15.07.2010

Jungs sind die besseren Väter

Isabelle Carré in »Le Refuge«
Die schöne Schwangere und
der schwule Schwager

Eine Nachlese zum Filmfest München

Von Stefanie Schulte-Krude

Längst sind die Löcher des sozialen Auffang­netz groß­ma­schiger geworden, die Gesell­schaft selbst gerät mehr und mehr in Schief­lage. Das ist vieler­orts spürbar, egal auf welchem Kontinent. So studieren viele Regis­seure, die mit ihren Werken zum Inter­na­tio­nalen Filmfest München einge­laden waren, die Ur-Zelle Familie und rücken dabei die Kinder, insbe­son­dere die Söhne, ins Zentrum ihrer Geschichten. In unter­schied­li­chen Genres erzählen sie, welches Gewicht auf diesen schmalen Schultern lastet, ohne jedoch filmisch Expe­ri­mente einzu­gehen. Die viel­schich­tigen ökono­mi­schen Faktoren, die für diese Miserie verant­wort­lich sind, bleiben außen vor, dennoch sind sie im Hinter­grund allge­gen­wärtig und spürbar.

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Kann man seine Erin­ne­rung an die Mutter, die ihre Kinder zur Adoption frei­ge­geben hat, auslö­schen? Thomas (Vincent Rottiers) gelingt es in Je suis heureux que ma mère soit vivante jeden­falls nicht. Als Vier­jäh­rigen hat Julie (Sophie Cattani) ihn und seinen jüngeren Bruder verlassen. Seitdem bedrängen ihn die Bilder, wie seine Mutter nachts bügelt, wie sich ein Liebhaber ihr nähert, wie sie lacht. Von Kindes­beinen an stellt dieses einschnei­dende Ereignis seine Identität in Frage. Was für ein Mensch ist Julie? Wer ist er? In seinem Gesicht spiegelt sich dieser Konflikt wider. Es ist ein stör­ri­scher, abwei­sender Blick, der sich auch gegen die Adop­tiv­el­tern richtet. Lediglich wenn sich Thomas um seinen kleineren Bruder kümmert, weicht dem aggres­siven Blick ein fürsorg­li­cher. Als Thomas 20 Jahre alt ist, fasst er endlich den Mut, seine leibliche Mutter mit einem Strauß Blumen in der Hand zu besuchen, und quartiert sich gleich für ein paar Tage bei ihr und seinem Halb­bruder ein. Der ist von dem unver­mit­telt aufge­tauchten Halb­bruder, der ihn schützend umsorgt, begeis­tert.

Es ist berührend, wie Thomas seiner Mutter zur Seite springt, um den fehlenden Mann, sprich den Vater, im Haus zu ersetzen. Wie schon als Vier­jäh­riger. Julie reagiert zunächst kühl und berech­nend, zeitweise aber auch erleich­tert. Eine Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung scheint möglich. Mit sicherer Hand gelingt es Regieduo Claude und Nathan Miller, dass sich Thomas' Kind­heits­er­in­ne­rungen und die Schil­de­rung des authen­ti­schen Falls die Waage halten. Neben­szenen – wenn sich etwa der Halb­bruder mit »Tschüss, ihr Turtel­tauben« von seiner Mutter und Thomas verab­schiedet –, deuten an, auf welch wacke­ligem Boden diese neue Familie steht. Letztlich ist die Last auf Thomas Schultern zu erdrü­ckend, die Spannung entlädt sich – zwangs­läufig. Großartig, anschließend dem Duell der Mütter beizu­wohnen, wie sich Julie und Adop­tiv­mutter Madame Jouvet (Christine Citti) in einen Cafe erstmals gegenüber­stehen, einander sprach­lich atta­ckieren und doch jede um Thomas kämpft.

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Ein ähnliche erdrü­ckende Last bürdet sich ein kleiner mexi­ka­ni­scher Junge auf. Frisch aus der Psych­ia­trie entlassen, scheint der neun­jäh­rige Abel (Chris­to­pher Ruíz-Esparaz) nicht von dieser Welt. Er spricht nicht, nimmt seine Umwelt kaum wahr, sein Blick ist in sich gekehrt. Dafür schaut er Fernsehen – vorzugs­weise alte mexi­ka­ni­sche s/w Filme, die einen Vater-Sohn Konflikt thema­ti­sieren – und er studiert Fotos von seinem Vater, der die Familie – seine Mutter, seine ältere Schwester, ihn und den jüngeren Bruder – mir nichts dir nichts verlassen hat. Eines Tages beschließt er, das Oberhaupt dieser Familie zu sein. Abel steckt seiner Mutter kurzer­hand einen Zuckering auf den Finger, zieht den Pyjama seines Vaters an und legt sich abends zu seiner Mutter ins Bett. Diese ist baff erstaunt. Da Abel wieder zu reden beginnt und das Leben energisch in die Hand nimmt, lässt sie ihn gewähren. Auch seine Geschwister gewöhnen sich an diesen neuen Abel, der streng ihre Haus­auf­gaben korri­giert und ihnen mit heiligem Ernst die Leviten liest. So absurd die Situation auch ist, tatsäch­lich kehrt Norma­lität und Stabi­lität in die Familie ein. Bis der 'echte' Vater nach Hause kommt und seinen Sohn in die Psych­ia­trie für Kinder schicken will.

