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06.11.2003
 
 
       

Auf Augenhöhe mit Orson Welles
Die Viennale 2003

 
 
Vorhang auf im Gartenbau Kino
   
 
 
 
 

Es hatte einen Hauch Symbolhaftigkeit, dass der zentrale Treffpunkt der Viennale 2003 im Dachgeschoß einer ehemaligen Sternwarte untergebracht war. Denn nach Stars hätte man auf dem Wiener Filmfest recht lange Ausschau halten müssen - es ist einfach nicht diese Art von Festival. Aber wenn wir schon beim Symbolhaften sind: Von der Dachterasse der Urania aus hatte man auch einen wunderbaren Blick auf das Prater-Riesenrad. Und: Quasi auf Augenhöhe mit Orson Welles - das passte auch zur Viennale.

Die Viennale ist ein waschechtes Publikumsfestival (was heißt: keine Preise, kein Medien-Massenbetrieb, kaum Markt- und Branchengedöns), und zwar ein Publikumsfestival für Cineasten, und zwar - das ist das Verblüffende - ein sehr erfolgreiches Publikumsfestival für Cineasten. Wien hat, neben seinen vielen anderen bekannten Vorzügen, offenbar auch im Kinobereich noch eine Kultur, auf die unsereins in Deutschland nur noch neidisch sein kann und wie man sie vergleichbar vielleicht sonst höchstens noch in Frankreich findet.

Das geht schon mit den Kinos selbst los - auch wenn da anscheinend in Wien schon längst nicht mehr alles selbstverständlich zu sein scheint und man während der Viennale en passant mitbekommen konnte, dass wohl auch hier, gerade angesichts der derzeitigen österreichischen "Regierung" (die sich umbildet wie andere Leute ihre Unterhemden wechseln), einiges an Kämpfen gefochten werden musste und muss, um den jetzigen Standard zu erreichen, ihn zu halten, möglicherweise auszubauen. Die Multiplexe scheinen für die Wiener Kinoszene weit weniger dominierend als die hiesigen für unsere, und Wien ist nicht nur in der glücklichen Lage, etliche Programm- und Filmkunstkinos sein eigen zu nennen, sondern kann auch noch genießen, dass die meisten davon sich einen ganz eigenen, gewachsenen Charakter bewahren konnten.

Die Viennale selbst fand in vier dieser Kinos statt; parallell dazu noch im schicken "Black Box"-Saal des österreichischen Filmmuseums (da stand wohl München kinoarchitektonisch Pate...) eine fabelhafte Reihe mit Filmen der legendären japanischen "Art Theatre Guild"-Independent-Produktion. Und schon da fängt man sich freilich an, viel wohler zu fühlen als auf der Berlinale oder dem Münchner Filmfest, wo man nur noch von einer austauschbaren Multiplex-Schachtel in die nächste gereicht wird. Am ehesten konnte das nüchterne Gefühl von Filmschauen als genormter Verrichtung noch im Urania-Kino aufkommen, das in seiner jetzigen Form auch erst unlängst eröffnet wurde - entsprechend neu aber immerhin auch die Projektionstechnik, und groß der Vorzug, in der ersten Reihe zur unbegrenzten Beinfreiheit auch noch den optimalen Abstand zur Leinwand zu haben. Wieviel Einfluss der Kinoraum selbst auf das Filmerlebnis haben kann, war hier in der Mitternachts-Reihe unmittelbar zu erfahren - deren Programm war nämlich ganz unserem geliebten Münchner Werkstattkino gewidmet und von demselbigen kuratiert. Und es war schon manchmal ein seltsames Gefühl, die schmutzigen Streifen, die man aus dem dunklen, heimelig muffigen Kellerloch kannte, plötzlich in diesem sauberen, schnieken Saal zu sehen.

