Ob Emmanuelle Béarts Busen wohl geliftet ist? Auch
das ist eine Frage, die sich stellt, wenn man Jacques Rivettes
neuen Film HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN ansieht. Der Altmeister
der Nouvelle Vague hat diesmal einen überaus geheimnisvollen
Liebesthriller gedreht - man darf wieder einmal an Rivettes
alten Liebling Hitchcock und seinen VERTIGO denken, und braucht
überhaupt einen Sinn für Parallelwelten in diesem
Film, auch einen für Edgar Allen Poe und die Motive der
schwarzen Romantik. Denn HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN ist auch
eine Geistergeschichte für Arthouse-Fans. Aber wenn Geister
so schön sind, wie Emmanuelle Béart, die hier
die Hauptrolle spielt, dann kann selbst das Totenreich nicht
mehr schrecken.
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Es ist sehr warm in San Sebastián. Temperaturen von
fast 30 Grad locken die Menschenmassen noch einmal an den
Strand, der mit seiner muschelförmigen Bucht aussieht,
wie eine Mini-Ausgabe der Copacabana.
Aber auch in den Kinos der eigentlich ein bisschen verschlafen
wirkenden baskischen Küstenstadt in denen gerade zum
51. Mal das renommierte Filmfestival läuft, geht es heiß
her: Förmlich mit Händen zu greifen war die Spannung
bei der Premiere von Julio Medems neuem Film. Unter dem komplizierten
Titel LA PELOTA VASCA, LA PIEL CONTRA LA PIEDRA (wörtlich
etwa: "Das baskische Ballspiel, die Haut gegen den Stein")
hat der Regisseur von so poetisch-verspielten Autorenfilmen
wie DIE LIEBENDEN DES POLARKREIS und LUCIA UND DER SEX nun
eine handfeste politische Dokumentation über seine baskische
Heimat gedreht, die schon im Vorfeld für heftigste Kontroversen
sorgte. Minister der rechten Madrider Zentralregierung überboten
sich in grober Polemik, ohne den Film überhaupt gesehen
zu haben, aber auch einige Interviewpartner und pro-baskische
Aktivisten distanzierten sich bereits vorab. Ganz offensichtlich
hat Medem in ein Wespennest gestochen.
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Als er dann vor Vorstellungsbeginn den überfüllten
Saal betrat, empfing ihn tosender, sicher drei, vier Minuten
langer Applaus. Auf der Bühne zeigt sich Medem zurückhaltend,
aber bestimmt: "Mein Film ist wie ein Vogel, der über
Schmerz und Leid fliegt, voller Respekt, aber wohin er will."
In wenigen freigesprochenen Worten formulierte der Regisseur
sehr konzentriert und ohne direkte Polemik ein Plädoyer
für die Freiheit der Worte und Gedanken.
Ähnlich lässt sich auch sein Film verstehen: Mehr
als zwei Dutzend Personen aus allen Lagern, Künstler
und Politiker, Opfer und gewaltbereite Aktivisten, hat Medem
interviewt, die Gespräche sorgfältig montiert, und
mit baskischen Liedern unterlegt, die vor allem um das Massaker
von Guernika - eben so gut ein Verbrechen Nazideutschlands,
wie der mit ihnen verbündeten Franco-Faschisten - kreisen.
Kühl und ohne Zurückhaltung benennt Medem darin
den Terror der ETA (dem unter Franco 40, während der
Demokratie aber über 700 Menschen zum Opfer fielen) und
verweigert sich im selben Moment der in Madrider Perspektive
beliebten Gleichsetzung von Nationalismus und Terror.
