19.08.2010

Pulsie­rende Kunst- und Wunder­kam­mern

Schmelzdahins »Stadt in Flammen«
Der Name ist Programm:
Schmelzdahins »Stadt in Flammen«
von 1984

Von Sabine Matthes

»Zelluloid. Film ohne Kamera« in der Frank­furter Schirn Kunst­halle

Mit der gran­diosen Über­blicks­aus­stel­lung »Zelluloid. Film ohne Kamera« bietet die Schirn Kunst­halle Frankfurt noch bis zum 29. August 2010 ein seltenes und wahrhaft rausch­ar­tiges Vergnügen. Ein hallu­zi­na­to­ri­scher Trip, mit der Licht­ge­schwin­dig­keit des Traums, der Sterne und des Planktons, durch einen Parcours filmi­scher Kunst- und Wunder­kam­mern, im pulsie­renden Beat explo­die­render Formen, Farben und Klänge. 28 Filme, mit einer Länge von 30 Sekunden bis 12 Minuten, das sind etwa 160 000 Einzel­bilder, von den Anfängen des »direct film« oder kame­ra­losen Films in den 1930er Jahren bis heute, geben Einblick in die Alchi­mis­ten­küche von 21 inter­na­tio­nalen Künstlern und Filme­ma­chern wie Len Lye, Norman McLaren, Harry Smith, Hy Hirsh, Stan Brakhage, Tony Conrad, Aldo Tambel­lini, José Antonio Sistiaga, Jennifer Reeves, Bärbel Neubauer, Jennifer West oder »Schmelz­dahin«. Anstatt die Aussen­welt mit der Kamera einzu­fangen, wird bei dieser Form des Expe­ri­men­tal­films der Film­streifen selbst, das Zelluloid, zur Leinwand. Er wird hand­werk­lich bear­beitet mit Tusche, Farbe, Stempeln und Scha­blonen, mit Kratzen, Ritzen, Kochen, Nähen oder Verbrennen, durch physi­ka­li­sche, chemische, bakte­rio­lo­gi­sche Einwir­kung verfremdet, colla­giert, als »found footage« über­ar­beitet oder wie ein Fotogramm direkt belichtet. Diesen Filmen ist die DNS des Lebens einge­haucht, im Licht des Projek­tors beginnt ihr Puls zu schlagen. Sie sind neugie­rige Welten­bummler, mit wenig Geld und viel Zeit im Gepäck, übermütig, zauber­haft, grausam, geheim­nis­voll und verletz­lich – wie wir.

Der Film Black Is (1965) des Ameri­ka­ners Aldo Tambel­lini sugge­riert ihm zufolge »Samen schwarz, Samen schwarz, Sperma schwarz, Sperma schwarz« und wird vom pochenden Ton eines mensch­li­chen Herzens begleitet. Ein Schlacht­feld orga­ni­scher Formen unterm Mikroskop, aufge­peitscht von tachis­ti­schen Pinsel­hieben. Tambel­lini hat als Jugend­li­cher in Italien knapp den Bomben­horror des 2.Welt­kriegs überlebt und in den 60er Jahren im New Yorker East Village ein Avant­garde- und Under­ground-Kino in einer ehema­ligen Kirche eröffnet, wo unter anderem Filme von Brakhage, Bruce Conner und seine eigenen liefen. Mit Otto Piene gründete er 1967 das Black Gate Theatre, ein »Elec­tro­media«-Kino für expe­ri­men­telle Medien, Perfor­mance und Instal­la­tionen. Bei live-Auffüh­rungen wurden seine Filme und bemalten Dias auch auf die Körper auftre­tender Künstler oder aufblas­bare Leinwände proji­ziert, sie entma­te­ria­li­sierten den Raum und lösten eine sinnliche Desori­en­tie­rung beim Betrachter aus. Black Is war der erste in seiner Serie von sieben expe­ri­men­tellen »Black Films«, die von 1965-1968 als eine Sinnes­er­for­schung des Mediums entstanden und von völliger Abstrak­tion über footage vom Mord an Bobby Kennedy und dem Vietnam Krieg zu schwarzen Teenagern in Coney Island reichen. Seine Obsession für Schwarz erklärt Tambel­lini so: »Schwarz ist der Zustand des Blindseins und erhöhter Aufmerk­sam­keit. Schwarz ist das Einssein mit der Geburt. Schwarz ist eins mit der Ganzheit, die Einheit allen Seins. Schwarz ist die Ausdeh­nung des Bewusst­seins in alle Rich­tungen.«