Wahrscheinlich hätten sich diese Filme im Stadtkino schneller zu Hause gefühlt - und das nicht nur, weil es auch im wahrsten Wortsinn ein "Untergrundkino" ist, eine gute Etage tief unter dem Trottoir. Auch, weil es, obschon deutlich größer als das Werkstattkino, mit seinen dunkelgrauen Farben und den gut eingesessenen Kinositzmöbeln eine ähnlich düster-verführerische Filmgrotten-Atmosphäre hat. Das höchst charmante Metro-Kino hingegen war der perfekte Ort für die "Kinematographie elementar"-Reihe mit Funden aus den frühesten Film-Jahren oder Erich von Strohheims prima perverse Stummfilm-Variante der "Lustigen Witwe" - ein ehemaliges kleines Theater, mit Holztäfelung, Logen, Stuck an den Decken und einem Proszeniumsbogen-Leinwandversteck hinter zwei tief gestaffelten roten Vorhängen.

Für alle Filme, die von Intimität weniger profitierten, war hingegen das Gartenbau-Kino die erste Adresse: Sowas gibt's leider auf der Welt nur noch ganz selten - ein 736-Platz-Kino mit einer Leinwand, auf deren mächtige 110-Quadratmeter-Proportionen manch Cinemaxx neidisch sein kann, in bestens erhaltener historischer Bausubstanz und Kinoarchitektur (1960 erbaut und von damaligen Designvorstellungen durchtränkt, mit einer unregelmäßigen, teils geschichteten Wand- und Deckentäfelung aus groß genoppten, in diversen braun-, grün-, orange-Tönen gehaltenen Rechtecken), und das alles offenbar auch außerhalb der Viennale mit cineastischem Programm bestückt.

Wir wollen jetzt hier in keine fruchtlose Henne-und-Ei-Diskussion einsteigen, aber soviel ist klar: Auch wenn manches Angebot die Nachfrage überhaupt erst schafft, trägt sich eine solche Kinoszene (die in Wien wie gesagt noch einige andere, nicht an der Viennale beteiligte Programmkinos aufzuweisen hat) nicht, ohne dass ein entsprechend geneigtes Publikum von vornherein da wäre. Und auch da erlebt der deutsche Verhältnisse gewohnte Cineast auf der Viennale so seine Wunder: Es ging schon damit los, dass der Vorverkauf so gut lief, dass noch vor Beginn die Entscheidung fiel, einen zusätzlichen Festivaltag dranzuhängen mit Wiederholungen der begehrtesten Filme. Und allein der Blick auf's Programm dieses Zusatztages ließ stutzen - denn da fanden sich keineswegs die naheliegenden Kandidaten (sprich: Filme, die eh jeder schon kennt, die eine Woche später großen Kinostart haben, oder die mit berühmten Namen aufwarten können), sondern Sachen wie eine dreistündige, videoprojezierte Doku, LOS ANGELES PLAYS ITSELF.

In der Tat bescherte das Festival selbst dann in Sachen Publikumszuspruch manch angenehme Überraschung: Da konnte man am hellichten Werktag-Nachmittag in eine Emile de Antonio-Doku aus den '60ern gehen und das Kino ausverkauft vorfinden; da waren Mitternachts bei Werkstattkino-Kost wie LET ME DIE A WOMAN richtig Leute da (und zwar viel mehr, als im originalen Werkstattkino sich eingefunden hätten). Und egal zu welcher Zeit und in welchen Filmen: Da tummelten sich nicht überwiegend die andernorts typischen Cineasten-Gestalten, die der CINEMANIA-Doku entsprungen scheinen, die Film-Nerds und die Kein-Leben-außerhalb-des-Kinos-Haber; genausowenig die Festival-Adabeis, die nur da sind, weil man gesehen werden will, die Branchen-Schnösel und Luft-Wangenküsschen-Fraktion; und auch nicht die beflissenen Studienräte, die betroffen den Kopf schütteln wollen bei Flüchtlingselend-Filmen aus Armutsländern, oder das verirrte Samstagabend-Publikum, das den Filmtitel in der Zeitung gelesen hat und keine Ahnung, dass es ein usbekischer Experimentalfilm mit dänischen Untertiteln erwartet.

