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25.09.2003
 
 
         

Tote, Untote und die Rückkehr des engagierten Kinos
Filme von Julio Medem, Michael Winterbottom und Jan Schütte beim Filmfestival von San Sebastián

 
       
 
 
 
 

Ob Emmanuelle Béarts Busen wohl geliftet ist? Auch das ist eine Frage, die sich stellt, wenn man Jacques Rivettes neuen Film HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN ansieht. Der Altmeister der Nouvelle Vague hat diesmal einen überaus geheimnisvollen Liebesthriller gedreht - man darf wieder einmal an Rivettes alten Liebling Hitchcock und seinen VERTIGO denken, und braucht überhaupt einen Sinn für Parallelwelten in diesem Film, auch einen für Edgar Allen Poe und die Motive der schwarzen Romantik. Denn HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN ist auch eine Geistergeschichte für Arthouse-Fans. Aber wenn Geister so schön sind, wie Emmanuelle Béart, die hier die Hauptrolle spielt, dann kann selbst das Totenreich nicht mehr schrecken.

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Es ist sehr warm in San Sebastián. Temperaturen von fast 30 Grad locken die Menschenmassen noch einmal an den Strand, der mit seiner muschelförmigen Bucht aussieht, wie eine Mini-Ausgabe der Copacabana.

Aber auch in den Kinos der eigentlich ein bisschen verschlafen wirkenden baskischen Küstenstadt in denen gerade zum 51. Mal das renommierte Filmfestival läuft, geht es heiß her: Förmlich mit Händen zu greifen war die Spannung bei der Premiere von Julio Medems neuem Film. Unter dem komplizierten Titel LA PELOTA VASCA, LA PIEL CONTRA LA PIEDRA (wörtlich etwa: "Das baskische Ballspiel, die Haut gegen den Stein") hat der Regisseur von so poetisch-verspielten Autorenfilmen wie DIE LIEBENDEN DES POLARKREIS und LUCIA UND DER SEX nun eine handfeste politische Dokumentation über seine baskische Heimat gedreht, die schon im Vorfeld für heftigste Kontroversen sorgte. Minister der rechten Madrider Zentralregierung überboten sich in grober Polemik, ohne den Film überhaupt gesehen zu haben, aber auch einige Interviewpartner und pro-baskische Aktivisten distanzierten sich bereits vorab. Ganz offensichtlich hat Medem in ein Wespennest gestochen.

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Als er dann vor Vorstellungsbeginn den überfüllten Saal betrat, empfing ihn tosender, sicher drei, vier Minuten langer Applaus. Auf der Bühne zeigt sich Medem zurückhaltend, aber bestimmt: "Mein Film ist wie ein Vogel, der über Schmerz und Leid fliegt, voller Respekt, aber wohin er will." In wenigen freigesprochenen Worten formulierte der Regisseur sehr konzentriert und ohne direkte Polemik ein Plädoyer für die Freiheit der Worte und Gedanken.

Ähnlich lässt sich auch sein Film verstehen: Mehr als zwei Dutzend Personen aus allen Lagern, Künstler und Politiker, Opfer und gewaltbereite Aktivisten, hat Medem interviewt, die Gespräche sorgfältig montiert, und mit baskischen Liedern unterlegt, die vor allem um das Massaker von Guernika - eben so gut ein Verbrechen Nazideutschlands, wie der mit ihnen verbündeten Franco-Faschisten - kreisen. Kühl und ohne Zurückhaltung benennt Medem darin den Terror der ETA (dem unter Franco 40, während der Demokratie aber über 700 Menschen zum Opfer fielen) und verweigert sich im selben Moment der in Madrider Perspektive beliebten Gleichsetzung von Nationalismus und Terror.

Zusammengehalten wird alles durch den titelgebenden baskischen Nationalsport Pelota, das - spröde, leidenschaftlich, von vielen als "das reine Spiel" vergöttert - bei Medem zur Metapher des Baskischen an sich wird: In immer wiederkehrenden Zwischenschnitten, manchmal auch alten Dokus, zeigt Medem Härte und Kunst des Pelota, montiert es in rhythmische Parallelen mit Schlachthausszenen, Axthieben von Bauern, Schüssen aus Kinofilmen über ETA- und Franco-Terror, und manchmal mit Sätzen der Interviewten. Das alles ist von der ersten Minute an spannend bis zum Schluss, emotional und pathetisch, ein Film, bei dem Erfahrungen im Zentrum stehen, nicht Thesen. Doch verliert Medem nie die Kontrolle - selbst dann nicht, als er nach Bildern des historischen Guernika-Angriffs auf eine Szene schneidet, in der Krüppel ohne Bein oder Arm Pelota spielen...

