16.05.2013

Die Visionen des Realen der Außen­seiter und Einzel­gänger

Don Ca von Patricia Ayala Ruiz
Heiterkeit am gesellschaftlichen Rand:
Don Ca von Patricia Ayala Ruiz

Das Schweizer Dokumentarfilmfestival Visions du Réel offeriert erneut ein starkes Wettbewerbsprogramm

Von Dieter Wieczorek

Das Panorama des Wett­be­werb­pro­gramms in Nyon ist weit gefächert. Unter die eingän­gigen, linearen und scheinbar einfachen Doku­men­tar­filme zu rechen ist der israe­li­sche Beitrag 10% Yoav Shamirs. Doch um zugleich einfach und eindring­lich, infor­mativ und amüsant zu sein, bedarf es einer eigenen Kunst. Ausgangs­punkt ist die Frage des Filme­ma­chers, wie jemand zum Held wird, anders gesagt, wie jemand die Kraft und Fähigkeit entwi­ckelt kann, ethische und mora­li­sche Werte auch unter Lebens­ri­siken aufrecht zu erhalten. Antworten sucht er zu finden bei Psycho­logen, Biologen, Kultur­spe­zia­listen und Gentech­no­logen, die jeweils vor der Kamera Revue passieren, um ihre Ansätze zu erläutern. Auch einige „Helden“, die z. T. wider Willen zu solchen wurden, kommen mit ihrem fami­liären Umfeld ins Bild, um hier mögliche Hinweise zu finden. Das Road Movie zu den Antworten ist ebenso dynamisch wie unter­haltsam, wirft wirkliche Fragen auf, die jeder mit sich allein ausmachen muss. Eine defi­ni­tive Antwort ist gewiss nicht zu erwarten, doch eine Zwischen­an­sicht kris­tal­li­siert sich langsam heraus: der heroische Akt ist im engeren Sinn kein selbst­loser, da es das Indi­vi­duum in sich selbst bestätigt, und dies mit Lust­ge­winn. Gern würde man diesen Film als Schul­un­ter­richt­stoff sehen. Diskus­si­ons­ma­te­rial bietet er genug.

Don Ca der kolum­bia­ni­schen Regis­seurin Patricia Ayala Ruiz handelt ebenfalls von Außen­sei­tertum, ist jedoch weit weniger heiter angelegt. Sie folgt dem Schicksal eines Mannes, der sich zurück­ziehen wollte in einen fried­vollen, einfachen Ort, para­die­sisch am Pazifik gelegen. Dort ist er angesehen und geachtet, lebt über Jahre hinweg in harmo­ni­schen Bezie­hungen mit Nachbarn und Natur. Nun aber droht seine Welt langsam im Bürger­krieg zu versinken, perver­tiert sich in eine bedroh­liche Realität, gekenn­zeichnet durch unkal­ku­lier­bare Risiken. Ist hier noch Wider­stand zu leisten? Besten­falls eine würde­volle Haltung. Ruiz gibt den Selbst­re­fle­xionen dieses Mannes an der Grenze zweier Kulturen breiten Raum, beob­achtet seine alltäg­li­chen Gesten, die noch immer geprägt sind von der Anmut eines möglichen harmo­ni­schen Lebens.

In Abge­schie­den­heit, genauer in einem Getto, leben auch vertrie­bene paläs­ti­nen­si­sche Flücht­linge in Damaskus. Bereits in der dritten Gene­ra­tion ist ihr fakti­scher Lebens­ho­ri­zont auf ein – nicht einmal offi­zi­elles – Lager beschränkt. Mit der Außenwelt nur über das Internet verknüpft, doch Bestens auf dem Laufenden, geben diese Einge­pferchten ihre verlo­renen Hoff­nungen und Iden­ti­täten der Kamera preis, ihre über­wor­fenen Rollen als Opfer oder Wider­s­tän­di­sche oder als Parti­zi­panten einer größeren Bewegung einge­schlossen. Sie kriti­sieren die us-israe­li­schen und paläs­ti­nen­si­schen Lager glei­cher­massen. Sie alle tragen Verant­wor­tung, dass ihre Lebens­si­tua­tion zu einem morbiden Still­stand einge­froren ist, in dem das Tages­ge­schäft sich auf gegen­sei­tige Beob­ach­tung beschränkt. In der fran­zö­si­schen Produk­tion Les Chebabs de Yarmouk nimmt sich Axel Salvator-Sinz Zeit, den zumeist verschla­fenen Alltag dieser „Einsit­zenden“ einzu­fangen. Mit einigen unter ihnen verbinden ihn lange Freund­schaften.

Zur Aussen­sei­terin wird auch eine zehn­jäh­rige, in Russland heran­ge­wach­sene Tochter in dem Moment, da sie ihrem asabai­dscha­ni­schen Vater in sein Heimat­land folgt. An liebe­voller Aufnahme fehlt es in dem abge­schiednen Bergdorf im Kaukasus nicht. Doch in dieser herben, länd­li­chen, von martia­li­schen Ritualen geprägten Umgebung wird die behütete, zarte Seele des Mädchen zuweilen über­for­dert. In der russisch-asabai­dscha­ni­schen Kopro­duk­tion My Kit hand Kin schafft Rodion Ismailov ein stilles, beob­ach­tendes Porträt einer Jugend­li­chen an der Grenze des Erwach­sen­wer­dens als ein nicht immer untrau­ma­ti­scher Prozess. Durch die fremde Sprache zur Kommu­ni­ka­ti­ons­lo­sig­keit verdammt, sind es lediglich die Gesten und Blicke, die Hinweise auf das Innen­leben der jungen Umher­schwei­fenden geben können. In diesen Schwei­ge­raum dringt der Filme­ma­cher nicht mit Fragen ein.