Nein, es waren zum größten Teil ganz normale, erstaunlich junge Menschen, die da die Säle füllten und fast immer einen verblüffend offenen und sachverständigen Eindruck hinterließen. Cineast scheint also in Wien kein gesonderter Beruf, keine gesonderte Berufung zu sein, sondern akzeptierte Nebentätigkeit für ganz gewöhnliche Menschen. Genau das ist es aber, was einem in anderen Städten, Ländern so oft fehlt, wenn einem das Kino eine der wichtigsten Sachen im Leben, aber eben nicht das einzige ist: Dieses Gefühl, dass Filme abseits des aktuellen Mainstreams noch ein Leben in unserer geistigen Welt haben, welches sich nicht auf den engen, geschlossenen Zirkel der üblichen cineastischen Verdächtigen beschränkt. Dass ihre Bilder und Ideen noch etwas anstoßen, was nicht sofort zurückprallt, wenn die Leinwandkante erreicht ist - dass sie irgendwo jenseits der Kinosäle und anderer Filme nachwirken.

Freilich, das Gras scheint immer grüner in Nachbars Garten, und als bloßer Wien-Besucher läßt sich leichter darüber hinwegsehen, dass auch während der Viennale Podiumsdiskussionen und ähnliches zum Zustand der österreichischen Filmlandschaft geboten waren, in denen es keineswegs darum ging, sich gegenseitig zufrieden zu bestätigen, wie schön doch alles sei. (Un)dank allgemeiner Wirtschaftsflaute und einer konservativen Regierung haben die Mainstream-Abtrünnigen unter den Filmschaffenden offenbar momentan auch in Austria kein leichtes Leben.

Aber unsereiner, der aus hiesigen Landen längst Schlimmeres gewohnt ist, guckt da halt gern ein bisserl weg und lenkt den Blick lieber auf die vielen anderen schönen Veranstaltungen, die der Viennale ihren angenehm, zugleich offenen und familiären Rahmen geben. Sei's, dass ein paar der angereisten Filmemacher sich des Nächtens im Festivalzentrum als DJs betätigen durften und ihre Liebelingsplatten auflegten; sei's ein Jazzkonzert mit Musik von Krzysztof Komeda; sei's ein unvergleichlicher literarischer Abend aus Anlass einer gezeigten Bukowski-Dokumentation, dessen Titel unbedingt wörtlich zitiert gehört: "Hermes Phettberg liest - schlecht - Charles Bukowski". (Natürlich war's in Wirklichkeit dann grandios, auch wenn Phettberg immer wieder drauf hinwies, dass er keine Ahnung von Bukowski habe, überhaupt nicht vorlesen könne, und dauernd Bemerkungen einstreute wie: "Des is a Veranstaltung im Rahmen der Legastenikerforschung.")

Als einer der letzten wichtigen Termine im Festival-Jahr und als Publikumsveranstaltung, die sich mit ihrem Programm nicht zwanghaft absetzten muss von den anderen Filmfestspielen, kann die Viennale eine schöne Kino-Spätlese bieten, in der der eifrige Cine-Tourist vieles entdecken wird, was ihm schon andernorts einmal dargeboten wurde. Da kann man dann viel Versäumtes nachholen oder seine Favoriten noch einmal genießen (Sabus KOFUKO NO KANE - THE BLESSING BELL beispielsweise, den ich schon auf der Berlinale hinreißend fand; oder 36TH CHAMBER OF THE SHAOLIN, vereinsamtes Überbleibsel der Shaw Bros.-Reihe aus Berlin, der auf der Leinwand des Gartenbaukinos umso grandioser wirkte).

