­raum, konfron­tiert. Hier erzählen die »Quellen«, die Baldwin und Moore reprä­sen­tieren, ihre Geschichten, im »Original«: ungekürzt und mit eigener Mimik und Gestik. Das funk­tio­niert zwar ebenfalls, doch wird schnell klar, das eine medial und von weißen Schau­spie­lern vorge­tra­gene Geschichte die »bessere« und vermeint­lich »authen­ti­schere« Variante ist, um bei einem weißen Betrachter tatsäch­lich Empathie zu erzeugen.

Breitz

Candice Breitz' »Love Story«

Und kaum hat man dieser klugen und groß­ar­tigen Arbeit von Breitz den Rücken gekehrt, und spürt dieses einzig­ar­tige, alles besee­lende Gefühl, was nur gutes Essen und große Kunst auslösen kann, gibt es die nächste Über­ra­schung, mit der viel­leicht nur jene gerechnet haben, die mit Kunst­bi­en­nalen und Museen im Asia-Pazifik-Raum vertraut sind, wo eine erste Fassung dieser Arbeit bereits seit 2015 zu sehen war. Es handelt sich um Lisa Reihanas Mehrkanal-Video­ar­beit »In Pursuit of Venus (infected)«. Reihana, selbst Maori, hat sich zwar immer wieder in ihren Arbeiten mit der indigenen Bevöl­ke­rung, also ihrer eigenen – ethni­schen – Geschichte beschäf­tigt, doch diese nach mehr­jäh­riger Entwick­lungs­ar­beit erar­bei­tete filmische Inter­pre­ta­tion einer Panora­ma­ta­pete, die 1804/05 in Frank­reich entstanden war und die Südsee­reisen von Seefah­rern wie Kapitän Cook illus­trieren sollte, über­trifft diese Arbeiten bei weitem, wohl auch, weil sie eine ungewohnt dichte Folge von Rezep­ti­ons­ebenen erzeugt.

Betritt man den neuseelän­di­schen Raum, ist es am Anfang eigent­lich nur Staunen. Staunen über diese 26 Meter breite Leinwand, die sich zu bewegen scheint. In der nicht die Bilder sich wie im gewöhn­li­chen Film zu bewegen scheinen, sondern die Leinwand selbst von rechts nach links zu rollen scheint. Und mit ihr ein Kalei­do­skop an Geschichten, die über ein virtu­elles Studio die histo­ri­schen, aber trans­for­mierten Tape­ten­mo­tive mit von realen Darstel­lern gespielten Szenen zu Leben erweckt. Vignet­ten­artig werden über dieses faszi­nie­rende Amalgam aus Film und Malerei Momente aus der Zeit vor und nach der europäi­schen Besied­lung Neusee­lands erzählt. Mit den ersten Kontakten zwischen der indigenen Bevöl­ke­rung und den Europäern beginnt Reihana – über einen fili­granen, aber eindring­li­chen Sound­track verstärkt – die impe­ria­lis­ti­schen und zeit­genös­si­schen Klischees über die Ethno­grafie im Pazi­fik­raum zu hinter­fragen. Dies geschieht jedoch derartig subtil und fast schon lyrisch, dass einem bei aller imma­nenter Kultur­kritik das Staunen über die Schönheit dieser Arbeit nicht vergehen will. Ein Trailer von Reihanas Arbeit ist inzwi­schen auch online einsehbar, gibt aller­dings nur eine Ahnung davon, was diese Arbeit alles ist und sollte keines­falls den Weg nach Venedig ersetzen. Denn Reihanas »In Pursuit of Venus (infected)« im Original anzusehen, lohnt allein schon den Weg nach Venedig, so beschwer­lich er im Sommer oder Herbst inzwi­schen auch sein mag.

Reihana

Lisa Reihanas Mehrkanal-Video­ar­beit »In Pursuit of Venus (infected)«

Und wer sich auf den Weg macht, wird gleich auch noch ein weiteres Mal belohnt, denn nur unweit des neuseelän­di­schen Pavillons befindet sich, fast am Ende der Arsenale, ein kleiner, unschein­barer, turm­ar­tiger Raum, in dem eine Arbeit eines der Pioniere der Video­kunst zu sehen ist, eine Arbeit, die online zwar zu finden, aber nur in mangel­hafter Qualität anzusehen ist: Bas Jan Aders »Broken fall (organic)« von 1971. Ein kleines Juwel, das auch heute noch aufregend und innovativ anzusehen ist und selbst nach den groß­ar­tigen, so viel elabo­rier­teren Arbeiten von Breitz und Reihana weit mehr als wie ein Schatten aus der Vergan­gen­heit wirkt, sondern eher wie eine Kontur, die im Lauf der Zeit noch an Stärke gewonnen hat. Und die dazu anregt, diesen Künstler, der 1975, erst 33-jährig, mit seinem Segelboot verschollen ging, neu zu entdecken.

Die 57. Inter­na­tio­nale Kunst­aus­stel­lung, La Biennale di Venezia, findet vom 13. Mai – 26. November 2017 statt.