Während für Tambel­lini die billige Herstel­lungs­technik des »direct film« auch eine Art Gegen­be­we­gung zu Hollywood darstellte, war sie bei dem neuseelän­di­schen Künstler Len Lye aus purer Not geboren: er konnte sich keine Kamera leisten. Zum Glück. So entdeckte Lye 1934/35, dass er Filme direkt auf das Zelluloid zeichnen konnte und sein, als Teil einer Reihe von Auftrags­ar­beiten für die Britische Post produ­zierter, Film A Colour Box (1935) wurde zum Grün­dungs­werk des »hand­painted film«. Erstaun­lich zeitlos, wie alle »direct films«, hat er sich seinen drauf­gän­ge­ri­schen Charme bewahrt und tanzt mit unver­min­dertem Schwung ein abstraktes Ballett farbiger Formen zum Rhythmus einer kuba­ni­schen Band. Lye stand dem Surrea­lismus nahe und war geprägt von seinen frühen Studien der Kunst der Maori, der Tanz­ri­tuale Poly­ne­siens und der austra­li­schen Abori­gines. Er liebte gerade das Rohe, die Imper­fek­tion und die rastlose Energie der hand­ge­malten Figuren als perfekte Entspre­chung zur Vitalität des Jazz. Als er 1944 von London nach New York zog, trug er zu einem Aufschwung expe­ri­men­tellen Film­schaf­fens in den USA bei, lernte die Künstler des Abstarkten Expres­sio­nismus kennen, deren Arbeiten er sich verwandt fühlte, und zeigte seine Filme auf ihren Parties. Als Pionier von filmi­schen Anima­ti­ons­tech­niken und kine­ti­schen Skulp­turen wollte Lye eine neue Kunst mit »reinen Figuren der Bewegung« entwi­ckeln, dem sein Film Free Radicals (1958/1979) am nächsten kommt. Um sich auf die wich­tigsten Elemente, Licht und Bewegung, zu konzen­trieren, gab er die Farbe auf und entwi­ckelte neue Symbole von »Energie«, die er mit unter­schied­lichsten Instru­menten wie alten india­ni­schen Pfeil­spitzen und modernen Zahn­arzt­geräten auf den schwarzen Film kratzte. So sieht man weisse Linien wie über­ge­schnappte Herz­rhyth­mus­kurven oszil­lieren, als würden geome­tri­sche afri­ka­ni­sche Stoff­muster vom Trom­mel­wirbel des Bagirmi Stammes zum eksta­ti­schen Tanz in der 3.Dimension aufge­for­dert. Für Len Lye waren Anima­ti­ons­filmer »freie Radikale« mit einem perfekten Medium für Expe­ri­mente.

Auch der Schotte Norman McLaren, die zweite wichtige Figur, die zur Etab­lie­rung des kame­ra­losen Films wesent­lich beitrug, hatte für die ange­se­hene expe­ri­men­telle Film­ab­tei­lung der Briti­schen Post in London gear­beitet. Er war von Len Lyes A Colour Box tief beein­druckt und mit ihm befreundet. McLaren wurde Filme­ma­cher, weil er nicht Tänzer oder Choreo­graf werden konnte und sah in Lyes Film eine auf Zelluloid gemalte »Choreo­grafie«. Er expe­ri­men­tierte auch mit der Erzeugung von Tönen durch das Zeichnen auf die optische Tonspur und erstellte eine Kartei grafi­scher Klänge. Der Film Dots (1940) wirkt wie ein harmloser Kinderspass, ein Ping Pong blauer Punkte und Amöben zwischen Leinwand und Betrachter. Er birgt aber das Geheimnis der Sogwir­kung von Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey in sich, eine Technik, die McLaren bereits in den 30er Jahren entwi­ckelt hatte.

