11.05.2017

Tod einer Schülerin

13 Reasons Why
Es gibt nicht nur eine Wahrheit...

Netflix' bislang erfolgreichste Serie »Tote Mädchen lügen nicht« sieht sich wie ein K.o.-Schlag gegen das Jugendkino, ist großartig geschrieben und umgesetzt und wird von einem Medienrummel begleitet, den die Serie auch verdient hat – bei dem aber zumindest in Deutschland vergessen wird, dass es das alles vor 36 Jahren schon einmal gegeben hat, als Claus Peter Witt und Robert Stromberger mit ihrer Schüler-Suizid-Serie »Tod eines Schülers« Fernsehgeschichte schrieben

Von Axel Timo Purr

Jetzt spiegeln auch die deutschen Medien von Gala bis Spiegel die Bedenken, die in den letzten Wochen seit dem welt­weiten Start der Netflix-Serie »Tote Mädchen lügen nicht« (Original: »13 Reasons Why«) im anglo­spra­chigen Raum immer stärker eskaliert sind. Von Diskus­si­ons­ver­boten an Schulen über herauf­ge­setzte Alters-Ratings bis zu Eltern­in­itia­tiven und psycho­lo­gi­schen Bera­tungs­stellen, die vor einem »Werther-Effekt«, also einer Nach­ah­mung des in der Serie darge­stellten Selbst­mordes und vor Verge­wal­ti­gungs­szenen warnen. Netflix sah sich deshalb gezwungen, vor drei der dreizehn Folgen Warnungen zu stellen, die darauf hinweisen, dass es sich hier mögli­cher­weise um trau­ma­ti­sie­rende Inhalte handelt. Das ist im Amerika der letzten Jahre nichts Neues, wird inzwi­schen selbst an den Film­klassen der Univer­sitäten eine »politisch korrekte« Moral einge­for­dert und sollen glei­cher­maßen Studenten wie Profes­soren durch »Trigger Warnings« geschützt werden: die Studenten, um Trau­ma­ti­sie­rungen durch die gezeigten Filme vorzu­beugen und ihre Profes­soren, um gegen mögliche Klagen ihrer trau­ma­ti­sierten Studenten gewappnet zu sein.

Dass nun auch die deutschen Medien auf diesen Zug aufspringen und versuchen, für diese »Thematik« zu »sensi­bi­li­sieren«, ist ärgerlich und zeigt nicht nur, wie konse­quent jeder vom anderen abschreibt, sondern auch, wie schwach einmal mehr das Geschichts­be­wusst­sein ausge­prägt ist. Denn nur ein kurzer Blick in die deutsche TV-Seri­en­ge­schichte sollte Erin­ne­rungen an einen der größten Serien-Erfolge des ZDF wecken, den 1981 unter der Regie von Claus Peter Witt und dem Drehbuch von Robert Strom­berger ausge­strahlten 6-Teiler »Tod eines Schülers«. Ähnlich wie in »Tote Mädchen lügen nicht«, versuchten auch Witt und Strom­berger einem multi­per­spek­ti­vi­schen Ansatz des Schü­ler­sui­zids Raum zu geben und allzu einfache, stereo­type Erklä­rungen zu vermeiden. Trotz guter Kritiken und vom ZDF in Auftrag gegebener Studien, die nach­wiesen, dass ein Zusam­men­hang zwischen der Fern­seh­serie und den gehäuften Selbst­morden von männ­li­chen Jugend­li­chen nicht nach­weisbar sei, musste sich das ZDF den heftigen Protesten der Eltern­ver­bände beugen und durfte erst 2009 die Serie auf DVD veröf­fent­li­chen. [1]

Soweit dürfte es bei Netflix zum Glück nicht kommen, denn wie rigide Moral­vor­stel­lungen auch sein mögen, ist Netflix mit seinem globalen Geschäfts­mo­dell nicht von nur einem kultu­rellem Raum abhängig. Doch weitaus wichtiger dürfte sein, dass »Tote Mädchen lügen nicht« berech­tig­ter­weise den Finger in eine Wunde legt, um die sich weder in Amerika noch in Deutsch­land irgendwer zu scheren scheint, denn sowohl in den USA als auch in Deutsch­land ist Suizid weiterhin die zweit­häu­figste Todes­ur­sache unter Jugend­li­chen.

Doch allein den Finger auf eine Wunde legen reicht kaum aus, einen dermaßen komplexen und tabui­sierten Tatbe­stand erfolg­reich zu thema­ti­sieren. Ähnlich wie in der inno­va­tiven, ebenfalls auf ein jugend­li­ches Ziel­pu­blikum ausge­rich­teten Netflix-Produk­tion The OA von Brit Marling und Zal Batman­glij, geht Netflix deshalb auch in »Tote Mädchen lügen nicht« den denkbar radi­kalsten Weg, um Krea­ti­vität frei­zu­setzen: die schon komplexe, aber kurze lite­ra­ri­sche Vorlage von Jay Asher wurde von Pulitzer-Preis­träger Brian Yorkey im Kern zwar belassen wie sie ist, geht im Detail aber weit über das Buch hinaus. Anspie­lungen auf andere filmische Schul-Mikro­kosmen wie etwa Judd Apatows Freaks & Geeks oder Glee hinter­fragen eigene Seh- und Rezep­ti­ons­ge­wohn­heiten, musi­ka­li­sche Zitate von Joy Division oder Elliott Smith deuten an, wie klug und akribisch der Plot nicht nur über den Sound­track erweitert wird, sondern der Sound­track auch als Brücke fungiert, um die Eltern­ge­ne­ra­tion der Kinder zu erreichen, deren Geschichten hier erzählt werden.

