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30.10.2003
 
 
       

Ein Abstecher zur Viennale
Drei Filme auf dem Filmfest Wien 2003

 
 
Vincent Gallos THE BROWN BUNNY
   
 
 
 
 

Innerhalb von nur drei Tagen drei cineastische Highlights erleben zu können, auf die man sonst das ganze Jahr über verteilt warten müßte, dieses Vergnügen bieten einem nur Filmfestivals, und von diesen wiederum nur ganz bestimmte wie die Viennale in Wien: Gus van Sant ELEPHANT, Tsai Ming-liang BU SAN und Vincent Gallo THE BROWN BUNNY konnte ich in Wien sehen, Filme also, die hierzulande nicht unbedingt einen Verleih finden werden, und wenn, dann nur mit wenigen Kopien, so daß man nach dem bundesweiten Start, von dem man in Zeitungen durch Besprechungen erfährt, erst mal wochen-, ja monatelang und manchmal gar vergeblich warten muß, ehe sie z.B. in München eine Leinwand in einem Kino bekommen (aktuelle Beispiele für solche Ausfälle: LE FILS der Brüder Dardenne oder JUNTA von Mario Bechis).

Aber zurück zum Wiener Filmfest, das sich traut, in großer Dichte solche Filme zu zeigen, bei denen das Münchner Filmfest bloß desertierende Zuschauer fürchtet, eine Angst, für die in Wien allerdings tatsächlich keinerlei Berechtigung besteht, denn auch scheinbar unspektakuläre und wirklich unbekannte Filme aus Kasachstan oder Japan haben volle Säle ("ausreserviert" war eines dieser wienerischen Wörter, das ich bei der Beschaffung der Karten zu lernen hatte). Und manchmal, bei angesagteren Independents, herrscht im Kinofoyer ein Gedränge und eine Atmosphäre wie direkt vor der Bühne bei einem Rock-Konzert, wo man sich jeden Moment auf einen Stage-Diver über sich gefaßt machen muß.

Hans Hurch, der Leiter der Viennale, hat, so war es nachzulesen, das Motto von einem "primitiven" oder "rohen" Kino ausgegeben, das mit dem Wiener Programm vertreten werden sollte. Vielleicht dachte er dabei an Jacques Rivettes manifestartigen Text "Wir sind nicht mehr unschuldig" (1950), der im Begleitkatalog zur von der Viennale zusammen mit dem Österreichischen Filmmuseum veranstalteten Retrospektive mit Filmen Rivettes im letzten Jahr steht. (Die Reihe war dieses Jahr übrigens dem japanischen unabhängigen Kino des Art-Theatre-Guild-Studios von 1962 bis 1984 gewidmet). Rivettes emphatische Forderung nach einem Kino "des Protokollierens direkt aufs Filmmaterial", nach einem Kino, "das unvermittelt aufs Filmmaterial transkribiert, im direkten Kontakt der Kamera mit der Realität", ist vor allem gegen einen Realismus der Konvention gerichtet, in dem sich alle Beteiligten (inklusive des Zuschauers) schon vorab darauf geeinigt haben, was sie als Wirklichkeit ansehen und was nicht. So kann man ein Kino durchaus als primitiver oder ursprünglicher verstehen, das vor diese fest geschriebenen Konventionen zurückgehen und mit seinem Kamerablick etwas entstehen lassen will, was sich erst noch in einen Begriff, eine Form, eine (Seh)Erfahrung prägen lassen muß, wenn der Blick von Zuschauern darauf fällt.

Beim Sichten des Katalogs und Programms scheint sich das gar als roter Faden durch das Programm zu ziehen, diese dokumentierende Seite der Kinematografie, die Materialität der Realität registriert und die Siegfried Kracauers phänomenologische Theorie von der "Errettung der äußeren Wirklichkeit" im Kino zugrunde liegt.