Die hypno­ti­sche Erfahrung des Versin­kens in einem vibrie­renden Kosmos fluo­res­zie­render Licht­staub­wolken macht man auch in dem Film Impre­siones en la alta atmósfera (1988/89) des baski­schen Malers José Antonio Sistiaga. Er hatte Ende der 50er Jahre in Paris einen Anima­ti­ons­film von Norman McLaren gesehen, ein prägendes Erlebnis. Sistiagas Film beweist, dass es allein durch Malerei möglich ist, ausgehend von einem Kreis als Symbol für die Erde mit Aureole, durch das gesamte Universum zu reisen. 10.080 minutiös mit farbiger Tinte gezeich­nete Einzel­bilder im 70-mm-Format fügen sich in der filmi­schen Projek­tion zu einem glühenden Tableau rasenden Still­stands. Am Ende geht das Dröhnen des Weltalls in einen Schrei über, ein Schrei, mit dem baskische Schäfer das Wiehern eines Pferdes imitieren. Damit implo­diert die kosmische Leucht­kraft und Ordnung und kata­pul­tiert uns abrupt in die nackte Realität zurück. Dies ist Sistiagas zweiter gemalter Film, sein erster, fast 20 Jahre früher, hat Spiel­film­länge und kann auch als Gemälde mit über einem Kilometer Länge angesehen werden.

Das Echo von Sistiagas kosmi­schem Urschrei ist verstummt in den farben­präch­tigen Omega­ne­beln des ameri­ka­ni­schen Filme­ma­chers Stan Brakhage. Mit seinen über 400 expe­ri­men­tellen Filmen gilt Brakhage als poetisch philo­so­phi­scher Meister eines abstrakt expres­sio­nis­ti­schen Kinos. Sieben Jahre Arbeit stecken in dem neun-minütigen Stummfilm The Dante Quartet (1987), der ursprüng­lich in kathe­dra­len­ar­tigen Dimen­sionen gedacht war. Brakhages lebens­lange Faszi­na­tion für Dantes »Göttliche Komödie« mischt sich hier mit der persön­li­chen Erfahrung einer Lebens­krise. Durch die Hölle und daraus empor zu einer Art gött­li­chem Zustand, der mit einem Rilke Zitat als »existence is song« beschrieben wird. In der dunklen Nacht der Seele kämpfen fiebrig schöne Farben um Momente der Erleuch­tung. Brakhage scheint den Film­streifen mit dem Furor eines Jackson Pollock und dem Destillat aus Strahl­kraft und Wahnsinn von Coppolas Apoca­lypse Now bear­beitet zu haben. Wie häufig in seinen Filmen zoomen die Bilder gleich­zeitig in ein subjek­tives inneres und äusseres Universum. Ursprüng­lich begann Brakhage auf Film zu malen, um Bilder zu finden, wie sie sich auf der inneren Leinwand des geschlos­senen Auges abspielen, »because there was no way I could get the camera inside my head«. Durch die ständige Meta­mor­phose ihrer Formen sensi­bi­li­sieren sie uns für eine Fülle subjek­tiver Inter­pre­ta­tionen und lassen gleich­zeitig eine Beckett-artige Leere und Vergeb­lich­keit erahnen. Später wollte Brakhage Filme machen, »that are, in the ordinary sense of the word, about nothing«. Filme, an die man sich nicht erinnert, weil sie in einer Sphäre jenseits des Verbalen exis­tieren und voll­kommen dem Unbe­wussten übergeben werden. Filme, die inspi­rieren ohne zu mani­pu­lieren, bei denen durch die Erfahrung des Nichts die inneren Sinne geschärft werden und das Bedürfnis weiter­zu­leben – so, wie Brakhage es selbst ange­sichts der Marc Rothko Bilder in der Rothko Chapel erlebt hatte.

