14.07.2011

Das Kino hat die Kunst geschluckt

The Clock
Christian Marclay’s The Clock

Kino einmal anders – auf der 54. Kunstbiennale in Venedig

Von Axel Timo Purr

Venedig kann einem ganz schön zum Hals raus­hängen. In der Hoch­saison, die inzwi­schen fast das ganze Jahr andauert, drängen sich die Massen durch ein disney­ar­tiges Muse­ums­dorf wie die Schweine auf dem Weg zur Schlacht­bank. Filme sind vor der Glit­zer­ku­lisse inzwi­schen fast generell zum Scheitern verur­teilt – die Stadt radiert wie ein schwarzes Loch einfach alles aus: Plot, Schau­spieler, Regie­künste – das letzte Opfer sind André Téchiné und seine Impar­donnables. Und wären nicht die maroden Seiten­gassen, die an die düsterste sozia­lis­ti­sche Immo­bi­li­en­end­zeit erinnern und genau den Bruch erzeugen, den eine lebende Stadt ausmacht, wäre Venedig keine Reise mehr wert.

Und wäre da nicht die alle zwei Jahre statt­fin­dende Kunst­bi­en­nale, die wie eine Taucher­glocke im Fäka­li­en­sumpf etwas anderes bietet als die Repro­duk­tion von Massen­t­raum­bil­dern und Erwar­tungs­hal­tungen. Natürlich muss man auch hier verdrängen, vor allem zur Eröffnung, wenn sich die Reichen und Schönen ein Stell­dichein geben und die vermeint­liche Unab­hän­gig­keit der Kunst in ihre Schranken weisen; wenn die Ansamm­lung an Yachten eine derartig groteske Ange­ber­dichte aufweist, dass sogar der letzte Konser­va­tive terro­ris­ti­sche Anwand­lungen bekommt und nur noch schießen und bomben möchte, um die Welt endlich vom Unrat der unge­rechten Vertei­lung des Kapitals zu befreien.

Aber die Yachten können nicht auf Land fahren und die Geräusche der Partys auf Peggy Guggen­heims Samm­lungs­dach verebben auch schon eine Straßen­ecke weiter und dann ist eigent­lich wieder fast alles gut. Denn auch die Massen wollen eigent­lich nur das Museum Venedig sehen, nicht aber die Arsenale, die Giardini und die vielen von Künstlern und Nationen ange­mie­teten vene­zia­ni­schen Paläste und Häuser, in denen es nicht nur Kunst vor schöner Kulisse gibt, sondern auch Kino vor nichts. Denn die Kulisse ist, muss auch hier schwarz sein, auch wenn es im Grunde nicht Kino heißt, sondern Video­kunst. Aber die seit den frühen 1960ern erstmals hinter dem Wort Video auftau­chende Kunst ist auf der 54. Biennale irgendwie verschluckt worden. Denn im Zentrum der gezeigten Video­ar­beiten stehen weniger Expe­ri­mente mit dem Medium, Synthesen von Film und Raum, selbst­re­fe­ren­ti­elle Gedan­ken­spiele oder Meta­re­flek­tionen aus Technik- und Inhalts­vi­gnetten. Statt­dessen domi­nieren die narra­tiven Elemente, werden Geschichten erzählt, gibt es immer wieder großes Kino zu bestaunen, das gerade durch die Ingre­dienz Kunst – es einfach einmal anders zu versuchen – eine Gewürz­note erhält, die erfri­schend und aufregend ist, aber fast nie dominiert.

Das einzige Problem ist die Zeit. Denn Video­kunst steht irgendwie fast immer im Weg. Zumindest steht sie in keinem Verhältnis zu dem Tempo, mit dem ein jeder durch Ausstel­lungen eilt. Vor einer Licht­in­stal­la­tion zu flüchten, einem wirren Gemälde, einem nichts­sa­genden Potpourri aus Schränken steht in keinem Verhältnis zu einer halben Stunde Film – eine Tempo­ver­lang­sa­mung gelingt da nur in den seltensten Fällen. Immerhin ist diese schwie­rige Hürde am einfachsten in Venedig zu nehmen, denn wer will schon früh­zeitig aus der Taucher­glocke steigen, um auf der Schlacht­bank zu enden oder in Fäkalien zu ertrinken?

Deshalb also möglichst tief und lang hinab. Und wer es mag und den selbst­re­fe­ren­ti­ellen- und beweih­räu­chernden Beige­schmack der Haupt­räume des schlin­gen­sief­schen Altars im deutschen Pavillion scheut, sollte auf die hinteren Neben­räume und eine filmische Werkschau des vor einem Jahr verstor­benen Künstlers auswei­chen. Nicht der schlech­teste Anfang.

Aber nicht nur die Toten, auch die Lebenden, haben provo­zie­rende, aufre­gende Geschichten zu erzählen. Etwa nicht weit von Schlin­gen­sief entfernt, in einem finsteren Unter­ge­schoss des inter­na­tio­nalen Pavil­lions der in Berlin lebende, israe­li­sche Künstler Omer Fast. Sein Five Thousand Feet Is The Best (2010) ist ein virtuos gemischtes Video, dass Inte­view­se­quenzen mit dem Remote-Piloten einer Kampf­drohne als Rahmen für wunderbar erzählte Geschichten benutzt, die einen voll­kommen unbe­kannten Sog entfalten, weil sie in einem Niemands­land von persön­li­chen Betrof­fen­heit und poli­ti­scher Entrüs­tung navi­gieren. Ein irrer Trip, der auch film­tech­nisch- und ästhe­tisch absoluter Hoch­ge­nuss ist!