Auch wenn Abel um ein ähnliches Thema wie in dem Drama Je suis heureux que ma mère soit vivante kreist, schlägt Regisseur Diego Luna in seinem Spiel­film­debüt eine völlig andere Tonart an. Die Tragi­komödie ist von leichter Hand gedreht, Szenen und Dialoge sind mit Humor gespickt. Wunderbar ist etwa die Neben­szene, wo sich Abel seine neue Vater­rolle in vergilbten, mexi­ka­ni­schen Melo­dramen ab guckt. Eine Szene, die im Subtext auch als Parodie auf den Machismo gelesen werden kann. Doch der größer Erfolg des Films ist dem Prot­ago­nisten selbst zuzu­spre­chen. Chris­to­pher Ruíz-Esparaz spielt Abel mit solch einer tiefen Ernst­haf­tig­keit, wie man sie nur von Kindern kennt und der man sich nur schwer entziehen kann. Die Geschichte ist originell und berührend, aber von der Machart eher kommer­ziell gedreht. Doch trotz der Leich­tig­keit vergisst man nie, wie bedrü­ckend die Situation an sich ist und dass sie jederzeit kippen kann. So holt am Ende die Realität seine Prot­ago­nisten gnadenlos ein. Und man ist sich als Zuschauer sicher, diese Realität soll nicht zur Norma­lität werden.

Regisseur François Ozon geht in seinem Spielfilm Le refuge gleich zurück auf Null: zur Schwan­ger­schaft selbst. Er hinter­fragt direkt, was dieser Zustand bei der Frau, aber auch bei anderen Menschen auslöst. Einem verhei­ra­teten Mann etwa, einer Spazier­gän­gerin am Strand oder anderen Zufalls­be­geg­nungen. Diffe­ren­zierter geht Ozon diesen Schwin­gungen in der Beziehung zwischen der schwan­geren Mousse (Isabelle Carré) und ihrem Schwager Paul (Louis-Ronan Choisy) nach. Nach dem Tod ihres Mannes Louis hatte sich Mousse in einem Haus am Meer zurück­ge­zogen. Hier will sie mit sich und der neuen Situation, verlassen und zugleich schwanger zu sein, ins Reine kommen. Da besucht sie Paul in ihren Refugium für ein paar Tage.

Die Begegnung zwischen Mousse und Paul ist exis­ten­tiell, sinnlich und zum Glück wird man nicht mit Schwan­ger­schafts­wehweh­chen belästigt. Le refuge ist ein leicht gedrehter Film, schön anzu­schauen. Am Ende wird man über­rascht, wem und wieso ihm die Vater­rolle zugedacht wird (mehr sei hier nicht verraten). Aber dieses 'Happy-End' hat auch seinen Preis, einen sehr hohen sogar. Letztlich aber ist Le refuge von seiner Substanz, dem Bezie­hungs­ge­flecht zwischen Maud und Paul, zu dünn. Daher reicht er nicht an die Tief­grün­dig­keit oder Komple­xität von Ozons fili­granes Drama Unter dem Sand heran.

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Erstaun­lich, in wie vielen Spiel­filmen auf dem Filmfest München die Familie in den Mittel­punkt steht. Viel­seitig wird thema­ti­siert, dass die Familie ausein­ander bricht und die Söhne in die Bresche springen. Sie versuchen, die Leer­stelle Ehemann zu füllen und eine zeitlang sind Jungs tatsäch­lich die besseren Väter. Diese Umver­tei­lung funk­tio­niert anfäng­lich, das Fami­li­en­glück ist vorerst gewährt. Aller­dings kann dies kein Gesell­schafts­mo­dell auf Dauer sein, denn die Jungs brechen unwei­ger­lich unter dieser enormen Last zusammen. Es zerstört ihr Leben und die fami­liären Struk­turen. Da machen die Regis­seure einem nichts vor.