Das geht beim Viennale-Trailer des Avantgarde-Filmers Ernie Gehr mit seinen Wolkenbildern an und reicht hinein bis in Stücke der Reihe "Kinematografie - elementar" aus der Sammlung des Filmarchivs Austria (etwa mit Pathé-Filmen aus den Jahren 1901 bis 1908). Fortsetzen tut sich das, dem Vernehmen nach, auch bei den aktuellen Filmen wie dem schon letztes Jahr auf der Viennale gezeigten GERRY von Gus van Sant, den ich leider verpasste und der Passagen "reiner Kinematographie" (so Christoph Huber über den Film, zitiert im Viennale-Katalog).


Gus van Sant

Auch Gus van Sants neuester Film ELEPHANT, der diesjährige Preisträger aus Cannes, folgt einem phänomenologischen Ansatz, wenn er in langen Einstellungen, gleichmütigen 360°-Schwenks und gelassenen Plansequenzen Schüler auf den Wegen und Gängen einer High-School verfolgt, einer High-School, die am Ende wie Columbine der Ort eines willkürlichen Massakers werden wird. Das quasi-dokumentarische Aufzeichnen der letzten Stunde vor dem Blutbad in der High-School, das Verfolgen einzelner, durch Inserts namentlich kenntlich gemachter Schüler wird dabei so genau genommen, dass etwa eine Szene, bei der sich drei der herausgehobenen Figuren begegnen, auch dreimal aus jeweils unterschiedlicher Perspektive wiederkehrt.

Das alles baut sich langsam, mit einem fast epischen Gleichmaß als harmloses, heiteres Mosaik auf, an einem schönen, sonnigen klaren Herbstmorgen, der sich immer mehr eintrübt: Diese zunehmende Verschlechterung des Wetters steht allerdings im Widerspruch zu bereits gezeigten Szenen, die denselben Vorgang, dieselbe Begegnung aus anderer Perspektive schon zeigten, am Anfang des Films herrschte in diesen Szenen Sonnenschein, aber je näher der Film auf seiner Zeitachse dem Massaker rückt, um so bedeckter ist der Himmel auch in denselben Szenen. Solche Brüche mit der Kohärenz des Raum-Zeit-Kontinuums, auf dessen Erzeugung andererseits mit den schnittlosen Plansequenzen so große Sorgfalt verwendet wird, zeigen an, dass van Sant nicht einer naiven Reproduktion des phänomenologischen Gestus aufsitzt, dass er mit der Unschuld des reinen Kamera-Blicks ein den Zuschauer betörendes Spiel treibt. Nicht umsonst ist einer der Schüler damit beschäftigt, zu photographieren und die Bilder zu entwickeln, eine Bewußtheit der medialen Vermittlung wird so signalisiert. Dass der Film allerdings mit einer längeren Rückblende aus dem so souverän gesetzten präsentischen Rahmen ausbricht, dass er damit doch formal dem Erklärungsdruck nachgibt, den er inhaltlich eigentlich zu negieren vorgibt, das schwächt diesen grandiosen Film in meinen Augen leider. Und wenn er in eben dieser Rückblende die beiden Täter an einem der Tage zuvor zusammen zeigt, dann wird diese Sequenz bei aller aufgebotenen Beiläufigkeit doch zu einer Tour de Force, in der in einer Art Multiple-Choice-Verfahren alle möglichen Erklärungsangebote wie Optionen versammelt werden (vom Video-Spiel über die Nazi-Dokumentation bis zu per Versand ins Haus gelieferten Waffen). Auch wenn klar ist, dass diese Erklärungsmuster in ihrer Häufung eine Überspitzung und Entwertung erfahren, dass sie in den Status der Unentscheidbarkeit überführt werden, überzeugender wäre es mir erschienen, sie wären hier gar nicht erwähnt worden.