Wie John Cage durch die Stille zu inten­si­verem Hören auffor­dert, so erweitert Stan Brakhage unseren Erfah­rungs­raum der Imagi­na­tion. In Mothlight (1963), einem Klassiker des Expe­ri­men­tal­films, tanzt ein zitterndes Ballett reani­mierter Motten­flügel zur unhör­baren Melodie einer Bachfuge. Die licht­durch­flu­tete Collage osziliert in ihrer kraft­vollen Inten­sität und fragilen Schönheit zwischen Leben und Tod.

Brakhage machte die meissten seiner Filme ohne Ton, um nicht von ihrem visuellen Rhythmus abzu­lenken. Trotzdem sah er sie als reine »Musik für die Augen« in einer Tradition der visuellen Musik. Viele Arbeiten des abstrakten Films, vom absoluten Film der 1920er Jahre bis zu den psyche­de­li­schen Filmen der 1960er und 1970er Jahre, zeichnen sich durch die synäs­t­he­ti­sche Wirkung von musi­ka­li­schen Elementen und bewegten Bildern aus, eine Vorstel­lung wie sie Wassily Kandinsky vertrat. Geprägt von dessen Theorien und Werk war auch der ameri­ka­ni­sche Musik-Ethnologe, Anthro­po­loge, Sammler, Künstler, Okkultist und Exzen­triker Harry Smith, einer der schil­lerndsten Prot­ago­nisten des Expe­ri­men­tal­films. Seine Eltern waren Theo­so­phen, die ihn mit panthe­is­ti­schen Ideen vertraut machten, seine Mutter unter­rich­tete im Lummi Indianer Reservat, deren Gesänge und Rituale Smith aufzeich­nete. In San Francisco gehörte er zu den Avant­garde Filme­ma­chern der Bay Area, zog nach New York, gab eine »Anthology of American Folk Music« heraus, war mit Jazz Pionieren wie Charlie Parker befreundet und den Beat Poeten um Allen Ginsberg, lebte bei Native Americans und starb mit knapp 70 Jahren singend in den Armen einer Freundin im legen­dären Chelsea Hotel. Seine extra­va­gant abstrakten Anima­ti­ons­filme sind kleine mystisch-surreale Zauber­ma­schinen, sie sind das »alche­mis­ti­sche Schmelzgut« (William Moritz) seiner schwin­del­erre­genden Vielfalt an Inter­essen. Smith konnte, um seinem Zuhörer die zugrun­de­lie­gende Verbin­dung und Wech­sel­be­zie­hung allen Seins zu erklären, in einer Kette freier Asso­zia­tionen, in ausführ­lichster Länge und Tiefe, vom Makro- zum Mikro­kosmos gelangen, von Bioelek­tro­ma­gnetik, Elek­tro­phy­sio­logie zum geoma­gne­ti­schen Feld und der Psyche, Musi­ko­logie und Mole­ku­lar­physik, Para­psy­cho­logie und Tarot, bis zur Sammlung seiner 30.000 ukrai­ni­schen Ostereier und semi­no­li­schen Textilien. »Early Abstrac­tions No.3 (Inter­woven)« (1947-1949) gleicht einer geba­tikten Animation pulsie­render Kandinsky Formen zur Musik der Beatles. Durch ihren hypno­ti­schen Effekt, die Korre­spon­denz von mystisch inspi­rierter Malerei, Musik und Bewegung, und durch Smiths eigene Drogen­er­fah­rung, sind seine Filme Vorboten und Ausdruck einer körper­li­chen, sinnenüber­grei­fenden psyche­de­li­schen Erfah­rungs­welt der 60er Jahre. »Hand­ge­malte Animation unan­s­tän­diger Formen – der Verlauf der erdge­schicht­li­chen Entwick­lung reduziert auf Orgas­mus­länge« – wie Smith selbst es beschrieb. Noch wichtiger als die akri­bi­sche, teils jahre­lange Bear­bei­tung der Filme, war ihre Perfor­mance. Mit dem live-Auftritt von Bands, stro­bo­sko­pi­schen Effekten, magischen Laternen, Mehr­fach­pro­jek­tionen seiner kabba­lis­tisch inspi­rierten Bilder um die Filme herum, explo­dierten sie zum Leben. Laut Kenneth Anger war Harry Smith »der grösste lebende Magier«.