Die Viennale schafft es irgendwie, ihr Augenmerk deutlich auf eine Art von Filmen zu lenken, die man gern "engagiert", "unabhängig" oder "politisch" nennt - und trotzdem nie den Eindruck zu erwecken, es ginge hier um Betroffenheits- und Bildungsbürgerkino, um Leinwand-Streichelzoos für unterdrückte Minderheiten oder dergleichen. Vielleicht liegt's daran, dass man nie das Gefühl hat, ein Film sei rein aus Prinzip ins Programm gehievt worden. Man meint, eine Liebe in der Auswahl zu spüren, als Ausgangspunkt eine persönliche Begeisterung für die Filme, sowie ein Bewusstsein dafür, dass ein Beitrag erstmal als Kino und dann vielleicht noch als Statement zu funktionieren hat. Und auch was die unverzichtbaren "großen" Filme, das Starkinos mit baldigem, weithin werbeunterstütztem Kinostart betrifft, beweist die Viennale Geschmack: Die Coen-Brüder und Lars von Trier sind ja nun wirklich Namen, die jedem Festival zur Zier gereichen - damit holt man sich nicht den Hauch des Hautgouts von kommerziellem Zugeständnis ins Programm.

Ein ebenso geglückter Griff war der Eröffnungsfilm, LOST IN TRANSLATION, mit dem Sofia Coppola (eine der wenigen persönlich anwesenden Berühmtheiten) beweist, dass zum einen THE VIRGIN SUICIDES kein einmaliger Glückstreffer war und sie zum anderen auch nicht auf eine starke Romanvorlage angewiesen ist. Ein wunderschöner Film über das Fremdsein in der Welt, mit Bill Murray als amerikanischem Filmstar, der in Japan einen Whiskey-Werbespot dreht und Scarlett Johansson als ebenfalls in Tokyo gestrandete Ehefrau eines jungen Photographen, von dem sie merkt, dass sie eigentlich gar nichts verbindet: Strangers in the japanese night, exchanging glances. Murray mit noch mehr amüsierter Resignation in Gesicht und Haltung, als man von ihm eh schon gewohnt ist, die kurze Zufalls-Freundschaft mit Johansson zum Glück nie mehr als die Zweckgemeinschaft zweier, die verstanden haben, wie fremd sie sich fühlen, in diesem seltsamen Japan, in dieser seltsamen Welt, in ihrem eigenen Leben. Aber statt Winterreise - fremd sind sie eingezogen, fremd ziehn' sie wieder aus - über allem eine gelöste Heiterkeit, weil die beiden so auch eine lächelnde Distanz zu allem haben, was die anderen ernst, normal und wichtig finden, sie im Fremden auch das Absurde sehen können. Nur hin und wieder schimmern im Augenwinkel ganz leicht die Tränen der Sehnsucht nach einem Dazugehörigkeitsgefühl.

Sofia Coppolas zweite Regiearbeit war nicht das einzig Beglückende an namhaftem US-Kino mit Billy Murrays Beteiligung, was die Viennale zu bieten hatte. Jim Jarmuschs COFFEE & CIGARETTES kannte man ja zum Teil schon lange - er versammelt die diversen Kurzfilme, die Jarmusch unter diesem Titel über die Jahre gedreht hat, in denen die Konstanten stets ein Tisch mit Schachbrettmuster, die im Titel genannten Genussmittel und die Anwesenheit von zwei oder mehr Kult-(Schauspieler)-Figuren sowie deren bevorzugt um Nichts kreisende Dialoge sind. Für die Kompilation hat er aber ein paar neue Episoden hinzugefügt, die teilweise diese Grundkonstanten noch etwas freier variieren (es gibt nicht mal immer Kaffee und Zigaretten...), und die - besonders geschickt in dem Kapitel mit RZA und GZA vom Wu-Tang Clan und eben Bill Murray - die Elemente aus den alten Filmchen aufgreifen und neu durchmischen. Fürchtet man also anfangs noch, diese absurden Schnurren, deren Reiz ja oft genug ihre improvisierte Nichtigkeit war, könnten keine anderthalb Stunden am Stück tragen, wird diese Spielfilmlängen-Version doch noch eine erstaunlich runde Sache, bekommen die späteren Episoden auch mehr Struktur und Tiefe (besonders schön ein Treffen zwischen Alfred Molina und Steve Coogan, in dem hinter höflicher Fassade ein herrlich fieser Kampf um Schauspieler-Eitelkeiten entbrennt), und am Schluss sitzen die arg alt gewordenen New Yorker Underground-Stars Bill Rice und Taylor Mead da, und plötzlich ist ganz viel Traurigkeit und Vergänglichkeit im Raum, und auf dem Soundtrack schwebt Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen" herein, was ja fast schon wieder zu LOST IN TRANSLATION passen würde.