Vincent Gallo

Auf eine erläuternde, illustrierende Rückblende wollte auch Vincent Gallo in seinem seit Cannes skandalumwitterten Film THE BROWN BUNNY am Ende nicht verzichten: Sein Held Bud Clay, gespielt von Gallo selbst, ein Motorradrennfahrer, ist quer durch die Staaten zum nächsten Rennen in einem Kleintransporter unterwegs, seine Maschine ist im Laderaum untergebracht. Die in Wien gezeigte Fassung weist gegenüber der in Cannes gezeigten angeblich einige Schnitte auf (sie enthält nach wie vor einen expliziten Blow Job), zeichnet sich allerdings durch bemerkenswert monotone, eintönige, handlungsarme Bilder vom Fahrersitz aus. Es werden auch keine besonders pittoresken, malerischen oder sonstwie konventionell schönen Hochglanz-Panoramen und Landschaftsaufnahmen gesucht. Die Suggestivität dieses Road Movies verdankt sich der kargen Ökonomie der verkümmerten, verarmten Empfindungswelt seines Protagonisten, der den Verlust seiner Liebe Daisy zu betrauern hat. Die Leere der Fahrten kann die innere Leere nicht füllen, die Bud Clay begegnenden Frauen, die Violet, Lily und Rose heißen, bilden eine Blumenkette von vergeblichen Substituten für die einzige Blume Daisy, nach ersten Annäherungsversuchen wird die Kontaktaufnahme von Bud immer wieder abrupt beendet.

Besonders beklemmend und bitter ist der Besuch irgendwo in den Tiefen der Provinz bei den alten Eltern von Daisy, wo Bud sich von der Mutter das Lieblingskaninchen (the brown bunny) seiner ehemaligen Geliebten zeigen läßt und sehr vage und evasiv von einem verlorenen Kind Daisys spricht. Später sehen wir Bud dann in einer Zoohandlung wieder, der Verkäufer erläutert, dass die Kaninchen höchstens sechs, sieben Jahre alt werden und offenbart damit den Selbstbetrug der Mutter, die Daisy schon wesentlich länger nicht gesehen hat und sich das Bunny als Ersatz für die verlorene Tochter hält. Auch Bud Clay schreitet zu dieser Ersatzhandlung.

Die Rückblende am Ende, die intermittierend zu seiner phantasmatischen, im Delirium des Blow Jobs sich auflösenden Wiederbegegnung mit Daisy geschnitten ist, gibt drastische Einblicke in das emotionale Desaster eines gekränkten Machos, der Film THE BROWN BUNNY erweist sich hier als anrührende, peinliche und schonungslose Selbstabrechnung, in der es Gallo gelingt, seinen exhibitionistischen und narzißtischen Hang zur Selbstdarstellung in einem Moment verzweifelter Aufrichtigkeit aufzuheben.

Gallos filmischer Stil ist ein experimentell-dokumentarischer, naiv ist aber auch sein Blick nicht, er ist geprägt und überformt von phantasmatischen Besetzungen, die die Wirklichkeit als Luftspiegelung und als von den Schmutzspuren der Windschutzscheibe durchsetzte Projektionsfläche vorführen. Am bezeichnendsten für den widersprüchlichen Wunsch dieses Blickes, selbst zu verschwinden in dem, was er erfaßt, aufzugehen in der Funktion des Schauens bis zur sich selbst bestrafenden Verlöschung, ist wohl die Einstellung, in der Bud Clay auf seiner Honda in die blendende Helle und das Flirren der Salzwüste hinein verschwindet.


