16.08.2001

»Ich hatte den Wunsch, meine eigene Stadt zu finden«

Audrey Tautou als Amélie
Die Augen von Amélie...

Ein Gespräch mit Jean-Pierre Jeunet

Ganz Frank­reich kannte dieses Jahr im Kino nur eine amour fouLe fabuleux destin d’Amélie Poulain. In Paris standen die Menschen stun­den­lang an, nur um in diesen Film zu kommen – und wer ihn ab dieser Woche in Deutsch­land als Die fabel­hafte Welt der Amélie zu sehen bekommt, wird die Franzosen sofort verstehen.
In Berlin sprach Nadine Lange mit dem Regisseur.

artechock: Die fabel­hafte Welt der Amélie ist überreich an witzigen und fanta­sie­vollen Details. Woher nehmen Sie all diese Einfälle?

Jean-Pierre Jeunet: Alles in Amélie ist wahr. Zum Beispiel der selbst­mör­de­ri­sche Goldfisch, der immer aus seinem Glas hüpft – so einen hatte ich selber. Oder der Junge, der auf dem Schulhof erst alle Murmeln gewinnt und sie dann verliert, weil seine Jacken­ta­sche unter dem Gewicht zerreißt – das ist mir auch selbst passiert. Die Geschichte von dem Garten­zwerg, der auf Weltreise geht, hat mir jemand erzählt. Ich sammle ständig solche Sachen.

artechock: Wie wird aus einer solchen Kurio­si­tä­ten­samm­lung ein Film?

Jeunet: Ich wollte daraus schon lange mal etwas machen, aber ich wusste nicht wie. Bis mir eines Tages plötzlich der Charakter dieser jungen Frau, Amélie Poulain, einfiel. Danach war es einfach, ein Drehbuch zu schreiben.

artechock: Sie hatten zunächst Emily Watson als Amélie vorge­sehen. Wie kam es, dass die junge Audrey Tautou die Rolle übernahm?

Jeunet: Während ich das Drehbuch schrieb hatte ich tatsäch­lich Emily Watson in Breaking the Waves vor Augen. Als ich fertig war, rief ich sie an, wir trafen uns und machten einige Proben. Aller­dings verlor Watson viel von ihrer Wirkung, als sie Fran­zö­sisch sprach. Deshalb habe ich das Skript umge­schrieben und sie in London aufwachsen lassen. Doch dann sagte mir Emily Watson, dass sie aus persön­li­chen Gründen absagen müsse. Ich war sehr enttäuscht. Danach machte ich ein Casting in Frank­reich, bei dem ich mir nur zwei Frauen ansah. Die erste war Audrey Tautou. Ich hatte sie, während ich mit dem Auto unterwegs war, auf einem Plakat des Films Vénus beauté (institut) erspäht. Ihre großen dunklen Augen fand ich inter­es­sant. Und es stellte sich heraus, dass man ihr nicht lange zu erklären braucht, worum es geht. Ihr Timing ist so präzise wie das eines Sportlers, so exakt wie das des fran­zö­si­schen Fußball­stars Zinedine Zidane, wenn er abspringt, um den Ball mit dem Kopf zu treffen.

artechock: Amélie ist Ihr erster Film, der nicht komplett im Studio gedreht wurde. Haben die Außen­auf­nahmen sie einge­schüch­tert?

Jeunet: Es war ein Albtraum. Plötzlich standen Leute im Bild und weigerten sich weiter­zu­gehen. Man ist ständig abhängig vom Wetter. Ich habe versucht, mein eigenes Paris zu erschaffen – genau wie im Studio. Wir haben alles verändert: ließen Autos verschwinden, hängten Poster ab. Auch digital haben wir später noch viel mani­pu­liert.

artechock: Paris sieht aus wie eine alte Postkarte.

Jeunet: Ich war vorher für Alien: Resur­rec­tion zwanzig Monate in Los Angeles. Da gibt es einen schönen Himmel, Palmen und Meer – aber es ist keine Stadt. Ich hatte den Wunsch, meine eigene Stadt zu finden – meine Traum­stadt. Als ich mit 20 Jahren zum ersten Mal nach Paris kam, war die Stadt ein Traum. Die wollte ich wieder aufer­stehen lassen – mit Akkor­deons, Cafés und all diesen Dingen. Ich habe mich selber viel umgesehen, um geeignete Drehorte zu finden. Als ich den Bahnhof sah, dachte ich: Oh wie schön, wer hat den für mich gebaut?

artechock: Verg­li­chen mit ihren bishe­rigen Filmen ist AMÉLIE unglaub­lich opti­mis­tisch und fröhlich. Woran liegt das?

