St. Petersburger »Wochenschauen«

Russland 1998

Der Film beinhaltet:

Begräbnis des Soldaten, April 1995
Eröffnung eines McDonalds-Restau­rants, Oktober 1996
Sarkasmus, Oktober 1996
Vitrine, Januar 1997
Tiere beim Geld­ver­dienen, Januar 1997
„Miss Busen“, Mai 1997
Mysterium der Erwartung, November 1997
Club „Gesund­heit“, März 1997
Wein­ga­lerie, August 1997
Flaschen­sammler, Januar 1997
Oster­wei­te­rung der NATO, Oktober 1996
Menschen und Tradi­tionen, August 1997
Ivan Kupal-Nacht, Januar 1997
Direktor, Oktober 1997
Die Bergleute von Workuta, Januar 1998
Sylvester, Juli 1997

Während die aktuellen Bilder der Fern­seh­nach­richten immer weiter verschleißen, läßt das St. Peters­burger Doku­men­tar­film-Studio – dem wir 1997 in München eine große Retro­spek­tive gewidmet haben – Ereig­nisse mit Bedeutung noch auf 35 mm drehen und gekonnt montieren. Die 5-10-minütigen Zeit­do­ku­mente sind kleine Kunst­werke und werden wie Wochen­schauen im heimi­schen Kino gezeigt, ehe sie im Archiv gelagert werden. Sie liefern in ihrer Themen­viel­falt ein leben­diges Bild über den Zustand Rußlands; und dies in einer Film­sprache, die hier im Westen nur noch wenige beherr­schen.

Doku­men­tar­film im Kino

Was in der BRD die Wochen­schau, war für die Sowjet­bür­gerInnen bis zum Ende der Sowjet­union der Doku­men­tar­film vor dem Spielfilm. Das Lenin­grader Doku­men­tar­film-Studio produ­zierte jedes Jahr 120 Filme – „Lenin­grader Kino­chronik“, „Unsere Heimat“, „Nörd­li­cher Sonn­auf­gang“, „Sozia­lis­ti­sche Sowjet­re­pu­blik Komi“. Das Studio verfügte über ein weites Netz von Korre­spon­denten – von Murmansk und Arch­an­gelsk im Norden bis Brjansk im Süden, von Kali­nin­grad im Westen bis zum Ural im Osten. Die Filme wurden in vielen Kopien vor jeder Vorstel­lung eines Spiel­films in den Kinos gezeigt und waren norma­ler­weise 10 Minuten lang. Sie wurden vom Staat finan­ziert, der eine über­zeu­gende Leis­tungs­schau der sozia­lis­ti­schen Errun­gen­schaften forderte – von staat­li­chen Stellen konzi­piert, stellten sie einen nicht unwe­sent­li­chen Teil der Propa­ganda dar. Aus den Bildern mit solch ideo­lo­gi­schem Hinter­grund war die Wahrheit über die Vorgänge im Land kaum zu erfahren. Zurecht­ge­machte, gut instru­ierte „Helden“, die vorbe­rei­tete Texte von sich gaben – nur diese „Wahrheit“ war den Parteifüh­rern akzep­tabel und drückte ihre Ideologie aus. Mit dem Beginn der Pere­stroika unter Gorbat­schow verschwand ganz allmäh­lich auch die Partei­zensur. Es gab keine Kontrolle über den Inhalt der Doku­men­tar­filme mehr. Die staat­liche Finan­zie­rung ging aber zunächst weiter. Diese Situation erlaubte die Darstel­lung unter­schied­li­cher poli­ti­scher Sicht­weisen, freie Wahl dessen, wo und was gedreht wird, und garan­tierte die Möglich­keit der Vorfüh­rung. Als schwierig erwies es sich aber für den Doku­men­tar­film, seinen Platz inmitten der Massen­me­dien zu behaupten – im Gegensatz zu den Infor­ma­ti­ons­pro­grammen im Fernsehen waren und sind die Doku­men­tar­filmer unab­hängig von poli­ti­schen Konjunk­turen wie auch von Erwar­tungen und Sehge­wohn­heiten des Publikums. Während die TV-Nach­richten von reiner Tages­ak­tua­lität und zudem von der Konkur­renz der Sender unter­ein­ander bestimmt sind, berichtet der Doku­men­tar­film über Menschen nicht ausschließ­lich in ihrer sozialen Funktion. Sie können es sich erlauben, auf norma­ler­weise unbe­ach­tete Aspekte des Lebens ihrer Prot­ago­nis­tInnen zu achten, was im Fernsehen nicht möglich ist.
Leider fällt diese Freiheit in die Zeit der allge­meinen Krise in Rußland, die auch vor dem Film nicht Halt macht, und so auch das Ende der staat­li­chen Finan­zie­rung bedeutete. Gleich­zeitig wurden die Kino­vor­füh­rungen von Doku­men­tar­filmen einge­stellt. Dennoch stellen die in den letzten Jahren gedrehten Filme einen Wert dar und können z.B. für künftige Spiel­filme verwendet werden. Im Peters­burger Doku­men­tar­film-Studio sind die Negative sämt­li­cher seit 1957 gedrehter Filme erhalten. Die hier gezeigten Filme sind aus den Jahren 1997 und 1998 – die Wirk­lich­keit mit den Augen Peters­burger Doku­men­tar­filme am Ende unseres Jahr­hun­derts: Rußland, Peters­burg, unsere Zeit, unsere Probleme, unsere Prot­ago­nisten. Geschichte ist ein leben­diger Teil unseres Lebens und so, wie unser heutiges Selbst­ver­s­tändnis durch Doku­men­tar­filme früherer Jahre geprägt ist, so wird das Morgen durch die heute gedrehten Doku­men­tar­filme bestimmt sein.
Galina Antoševs­kaja