03.02.2011

Lili­en­re­volte gegen den Tod

Mark Morrisroe
Mark Morrisroe
After the Laone (In the Home of a London Rubber Fetishist, Dec 82), 1982
C-Print von Sandwich-Negativ, bearbeitet mit Retuschefarben und Marker, 39.5 x 50.6 cm
© Nachlass Mark Morrisroe (Sammlung Ringier) im Fotomuseum Winterthur

Mark Morrisroes intime Memoiren der elften Stunde im Fotomuseum Winterthur

Von Sabine Matthes

Als junger Stricher bekam Mark Morrisroe (1959-1989) von einem Freier eine Kugel in den Rücken. Sie blieb dicht an der Wirbel­säule stecken, hätte ihn um ein Haar an den Rollstuhl gefesselt und verur­sachte ein blei­bendes Hinken. Die morbide erotische Spannung einer solch prekären Balance zwischen Hingabe und Verletz­lich­keit, Risiko, Schmerz und Leiden­schaft, Inten­sität, Vergäng­lich­keit, Krankheit und Tod scheint Morris­roes ganzes Werk zu durch­schim­mern. In glamouröser Eleganz und billigem Fummel changiert es zwischen exhi­bi­tio­nis­ti­schem Übermut und melan­cho­li­scher Unnah­bar­keit. Sowohl in seinen vari­ie­renden Selbst­in­sze­nie­rungen, mit denen er sich immer neu erfinden und seinen eigenen Mythos kreiieren wollte, als auch in den Rollen­spielen seiner Fotos und Filme. Getreu Oscar Wildes Motto »Seines eigenen Lebens Zuschauer zu werden bedeutet, (...) den Leiden des Lebens zu entrinnen.« stürzte sich Morrisroe mit der selben Lust am Spiel und der Verwand­lung in den Darkroom homo­ero­ti­schen Begehrens, wie in die Dunkel­kammer seiner foto­gra­fi­schen Umset­zungen. Sein visuelles Tagebuch ist intimes Melodram und Zeit­zeugnis einer schwulen Bostoner und New Yorker Subkultur, die, seit Beginn der Aids-Epidemie Mitte der 1980er Jahre, in der elften Stunde ihrer Krankheit mit einem Tanz auf dem Vulkan gegen das Verlö­schen ankämpfte. Zwischen dem frühen Polaroid Akt »Sweet 16: Little Me as a Child Prosti­tute« und seinen letzten Selbst­por­traits, auf einer Matratze schutzlos und nackt dem gleißenden Sonnen­licht und dem nahenden Tod ausge­setzt, gibt es ein faszi­nie­rendes Werk zu entdecken.

Nan Goldin, Künst­ler­freundin aus Bostoner Tagen, in deren Schatten Morrisroe bislang stand, erinnert sich: »Mark war ein Aussen­seiter in jeder Hinsicht – sexuell, gesell­schaft­lich und künst­le­risch ...«. So ist die roman­ti­sie­rende Ästhetik seiner Sandwich-Prints dem Pikto­ria­lismus eines Alfred Stieglitz näher, als der Anti-Senti­men­ta­lität der 1980er Jahre. Morrisroe kopierte dafür seine Farb­ne­ga­tive auf Schwarz-Weiss-Film, belich­tete beide Negative über­ein­ander und erzielte damit eine gedämpfte, samtene Farbig­keit, satte, dunkle Partien und ein grobes Korn. Der verfüh­re­ri­sche Manie­rismus dieser Akte, Portraits, Stilleben und Stadt­land­schaften wird durch die expres­sive Impro­vi­sa­tion zarter Retu­sches­triche und unge­stümer Beschrif­tungs-Graffitis am weißen Bildrand kontras­tiert. Hallu­zi­na­to­risch wirken diese Bilder, wie geis­ter­hafte Erschei­nungen einer spiri­tis­ti­schen Sitzung. Bild­ge­wor­dener Duft verblühender Lilien. Schnapp­schüsse eines Schwe­be­zu­stands, unent­schlossen zwischen An- und Abwe­sen­heit, Traum und Wirk­lich­keit, Leben und Tod: Stephen träumt von Jeanne; ein knorriges Stück Treibholz schwebt im Sand von Coney Island, wie die Fata Morgana eines gebors­tenen Segel­schiffs über der Glut einer endlosen Wüste; am Himmel, der so fließend und verschwommen wirkt, wie das Innere eines Körpers ohne Organe, zieht die Silhou­ette eine Pelikans vorüber.

»Damit die Geister erscheinen, die Ekto­plasmen ausströmen, die UFOs landen können, muss es dunkel sein. Erst wenn das Licht weg ist, sind die unan­ge­mel­deten Besucher frei, in der Luft herum­zu­fliegen wie verschüt­tete Milch.« (Mark Alice Durant) Der auf dem Bett liegende Rückenakt mit dem verrenkten Arm, »In the Home of a London Rubber Fetishist« (1982), ist in Sepia, Purpur und Gold getränkt und könnte einem Poli­zei­ar­chiv perverser Verbre­chen des 19.Jahr­hun­derts entstammen. Die Miss­hand­lungen finden ihre Fort­set­zung in betont unsau­beren Abzügen voller zufäl­liger Kratzer und Stäubchen. Nach seiner HIV-Diagnose und den immer häufiger werdenden Kran­ken­haus­auf­ent­halten, wo er sich jeweils im Bade­zimmer eine Dunkel­kammer einrich­tete, widmete sich Morrisroe seinen Foto­grammen, für die er weder Kamera noch Modell benötigte. Als Negativ dienten ihm mehrere über­ein­ander kopierte Bild­mo­tive, Alltags­ge­gen­s­tände, Rönt­gen­bilder des eigenen Körpers, alte Porno­hefte, Comic­strips und Werbe­an­zeigen, die zu psyche­de­lisch fiebrig bunten Abstrak­tionen verschmelzen. Es sind pulsie­rende Wärme­bilder von Körpern zwischen orgi­as­ti­scher Sexua­lität und Verlö­schen.