Ein wenig ruhiger geht es bei den Öster­rei­chern und Markus Schinwald zu. Stumme Geschichten in einem leer­ste­henden Fabrik­ge­bäude, in denen die Prot­ago­nisten von Orient (2011) weniger eine Beziehung unter­ein­ander als mit der Archi­tektur der verwaisten Räume eingehen. Was in deskrip­tiven Worten wenig aufregend klingt, ist filmisch – und erzäh­le­risch – jedoch genauso aufregend wie eine andere wunderbar stille Arbeit, Elad Lassrys Untitled (Ghost) (2011). In die Proben einer Ballett­truppe spielt sich eine semi­per­me­able Ballerina ein, unzwei­fel­haft eine Geistin, die nur vom Betrachter, nicht aber von den anderen Tänzern wahr­ge­nommen wird. Auch ohne Lassrys Referenz auf die Tradition der „Geis­ter­fo­to­grafie“, die seit den Anfängen der Foto­grafie existiert, kann diese Arbeit gerade wegen ihrer geis­ter­haften Stille mühelos dem Impuls weite­reilen zu müssen, wider­stehen.

Überhaupt die Stille. Gebe es nicht die doku­men­ta­ri­schen Arbeiten des Algeriers Mohamed Bourouissa, der in Boloss eine Spiel­hölle erkundet oder Ahmed Bassiounys letzte Aufnahmen über den Aufstand in Ägypten (bevor er selbst erschossen wurde), bleibt es meist ruhig. Selbst die von Tomislav Gotovac auf DVD gezogenen Fami­li­en­pornos aus den 1970ern sind stumme Filme und auch Berry Bickle gelingt es mit einer stillen Video­ar­beit indigene Alltags­dy­na­miken zu fixieren und dabei noch wohltuend heraus­zu­strei­chen, dass es auch ein Zimbabwe, ein Afrika jenseits des poli­ti­schen Supergaus gibt

Eine weitere Facette der Stille ist die von Anton Ginzburg. In seinem Hyper­borea wird die antike Legende eines Ortes, der frei von Krankheit, Altern und Krieg ist durch die Suche nach dieser Welt in unserer Gegenwart ersetzt: ein flir­rendes Gleiten durch Orte und Land­schaften jenseits des Polar­kreises, At the Back of the Northwind. Ginzburg, der den ganzen Pallazo Bollani zur Verfügung hat, reichert seine Suche mit Skulp­turen, Fotos und Zeich­nungen zu einem multi­me­dialen Six-Pack an, von dem man nicht genug kriegen kann und fast trunken vor Kälte in die schwüle Hitze Venedigs zurück­ge­worfen wird – oder den Tauchgang fortführt.

Nicht nur in seiner Ganz­heit­lich­keit, auch ästhe­tisch ähnlich frap­pie­rend ist The Cloud of Unknowing von Ho Tzu Nyen aus Singapur. Sind es bei Ginzburg jedoch Kälte und Wind, ist es bei Nyen eine Wolke, die seinen Film zu einem erzäh­le­ri­schen Ganzen trans­for­miert und am Ende des Films eine ähnliche Wirkung erzeugt wie Ginzburgs in den Vorführ­raum gelei­teten Kälte­schwaden.

Und dann geht es tatsäch­lich auch ohne Dunkel­heit und große Projek­ti­ons­fläche: die russische Künst­lerin Olga Cher­ny­s­heva hat Monitore zu Bilder­rahmen mit virtu­ellen Passe­par­touts mutiert. In der passe­par­tou­rierten Fläche sind entweder Stills oder kurze doku­men­ta­ri­sche Video­clip­pings einge­bettet – Alltäg­lich­keiten des Moskauer Alltags, die unter den Bildern und Filmen auf dem weißen Passe­par­tout mit Tage­buch­no­tizen von Cher­ny­s­heva ange­rei­chert werden und eine seltene poetische Dichte ausstrahlen, nicht nur auf dem Einzeln­screen mit bewegten oder unbwegten Bild, sondern auch in ihrer gesamten Raum­wir­kung.

Dass Kino Kunst und Kunst Kino ist und das eine das andere fressen und dabei doch gewinnen kann – eine wunder­bare Synthese all dieser platten Phrasen gelingt dem filmi­schen Beitrag in Venedig viel­leicht am besten, der mit dem Preis des besten Künstlers ausge­zeichnet wurde, Christian Marclays 24 Stunden Montage The Clock (hier ein Auschnitt zwischen 16.07-16.12 Uhr). Mit sechs Assis­tenten hat Marclays innerhalb von zwei Jahren tausende von Kino­filmen gesichtet und zu einer faszi­nie­renden Echt­zeit­mon­tage destil­liert, in der alle ausge­wählten Film­szenen nur ein Thema verhan­deln: das der verlau­fenden Zeit. Und spätes­tens hier ist dann auch das ganze Hass-Venedig egal, weil man wegen der Öffnungs­zeiten der Arsenale allein schon drei Tage benötigt um Marclays Werk in voller Länge zu genießen und bis dahin die Stadt in ihren schmut­zigen Fluten längst versunken ist.

Art Biennale, 4. Juni bis 27. November 2011, Venedig.