Überhaupt war diese Viennale davon geprägt, dass die unterschiedlichsten Filme plötzlich seltsame Paarbildungen eingingen, oder sich ganze große Zirkel auftaten, in denen sich diverseste Streifen untereinander zu beleuchten, auszutauschen, zu kommentieren begannen.

Frederick Wisemans Doku DOMESTIC VIOLENCE 2 beispielsweise wurde da zum Parallelltext zu INTOLERABLE CRUELTY: Wo die Gebrüder Coen hinreißend die screwball-komödiantische Demontage des juristischen Jargons betreiben, mit dem das Gesetz eine Sprache zur Regelung des intimen Zusammenlebens zweier Menschen zu bieten versucht, zeigt der nüchterne, bewusst zermürbend ausführliche und repetetive Gerichtssaal-Blick von Wiseman die gleiche latente Absurdität ganz ähnlicher juristischer Vorgänge in einem beklemmend kafkaesken Licht. Fall um Fall, in unterschiedlichen Stadien der Prozesskette, ist die Kamera Zeuge, wie Vorkommnisse von Gewalt in Zweierbeziehungen vom juristischen Apparat im schnellstmöglichen Takt be- und abgearbeitet werden: Eine nicht enden wollende Litanei der immergleichen Formeln und Vorgänge, fast mechanisch, die da versuchen, persönliche Tragödien und Missverständnisse, herzzerreißende Dramen, absurde Komödien der Dummheit und der Herzensverirrung, irgendwie mess- und beurteilbar zu machen. Weil die Kamera die Gerichtssäle (vom "Video-Court", bei denen der Richter die Beschuldigten nur im Dutzendpack und auf dem Monitor vorgeführt bekommt, bis zu den Orten der Hauptverhandlungen wirken sie alle wie Amtsstuben, nicht wie die mythischen Orte der Gerechtigkeitsfindung aus Kino-Gerichtsdramen) nie verlässt, hat man auch als Zuschauer nicht mehr Zugang zur Wahrheit als die Richter selbst, muss auch mit dem frustrierenden Erlebnis fertig werden, dass man nie sicher wissen kann, wer von den Prozessbeteiligten lügt, und man immer nur kurze Blicke in private Höllen tun kann, aus denen sich offenbar die wenigsten aus eigener Kraft befreien wollen und können, weil das Alleinsein noch gruseliger scheint, als Gewalt angetan zu bekommen.

Sich nicht befreien können aus etwas, das eigentlich Glück, Freude versprechen sollte und doch nur Leid bringt: Das war auch das Thema von OWNING MAHOWNY, der zugleich eine Trias von Glückspieler-Filmen eröffnete. Philip Seymour Hoffman als Dan Mahowny sagt am Ende von Richard Kwietniowskis Film, das Glücksspiel sei für ihn das Aufregendste, Intensivste gewesen, was er erleben konnte - 100 von 100 möglichen auf einer Skala, auf der alles andere in seinem Leben allerhöchstens eine 20 erreichen könne. Aber so wie Hoffman ihn darstellt - ein Mann, der kaum je aufblickt, der dauernd seine Schuhspitzen zu betrachten scheint, ganz in seinem Kopf lebt - sieht dieser Bankangestellte, der sich durch Betrug die Millionensummen zum Verspielen besorgt, beim Spielen nicht einen Moment lang glücklich aus. Er ist getrieben, er kann nicht aufhören, er gewinnt nur - wie jemand im Film mal über ihn sagt -, damit er Geld zum Verlieren hat. Nichts interessiert ihn - nicht seine Freundin, nicht der Luxus, mit dem das Casino den geschätzten Gast gern verwöhnen würde. Und wahrscheinlich wüßte er wirklich nicht, was mit dem ganzen Geld anfangen, falls er es einmal partout nicht schaffen würde, alles zu verspielen. Paradoxerweise muss er zugleich zugeben "I was lucky": Dass die immer dreisteren Betrügereien an seiner Bank so ewig lang nicht auffallen, scheint an ein Wunder zu grenzen. Aber der Film läßt auch durchblicken, wie sehr sowohl die Bank als auch das Casino Geschäfte sind, die auf nicht weniger trügerischen Spieler-Hoffnungen ruhen als Mahownys Leidenschaft. Wenn großer Gewinn winkt, dann sehen auch deren Manager nur noch das, was sie sehen wollen.