Auch der Fotograf und Filme­ma­cher Hy Hirsh, der ebenfalls aus der Under­ground Film Bewegung der Jazz-Beat Szene San Fran­ciscos kam und mit Harry Smith koope­riert hatte, fasste seine Film­vor­füh­rungen als Happe­nings auf. Die fröhlich aufge­regte Energie von Zirkus und Jahrmarkt, die vielen der »direct films« eigen ist, strahlt sein Film Scratch Pad (1960) am schönsten aus. Er reisst uns mit wie eine visuelle Achter­bahn­fahrt durch den Farbrausch eines nächt­li­chen Lunaparks. Ein kalei­do­sko­pi­sches Dreamland, Explo­sionen pulsie­render, leuch­tender Linien und Punkte, Graffitis die alle möglichen artis­ti­schen und clow­nesken Kunst­stück­chen aufführen, sich zu Leitern und Über­land­lei­tungen formieren und mit einem unifor­mierten Äffchen Leier­kasten spielen.

Der strah­lende kali­for­ni­sche Opti­mismus dieses Feuer­werks verwan­delt sich bei Stadt in Flammen (1984) des deutschen Künst­ler­kol­lek­tivs Schmelz­dahin zu einem morbide flim­mernden Farben­spiel, zum zerstö­re­ri­schen Lodern von Feuer. Der fran­zö­si­sche Film Ville en flamme wurde dafür einen Sommer lang im Garten unter Laub begraben. Natür­li­cher Zerfall, Bakterien und die Hitze der Projek­torlampe zerfrassen Emulsion und Gesichter, sie zucken im Rhythmus einer sich auf den Brustkorb hämmernden Faust, die im letzten Bild verstummt. In Bärbel Neubauers Foto­gramm­film Feuerhaus (1998) wird man mit einem von ihr kompo­nierten Techno Beat wie ein Hase mit Nacht­sicht­gerät durchs nächt­liche Unterholz gejagt, illu­mi­niert von balzenden Glühwürm­chen. Die Technik dazu hatte Man Ray, ein weiterer wichtiger Pionier des kame­ra­losen Films, bereits in seinem ersten Film­ex­pe­ri­ment Le Retour à la Raison (1923) mit den Mitteln des Rayo­gramms erprobt. Er würzte den Film­streifen mit Salz und Pfeffer, Steck­na­deln und Reißnä­geln, und belich­tete ihn direkt, was in der Projek­tion zu einem stak­ka­to­ar­tigen dada­is­tisch-surrea­lis­ti­schen Formentanz führt.

In der filmi­schen Suppen­küche der jungen Ameri­ka­nerin Jennifer West geht es noch wilder zu. Ihre kame­ra­losen Arbeiten begannen damit, dass sie Teil­s­tücke eines Films, den sie über zehn Jahre im Kühl­schrank hatte, ihren Freunden gab, damit sie den Film in einem Gebräu ihrer Wahl »mari­nierten«. Die Titel ihrer tonlosen Filme, wie Marinated Film – the roll of 16 mm I had in the fridge for over ten years (16 mm film negative marinated for several months in: Absinthe & XTC, Pepsi & Poprocks, Jim Shaw`s Urine, Red Wine, Coffee & Detox Tea, Aphro­di­siacs) (2005), erklären den perfor­ma­tiven Akt der Herstel­lung und erzeugen einen starken synäs­t­he­ti­schen Effekt. Wir sehen, schmecken und riechen die Geschichte der Filme. Ihren Jam Licking Sled­ge­ham­mered Film (2008) beschreibt sie als »wie ein durch Lecken entstan­dener Sonnen­un­ter­gang.« In der Fluxus Manier von Ben Patter­sons »Lick Piece« lecken Menschen, mit freiem Ober­körper oder BH, gemeinsam Marmelade vom Film­streifen. In ihrer ersten öffent­li­chen Perfor­mance Skate the Sky (2009) fuhr eine Gruppe von Skate­boar­dern über die Film­streifen auf der Rampe der Turbi­nen­halle der Tate Modern.