Tsai Ming-liang

Kommunikationslosigkeit ist das große Thema in den Filmen des Taiwanesen Tsai Ming-liang. Immer wieder findet er im Räumlichen sich objektivierende Darstellungen der Entfremdung und Abgeschnittenheit. Sein filmischer Stil ist dabei enigmatisch und elliptisch: Man bekommt nichts erklärt und starrt erst einmal nur gebannt auf die Bilder, in denen die Dinge nur für sich einzustehen scheinen. Der Raum, den er in seinem neuen Film BU SAN (Goodbye Dragon Inn) zur Veranschaulichung verwendet, ist ein besonders exemplarischer: Es handelt sich um ein Kino in Taipeh, in dem die letzte Vorstellung gegeben wird, und zwar ein Schwertkampf-Klassiker von King Hu, DRAGON INN (aus dem Jahr 1966). Im riesigen Saal befinden sich nur vereinzelte, verlorene Gestalten, denen wir beim Zuschauen zuschauen.

Außerhalb des Saales ist die humpelnde Kartenverkäuferin mit ihrem Klumpfuß, die von ihrem Kassenhäuschen beschwerlich durch die öden Räume des Gebäudes zum Projektionsraum hoch steigt, um dem Vorführer die Hälfte von ihrem Essen, dem merkwürdigen rötlich-weißen, wie eine Dampfnudel aufgegangenen Teigball zu bringen. Ihre Abwesenheit unten nutzt ein junger Mann, um sich heimlich in den Saal zu schleichen. Er ist Japaner, er scheint die Anonymität des Kinosaals zu suchen, um dort verschwiegene Kontakte mit anderen Männern knüpfen zu können. Es entwickelt sich ein seltsamer, verstohlener Reigen zwischen Kinositzen und Toilette, rauchende, ewig am Pissoir stehende Männer, Männer, die durch ominöse mit Pappkartons voll geramschte Lagerräume zirkulieren, der Vorführer, der plötzlich von Gespenstern spricht, die durch das Kino spuken (einer der ganz wenigen Dialogsätze in diesem Film): all diese Szenen werden beherrscht von einem verhaltenen, abgründig komischen Slapstick, der mit der heroischen Action in DRAGON INN auf der Leinwand kontrastiert.

Doch der Gegensatz zwischen Kinosaal und Leinwand findet am Ende eine überraschende Auflösung, denn zwei der stoischen Betrachter sind tatsächliche Schauspieler aus dem Klassiker King Hus, darunter der öfter bei Tsai Ming-liang spielende Miao Tien (er hat einen kleinen Jungen dabei, dem er den Film zeigt). So ergibt sich eine raffinierte Verschränkung der Fiktionsebenen, die auch einen elegischen Kommentar zu Vergängnis und Bewahrung, zur Dialektik von Augenblick und Dauer in der Kinokunst darstellt.

Das Ganze gipfelt in einer minutenlangen starren Einstellung auf den leeren Kinosaal, nachdem ihn die letzten Zuschauer verlassen haben: Man selbst fühlt sich plötzlich gar nicht mehr berechtigt, auf seinem Platz im Kino sitzen zu bleiben, man fühlt sich geradezu aufgefordert, jetzt auch das Kino zu verlassen, so sehr beginnt einen dieser leere Saal auf der Leinwand als bedrohliche Vision zu ängstigen, ja zu quälen. Und draußen regnet es sintflutartig, durch undichte Stelle tropft es überall herein, die Kartenverkäuferin schließt ab, der Vorführer schließt ab, jeder geht seiner Wege im Regen, ein trauriger, nostalgischer Schlager setzt ein.

So setzt Tsai Ming-liang der Unschuld eines ursprünglichen Kinovergnügens seiner Kindheit ein Denkmal, als ihn sein Großvater mitnahm in die Filme, so wie Miao Tien hier seinen Enkel zu DRAGON INN mitnimmt. Die Gespenster der Vergangenheit gegenwärtig zu machen, diese ambivalente Kraft der Bilder zu beschwören und gleichzeitig zu hinterfragen, das ist die große Kunst des beharrlichen Kamerablicks bei Tsai Ming-liang. Man kann sich kaum einen schöneren Film für ein Filmfest vorstellen, das sich so sehr der Cinephilie verschrieben zu haben scheint wie die Viennale.

Wolfgang Lasinger

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