Wahrscheinlich hat Dan Mahowny auch nur seinen Job verfehlt - er wäre eigentlich ein idealer Kandidat für jene Aufgabe, die Bernie Lootz (William Macy) in Wayne Kramers THE COOLER verrichtet: Im Auftrag des Casinos das an ihm förmlich klebende Pech an jene Tische tragen, wo gerade jemand eine Gewinnsträhne hat. Der zerknautscht einherschlurfende Macy ist freilich eine Idealbesetzung für diese Rolle; Alec Baldwin hingegen ist ungewohnt überzeugend als Casino-Chef der alten Schule, dem das ganze neue Las Vegas ein einziges Greuel ist (ein Hauch von Scorseses CASINO weht durcht den Film). Wie kaum anders zu erwarten, hat Bernie dann das Pech, plötzlich Glück zu haben, was ihm allerhand Probleme bringt. Ein ungeheur sympathischer Film, süß, aber überhaupt nicht süßlich, und mit dem Mut, sowohl wenn's weh tut nicht zu verharmlosen als auch den körperlichen Teil von Bernies unerwarteter Liebe zur schönen Natalie (wirklich zum Verlieben: Maria Bello) nicht hinter Weichzeichner und Schwarzblende zu verstecken.

Viel weniger knisterte es zwischen dem jungen Warren Beatty - asl einem weiteren Verlierer im Glück - und der erste Alterserscheinungen zeigenden Elizabeth Taylor in George Stevens THE ONLY GAME IN TOWN. Ein seltsamer, aber nicht uninteressanter, sehr theaterhafter Film, großteils in einem Appartment spielend, wo draußen vor dem Fenster ein erkennbares Modell die Nähe von Las Vegas vorgaukeln soll (gedreht wurde, weil die Taylor ihren Richard Burton nicht allein lassen wollte, in Paris). Beattys Joe Grady muss deswegen immer wieder so lange spielen, bis er alles zwischendurch Gewonnene verloren hat, weil er sonst irgendwann tatsächlich die Freiheit hätte, von der er immer redet und auf die er vorgeblich hinspart - und er merklich keine Ahnung hat, was er mit dieser Freiheit eigentlich anfangen würde. Solange er immer wieder auf Null kommt, ist es nicht seine Schuld, dass er als drittklassiger Barpianist in Vegas festhängt und nichts aus seinem Leben macht. Solange er aber den Traum beschwört, bald doch genug Geld zu haben, um abhauen zu können, muss er keine Verantwortung eingehen in seiner Beziehung zu Fran (Liz Taylor). Warren Beatty ist nun aber mal gerade in dieser frühen Phase einfach nicht der Star, dem man das am Schluss des Films stehende, wacklige Bekenntnis zur Ehe abkauft: Was ein Schritt in die Reife sein soll, wirkt als Feigheit des Films vor der eigentlichen Unverbesserlichkeit seiner Figuren und der sinsitren Dynamik der "screen personalities" von Beatty und Taylor - die schon latenten Verzweiflung einer Diva, die zumindest ahnt, dass sie nicht mehr so jung und schön ist wie einst, und dass Hollywood ihr das nicht verzeihen wird, und die grausam uninteressierte Art, mit der der strahlende, reservierte, berechnende Dandy sie ver- und vorführt.

Thomas Willmann

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