Ein einzelner Arbeitstag, eine Nacht­schicht, irgendwo in einer Fisch­fa­brik: ein Mann mit einem Gesicht wie aus einem David Lynch Film geht in medi­ta­tiver Konzen­tra­tion seiner Arbeit nach, stellt Gerät­schaften für den nächsten Arbeitstag bereit und säubert die Arbeits­räume. Die Kamera beschränkt sich auf die Aufzeich­nung der Klänge und der Struk­turen zwischen den Dingen. Wenn am Morgen der maschi­nelle Arbeitstag der Fisch­ver­wer­tung mit brachialer Gewalt beginnt, zieht sich dieser Mann an die Ober­fläche des anbre­chenden Tages zurück und beob­achtet Vögel. Kommu­ni­ka­tion ist nicht seine Stärke. Sein Leben scheint verhaftet in eine statische Chro­no­logie der ewigen Wieder­kehr. Gleich­zeitig erscheint er in seiner Margi­na­lität wie ein in sich ruhendes Kraft­zen­trum, das sich gegen die Barbarei des alltäg­li­chen Tötens behauptet. Er markiert keinen Wider­stand, jedoch Ferne und Unzu­gäng­lich­keit, einem Reptil gleich, das einer anderen Zeitzone entstammt. In diesem beein­dru­ckenden Porträt der us-ameri­ka­nisch-kana­di­schen Kopro­duk­tion Night Labor schaffen David Redmon und Ashlev Sabin einen nach­klin­genden Beitrag zur Würde der Anders­ar­tig­keit. Der Film wurde in Nyon mit einer spezi­ellen Erwähnung »der Jury geehrt.«

Die einmalige Begegnung eines talen­tierten Filme­ma­chers mit einer vitalen, humor­vollen 100jährigen Dame führte zu dem mitreis­senden Porträt Omsch des Öster­rei­chers Edgar Honet­schläger. Seinen naiven Fragen begegnet die Dame mit grosser Souver­änität. Von diesem alter­süber­grei­fenden Austausch profi­tieren beide Partner und der Zuschauer, dem hier ein eindring­li­ches Beispiel ener­gie­ge­la­denen Alterns geboten wird. Für den Filme­ma­cher war die Dame war zu Anfang nur eine zufällige Nachbarin, doch bald wird sie zur vertrau­li­chen und vertrau­enden Partnerin, nicht weise, sondern neugierig, nicht zynisch, sondern kokett. Ein Film der Mut macht, ohne mit Verschö­ne­rung und Pastiche zu arbeiten.

Den wohl eindring­lichste Film, zurecht bedacht mit dem grossen Preis der Jury, brachten Jan Gassmann und Ramõn Giger nach Nyon. In dessen Zentrum steht das Eltern­paar Ramõns: seine fragile und zärtliche Mutter und der welt­be­kannte Violinist Paul Giger, der sich nur zögernd den sehr persön­li­chen Fragen seines Sohnes öffnet, der seiner­seits die Traumata einer einsamen Jugend zu über­winden sucht. Langsam nur nähern sich die beiden kompli­zierten Gemüter einander an, letztlich über die Aner­kenntnis ihrer künst­le­ri­schen Kapazität. Der Sohn weis sehr wohl um den unver­meid­baren Konflikt zwischen einer notwendig auf sich bezogenen Künst­ler­exis­tenz und den alltäg­li­chen Verpflich­tungen seines Vaters, meidet jeden Vorwurf, und fragt doch nach dem, was viel­leicht zu vermeiden gewesen wäre, wie etwa die Scheidung seiner Eltern. Hier konfi­gu­riert sich eine weitere tragische Situation: das Ausein­an­der­reissen eines sich eigent­lich liebenden Paares, um Überleben und Atmen zu können. Langsame Kame­ra­fahrten, lange Einstel­lungen und die subtile Einbin­dung musi­ka­li­scher und perfor­ma­tiver Sequenzen des Violin­spiels seines Vaters kenn­zeichnen dieses schwei­ze­ri­sche Werk, dessen Anlass eine Kompo­si­tion ist, die Paul Giger seinem Sohn bei seiner Geburt widmete und die nun aufge­führt werden soll. Jan Gassmanns und Ramõn Gigers Werk ist ein beein­dru­ckender, viel­schich­tiger Film, der sich mit der Unaus­weich­lich­keit des Schmerzes und der Ferne selbst in den engsten Bezie­hungen konfron­tiert, ein Film über das fremd­ar­tige Oszil­lieren zwischen kosmi­schen Einsichten und dem Versagen im alltäg­li­chen Detail, ein Film über die Kunst und den Preis, der für sie zu zahlen ist. Karma Shabub (Tanzender Stern auf tibe­ta­nisch) – zugleich einer der Vornamen Ramõn Giger – ist ein Rausch der Schönheit und Subti­lität, eine Ode an die Komple­xität des Lebens.