Unter anderem unter der Regie von Tom McCarthy, der zuletzt mit Spotlight bril­lierte, reihen sich diese Geschichten vor allem um eine zentrale Geschichte: den Selbst­mord der 17-jährigen Hannah Baker (Katherine Langford). Auf Kassetten, die sie vor ihrem Selbst­mord bespro­chen hat, zählt sie »13 Gründe« für ihren Selbst­mord auf, die identisch mit 13 Personen aus ihrem näheren College-Umfeld sind. Diese 13 Geschichten, die in 13 Folgen erzählt werden, besitzen jedoch nicht nur Hannah als erzäh­le­ri­schen Anker, sondern auch Clay Jensen (Dylan Minnette), der in Hannah verliebt war und dem ebenfalls eine Kasset­ten­seite gewidmet ist. Mit Clay setzt die Geschichte auch ein, als er zwei Wochen nach Hannahs Tod die bespielten Kassetten erhält, mit der Erklärung, sie anzuhören, um sie danach, gleich einem Ketten­brief, an den nächsten »Betrof­fenen« weiter­zu­geben.

Die Handlung deutet bereits an, dass eine derartige Geschichte nur schwer linear erzählt werden kann, dass genauso wenig wie es »eine« Wahrheit gibt auch nur »eine« einheit­liche Geschichte mit nur »einem« Ende erzählt werden kann. Und nicht nur das, werden mit den ständigen Brüchen zwischen den analog-histo­ri­schen, thera­peu­ti­schen Erzähl­se­quenzen von Hannah und der digitalen, das Mobbing und Miss­ver­s­tänd­nisse vers­tär­kenden digitalen Kommu­ni­ka­tion der erzäh­le­ri­schen Gegenwart weitere Rezep­ti­ons­ebenen einge­flochten, gibt es genauso vers­tö­rende und kris­tall­klare Charak­ter­stu­dien der Eltern wie die ihrer Kinder, wird nicht wie sonst im Jugend­film, mit Humor, Ironie oder Blödelei die Vers­tö­rung aufge­fangen, sondern das »kaputte« Umfeld Schule und eine »kaputte«, an Gender­s­te­reo­typen und Einkom­mensun­gleich­heiten krankende Gesell­schaft bis zum Ende unter den Rädern gelassen, wird scho­nungslos ausbuch­sta­biert, wie selten die eigene Sicht mit der Realität der Anderen korre­spon­diert, so scho­nungslos, dass es Folgen gibt, die vor Inten­sität derartig vibrieren, dass man kaum mehr hinsehen möchte, gleich­zeitig aber Brian Yorkey und Tom McCarthy immer wieder dafür danken möchte, etwas so Grausames so schwin­del­erre­gend gut umgesetzt zu haben. So, wie es sich im Kino wohl kaum ein Regisseur mit einem derar­tigen Ziel­pu­blikum trauen würde.

Dass man sich also durchaus trauen darf, radikal zu sein, dass man auch von einem jugend­li­chen Publikum mehr erwarten darf, als das es sich nur im Kreise drehende Fran­chises im Kino ansieht oder gleich ganz vom Kino abwendet wie die jüngeren Leser von gedruckten Tages­zei­tungen, beweist der Erfolg von »13 Reasons Why«: die Serie akku­mu­lierte seit ihrem Start am 30. März nicht nur mehr Tweets als jede andere Netflix-Serie bisher, sondern ließ auch die Follower-Raten ihrer Haupt­dar­steller in astro­no­mi­sche Höhen schießen.

[1] Jüngere Studien als die des ZDF wie die von Jane Pirkis und R. Warwick Blood (2001) kommen zu der Fest­stel­lung, dass es zwar Nach­ah­mungs­ef­fekte bei Suiziden gibt, aller­dings fallen sie bei der Bericht­erstat­tung realer Fälle höher aus als bei fiktio­nalen Suiziden. Kriti­siert wird von etlichen Forschern zudem die grund­sätz­liche Annahme eines reinen Kausal­zu­sam­men­hangs. Robert D. Goldney etwa stellte die Beziehung zwischen Medien­be­richten und Suiziden zwar nicht in Frage, warnte aber davor Medien zum »Sünden­bock« zu machen. Vielmehr seien andere Risi­ko­fak­toren wie psychi­sche Störungen mitur­säch­lich. (Quelle: Wikipedia)