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Medems Film steht für einen allgemeinen Trend vor allem im europäischen Kino: Die Wiederentdeckung des cinema engagée, Filme, die aus dem Salon der "reinen Kunst" hinaus in die Welt treten, und auch moralisch und politisch klar Position beziehen. Dabei bleiben sie immer "dicht dran", ihr Politik-Begriff ist ganz persönlich, auf dem konkreten Eindruck basierend. Wie nur wenige andere steht auch Michael Winterbottom steht für diese Tendenz. Dem Werk des erst 42jährigen britischen Vielfilmers (16 Filme in 13 Jahren) ist hier eine vollständige Retrospektive gewidmet. Mit IN THIS WORLD, gerade in Deutschland angelaufen, gewann Winterbottom im Februar die Berlinale - eine überfällige Anerkennung. Der Film schildert die Odyssee zweier afghanischer Jungen ins Gelobte Land des Westens: Manchmal ein bisschen zu gefällig, erhält der Film seine Stärke dadurch dass er jederzeit subjektiv und parteiisch ist, auch dem Zuschauer den distanzierten Rückzug nicht mehr gestattet. Noch besser gelingt dies in dem ganz neuen CODE 46. Winterbottoms erster Science-Fiction entfaltet die Vision einer irritierend vertrauten und dabei doch beklemmend fremden Zukunft. Ähnlich wie in Andrew Niccols GATTACA sieht sie recht aseptisch aus, ist von avancierter Technik, Wassermangel und vor allem einer strengen genetischen Hierarchie bestimmt - und die Weltsprache ist chinesisch. Die glänzend spielenden Tim Robbins und Samantha Morton sind das Mädchen und der Kommissar in dieser Detektivgeschichte und werden zum verbotenen Liebespaar. Was CODE 46 vor allem zu einer bestechenden, intensiven Erfahrung macht, ist seine imaginative Kraft, die Poesie, die der Mischung aus traumartiger, Trance-Atmosphäre und latenter Bedrohung liegt. Wie jeder gute Science-Fiction handelt CODE 46 von unserer Gegenwart, bietet eine faszinierende Reflexion zum Thema Überwachung und Strafe, einem Sicherheitswahn, der auf Kosten der Freiheit geht.

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Auch das übrige Programm, das in sieben Sektionen an zehn Tagen über 170 Filme zeigt, viele von ihnen in Welt- oder Europapremieren, ist weitaus politischer, als etwa das von Venedig vor wenigen Wochen. In Deutschland hat sich die Bedeutung dieses Festivals trotzdem noch immer nicht richtig herumgesprochen. Während die Franzosen aber mit 36, die Engländer mit 26, die Italiener immer noch mit 19 Journalisten berichten, trifft man hier gerade mal zehn Kollegen aus Deutschland.

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Sie könnten hier auch bereits SUPER TEX sehen, den neuen Film von Jan Schütte (DRACHENFUTTER), den dieser lieber hier zeigte, als in Venedig: eine Geschichte vom späten Erwachsenwerden, angesiedelt in der jüdischen Oberklasse des gegenwärtigen Amsterdam. Nach dem gleichnamigen Roman von Leon de Winter erzählt Schütte von Max, dem starken, aber verschlossenen Sohn eines dominanten Vaters. Ganz ödipal rebelliert der Sohn erst, dann schlüpft er immer besser in die Rolle des allmählich abdankenden Alten, um sie am Ende perfekt auszufüllen. Wie Schütte das dezent und mit viel Aufmerksamkeit fürs Detail erzählt, hat mehr Format als man vom deutschen Kino gewohnt ist, und weitaus mehr Geschmack als etwa Margarethe von Trottas ROSENSTRASSE. Vor allem aber hat der Film viel Humor, und ein heitere Leichtigkeit im Ernst, die stellenweise an Woody Allen denken lässt. Das Publikum belohnte Schütte mit standing ovations.

Rüdiger Suchsland

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