Jeunet: Eben daran, dass ich drei düstere Filme gemacht hatte. Zudem enstanden Deli­ca­tessen und Die Stadt der verlo­renen Kinder in Zusam­men­ar­beit mit Marc Caro.Wenn man zu zweit vorgeht, kann man persön­liche Dinge nicht in dem gleichen Maße verwenden. Man bewegt sich in einem gemein­schaft­li­chen Universum. Marc Caro mag zum Beispiel keine Liebes­ge­schichten. Also hielt ich sie aus unseren Filmen heraus. Nach Die Stadt der verlo­renen Kinder wollten und mussten wir daher getrennt vonein­ander arbeiten. Ich glaube nicht, dass wir noch einmal einen Film zusammen machen werden.

artechock: Das Fernsehen spielt in Amélie eine sehr positive Rolle. Das über­rascht ein wenig,denn übli­cher­weise sehen Filme­ma­cher im Fernsehen eher einen Gegner. Betrachten sie das Medium generell so freund­lich?

Jeunet: Ich bin der König des Zappings und so finde ich jeden Tag das eine oder andere Inter­es­sante. Ich hatte einige schöne Sachen in meiner Kollek­tion, die ich für Amélie verwenden wollte. Zum Beispiel das Pferd, das neben den Tour-de-France-Renn­fah­rern herläuft. Sowas ist einfach wunder­schön. Insgesamt ist das Fernsehen natürlich ein großer Mist.

artechock: Die Kindheit ist in ihren Filmen immer eine harte und einsame Zeit. Teilen Sie diese Erfahrung?

Jeunet: Ja. Bis ich mit elf Jahren einen Bruder bekam war ich ein sehr einsames Kind. Mir war aber nie lang­weilig, weil ich mir viel ausge­dacht habe. Es gibt ein Foto von mir, auf dem ich vier oder fünf Jahre alt bin und völlig in mir selbst versunken mit Autos und Zügen spiele. Ich bin damals in meine Fantasie geflüchtet. Als ich etwa acht war, habe ich mir auch schon Filme ausge­dacht. In einem kleinen Puppen­theater habe ich sie meinen Eltern vorge­führt, die sogar Eintritt bezahlt haben.

artechock: Und später haben Sie dann für Ihren kleinen Bruder gespielt?

Jeunet: Ja. Er hatte es gut. Ich habe mir sogar olym­pi­sche Spiele in der Wohnung für ihn ausge­dacht. Und heute mache ich Ähnliches für meine Freundin: Ich verstecke ein Geschenk im Haus und leite sie mit Pfeilen und Hinweisen dorthin. Sie muss zum Beispiel den Kühl­schrank öffnen, in dem eine Arti­schocke mit einem Zettel­chen liegt. Dann muss sie den Fernseher anmachen und da sage ich dann wie es weiter­geht.

artechock: Sind Sie verärgert, dass Amélie nicht bei den Film­fest­spielen von Cannes lief?

Jeunet: Es war ein großer Skandal in Frank­reich. Als wir den Film einreichten, war er noch nicht völlig fertig, aber eigent­lich schon abge­schlossen. Dann hieß es, dass der Film nicht inter­es­sant sei. Wir waren sehr enttäuscht und sagten uns: Okay, vergessen wir es. Aber dann startete der Film in den Kinos und wurde ein riesiger Erfolg. Die ganze Presse in Cannes regte sich wahn­sinnig auf, dass er dort abge­wiesen worden war.

artechock: Ist der Erfolg eine Kompen­sa­tion dafür?

Jeunet: Ja. Es ist absolut verblüf­fend: Es wurde zu einem sozialen Ereignis, über den Film zureden, ihn zu erklären. Präsident Chirac hat Amélie sogar im Elysee-Palast gezeigt und mich während der Vorfüh­rung dauernd ange­stoßen: »Brilliant, Ihr Film, brilliant«.

artechock: Für Alien: Resur­rec­tion haben Sie erstmals in Hollywood gear­beitet. Hat es sich gelohnt?

Jeunet: Die ameri­ka­ni­schen Produ­zenten gehen davon aus, dass die Zuschauer dumm sind. Deshalb muss alles leicht vers­tänd­lich sein. Um das zu testen, machen sie Probe­vor­füh­rungen und lassen Dinge ändern, die nicht allen klar sind. Ich habe in den USA gelernt, stark zu sein und für meinen Film zu kämpfen. Bei Amélie war das aller­dings gar nicht nötig: Ich hatte den Final Cut, genügend Geld und Zeit. Es war sehr komfor­tabel.

artechock: Haben Sie erneut Angebote aus Hollywood bekommen?

Jeunet: Ja, besonders jetzt, wo sie Amélie gesehen haben. Miramax hat ihn gekauft und man ist dort sehr aufgeregt. Nach zwei erfolg­rei­chen Scree­nings in New York und New Jersey erwarten sie gute Einspiel­ergeb­nisse. Mal sehen, was für Vorschläge mir aus den USA unter­breitet werden. Ich möchte keinen dummen Action­film machen. Außerdem brauche ich jetzt ein bisschen Zeit. Ich muss mich in ein neues Thema verlieben.