Mark Morrisroe ist auch Teil einer erwei­terten Familie von schwulen Künstlern, von Kenneth Anger in den 1940er und 1950er Jahren, über Andy Warhol, Jack Smith und John Waters in den 1960er und 1970er Jahren, bis zu Leigh Bowery in den 1980er Jahren. Morrisroe meinte, dass er zum Filme­ma­chen angeregt wurde durch Waters` Pink Flamingos (1972), in dessen berühmt-berüch­tigter Schlus­szene Divine als »obszönste Person der Welt« genüss­lich grinsend einen Hunde­haufen verzehrt. Als seine Wahl für den Time’s Mann des Jahres schlug Waters den Arzt vor, »who actually saw Ronald Reagan`s asshole.« Kein Wunder, daß Waters selbst von William Burroughs zum »pope of trash« gekrönt wurde. Auch Morris­roes drei erhaltene Super-8-Filme sind ein Bekenntnis zum Niederen. In seinen kürzlich erschie­nenen »Role Models« schreibt John Waters: »Ich sehnte mich nach einem schlechten Einfluß und, Junge, Tennessee (Williams) war ein schlechter Einfluß im besten Sinne des Wortes: fröhlich, beun­ru­hi­gend, sexuell verwir­rend und gefähr­lich komisch ... in seinem Werk waren sexuelle Ambi­va­lenz und Verwir­rung immer als attraktiv und aufregend darge­stellt.« Morrisroe verehrte Tennessee Williams ebenso. Sein zweiter Film Hello from Bertha (1983), ein Trash-Drag-Drama, beruht auf Williams`gleich­na­migen Einakter von 1946 über eine sterbende, verarmte Prosti­tu­ierte in einem billigen Bordell. Und wieder wird das Bett für Morrisroe zur Bühne, wenn er sich spärlich bekleidet in dunkler Perücke und weissem Bustier als Bertha in seinem Elend wälzt. Sein Freund Stephen Tashjian, mit dem er bereits als schrilles Drag Duo »The Clam Twins« performte, und der allgemein bekannt als Tabboo! in Under­ground-Drag-Treffs wie dem Pyramid Club im New Yorker East Village auftrat, mimt Goldie, die Wirtin des Hauses. Eine junge Prosti­tu­ierte namens Lena wird, als spanische Zigeu­nerin gekleidet, von Jonathan (Jack) Pierson gespielt, Morris­roes erster grosser Liebe, der, wie Tashjian, auch auf vielen seiner Fotos zu sehen ist. Die düstere Intimität wird in dem grau­sa­meren Nymph-O-Maniac (1984) zur aggre­siven Post­punk­ver­sion eines Horror-Porn-Home­mo­vies. Den deka­denten Eskapaden einer über­gla­mourösen Pia Howard bereiten zwei Masken tragende Schlä­ger­typen ein gewalt­tä­tiges Ende und übergeben sich.

Für sein, trotz der kurzen Schaf­fens­zeit, erstaun­li­ches Output foto­gra­fi­scher und filmi­scher Expe­ri­mente setzte Morrisroe testa­men­ta­risch Pat Hearn als Erbin und Nach­lass­ver­wal­terin ein. Sie gehörte zum Kreis der Bostoner Gruppe um Nan Goldin, David Armstrong, Philip-Lorca diCorcia, Shellburne Thurber, Mark Morrisroe, Gail Thacker, Stephen Tashjian und Jack Pierson, deren tabu­bre­chende Darstel­lung von Intimität den Vorbil­dern von Diane Arbus und Larry Clark zu folgen scheint. Pat Hearn war auch als Gale­ristin in New York Morris­roes wichtige Förderin und enge Vertraute in künst­le­ri­schen Belangen. Hearn, Nan Goldin, Morrisroe und andere wurden Teil einer vibrie­renden New Yorker East-Village-Gemeinde. Bald aber wurde Aids zu einer tödlichen Tatsache und Beer­di­gungen so alltäg­lich wie Vernis­sagen. Schwule Akti­visten protes­tierten mit ACT UP und Silence=Death gegen die Stig­ma­ti­sie­rung, Drag Queens duel­lierten sich mit Voguing ins Delirium, die Skyline von Manhattan erlosch zum Aids Awareness Day für 15 Minuten, und Nan Goldin kura­tierte 1989 die legendäre Ausstel­lung »Witnesses: Against Our Vanishing« im Andenken an ihre an Aids erkrankten oder gestor­benen Freunde – unter anderen mit Bildern von Morrisroe. Nach dem Tod von Pat Hearn und ihrem Mann wurde Morris­roes viel­sei­tiges Werk 2004 von der Sammlung Ringier erworben und seit 2006 im Foto­mu­seum Winter­thur deponiert, wo es als erste grosse Über­sichts­schau bis 13.2.2011 ausge­stellt ist und in einer umfang­rei­chen Mono­grafie zusam­men­ge­fasst wurde.

Bis 13.Februar 2011 Foto­mu­seum Winter­thur, Schweiz, danach Artists Space, New York und Villa Stuck, München