Durch die Pflichten der Kinder­er­zie­hung ans Haus gebunden, hatte Tony Conrad, einer der wich­tigsten Konzep­tuell geprägten Künstler der ameri­ka­ni­schen Filma­vant­garde, bereits Anfang der 70er Jahre die Kochkunst mit dem Film­pro­zess verbunden. In Curried 7302 (1973) werden durch das Mitkochen und Erhitzen des Zellu­loids Kaskaden abstrakter Farb­spiele frei­ge­setzt. In dem Perfor­mance Film 7360 Sukiyaki (1973) werden die Menschen selbst zum »Pro-jektor« und werfen die in Tamari gekochten Film-, Fleisch- und Gemü­se­fetzen, in rohes Ei getunkt, direkt auf die Film­lein­wand, als klebrig schim­merndes, trop­fendes Bild. Auch die Dauer des Lebens wollte 1:1 abge­bildet werden. Seine Yellow Movies (1972-1976) sind ein lebender Abdruck von Licht und Zeit, wo billige weiße Farbe sich auf einer Leinwand allmäh­lich gelblich verfärbt – die lang­samsten Filme der Welt, ohne Film, Kamera und Projektor. Tony Conrad war Anfang der 60er Jahre nach New York gekommen und gehörte mit La Monte Young und dem Theatre of Eternal Music zu den Mitbe­grün­dern der Minimal Music. Das bewußt­s­eins­ver­än­dernde Potential ausge­dehnter Zeitdauer, wie zuerst in John Cages »4´33´´« oder der Minimal Music, wurde auch von Theater und Film über­nommen. Für Conrad ist es Ausdruck einer anti-auto­ritären, anti-bürger­li­chen Gegen­be­we­gung, wie Drogen, Medi­ta­tion, Fluxus, Orien­ta­lismus und die Hippie Bewegung.

Im Gegensatz zu den Yellow Movies war Tony Conrads erster und bekann­tester Film The Flicker (1965-66) wie ein Zeit­raffer, ein Konzen­trat aller jemals gemachten Filme, und zeigt: Kino ist »Tran­ce­technik« (Ute Holl). Für Conrad ist er eine Art perfekter Science Fiction, der einen nicht nur auf einen anderen Planeten trans­por­tiert, sondern in ein völlig abstrakt struk­tu­riertes Parallel-Universum. Er zeigt 47 unter­schied­liche Flim­mer­muster aus stro­bo­sko­partig pulsie­renden schwarzen und weißen Film­bil­dern, ange­fangen bei einer hohen Frequenz von 24 Blitzen pro Sekunde bis zu nied­ri­geren Frequenzen zwischen 18 und 4 Blitzen pro Sekunde. Durch den Rhythmus kann der Betrachter eine kalku­lierte Skala hallu­zi­na­to­ri­scher Farb­effekte erfahren. Conrad beschreibt, wie er anfangs Angst hatte, daß er damit den Leuten das Gehirn aus dem Kopf jagen würde und deswegen einen promi­nenten Psycho­ana­ly­tiker konsul­tierte, einen ehema­ligen Schüler von Freud, der im Ersten Weltkrieg selbst Kriegs­trau­mata von Soldaten erfolg­reich mit Flimmern behandelt hatte. Conrad wurde an die ameri­ka­ni­sche Epilepsie Gesell­schaft weiter verwiesen und sprach mit einem Arzt, der klinische Erfahrung hatte mit durch Flimmern herbei­ge­führten Anfällen, und der einigen Zulauf von Menschen bekam, die sich absicht­lich Epilepsie wünschten, da sie sie als eine eher roman­ti­sche Störung ansahen.

Viel­leicht sind all diese Unbe­re­chen­bar­keiten der Grund dafür, dass wir diesen Film leider nicht in der Ausstel­lung sehen. Oder, weil die ganze Ausstel­lung selbst wie ein einziger wilder Flicker wirkt. Von solch bizarrer Schönheit werden die Bilder sein, die von unserer Erde auf der Netzhaut von Insekten erhalten bleiben.