Zusammengehalten wird alles durch den titelgebenden baskischen
Nationalsport Pelota, das - spröde, leidenschaftlich,
von vielen als "das reine Spiel" vergöttert
- bei Medem zur Metapher des Baskischen an sich wird: In immer
wiederkehrenden Zwischenschnitten, manchmal auch alten Dokus,
zeigt Medem Härte und Kunst des Pelota, montiert es in
rhythmische Parallelen mit Schlachthausszenen, Axthieben von
Bauern, Schüssen aus Kinofilmen über ETA- und Franco-Terror,
und manchmal mit Sätzen der Interviewten. Das alles ist
von der ersten Minute an spannend bis zum Schluss, emotional
und pathetisch, ein Film, bei dem Erfahrungen im Zentrum stehen,
nicht Thesen. Doch verliert Medem nie die Kontrolle - selbst
dann nicht, als er nach Bildern des historischen Guernika-Angriffs
auf eine Szene schneidet, in der Krüppel ohne Bein oder
Arm Pelota spielen...
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Medems Film steht für einen allgemeinen Trend vor allem
im europäischen Kino: Die Wiederentdeckung des cinema
engagée, Filme, die aus dem Salon der "reinen
Kunst" hinaus in die Welt treten, und auch moralisch
und politisch klar Position beziehen. Dabei bleiben sie immer
"dicht dran", ihr Politik-Begriff ist ganz persönlich,
auf dem konkreten Eindruck basierend. Wie nur wenige andere
steht auch Michael Winterbottom steht für diese Tendenz.
Dem Werk des erst 42jährigen britischen Vielfilmers (16
Filme in 13 Jahren) ist hier eine vollständige Retrospektive
gewidmet. Mit IN THIS WORLD, gerade in Deutschland angelaufen,
gewann Winterbottom im Februar die Berlinale - eine überfällige
Anerkennung. Der Film schildert die Odyssee zweier afghanischer
Jungen ins Gelobte Land des Westens: Manchmal ein bisschen
zu gefällig, erhält der Film seine Stärke dadurch
dass er jederzeit subjektiv und parteiisch ist, auch dem Zuschauer
den distanzierten Rückzug nicht mehr gestattet. Noch
besser gelingt dies in dem ganz neuen CODE 46. Winterbottoms
erster Science-Fiction entfaltet die Vision einer irritierend
vertrauten und dabei doch beklemmend fremden Zukunft. Ähnlich
wie in Andrew Niccols GATTACA sieht sie recht aseptisch aus,
ist von avancierter Technik, Wassermangel und vor allem einer
strengen genetischen Hierarchie bestimmt - und die Weltsprache
ist chinesisch. Die glänzend spielenden Tim Robbins und
Samantha Morton sind das Mädchen und der Kommissar in
dieser Detektivgeschichte und werden zum verbotenen Liebespaar.
Was CODE 46 vor allem zu einer bestechenden, intensiven Erfahrung
macht, ist seine imaginative Kraft, die Poesie, die der Mischung
aus traumartiger, Trance-Atmosphäre und latenter Bedrohung
liegt. Wie jeder gute Science-Fiction handelt CODE 46 von
unserer Gegenwart, bietet eine faszinierende Reflexion zum
Thema Überwachung und Strafe, einem Sicherheitswahn,
der auf Kosten der Freiheit geht.
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Auch das übrige Programm, das in sieben Sektionen an
zehn Tagen über 170 Filme zeigt, viele von ihnen in Welt-
oder Europapremieren, ist weitaus politischer, als etwa das
von Venedig vor wenigen Wochen. In Deutschland hat sich die
Bedeutung dieses Festivals trotzdem noch immer nicht richtig
herumgesprochen. Während die Franzosen aber mit 36, die
Engländer mit 26, die Italiener immer noch mit 19 Journalisten
berichten, trifft man hier gerade mal zehn Kollegen aus Deutschland.
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Sie könnten hier auch bereits SUPER TEX sehen, den neuen
Film von Jan Schütte (DRACHENFUTTER), den dieser lieber
hier zeigte, als in Venedig: eine Geschichte vom späten
Erwachsenwerden, angesiedelt in der jüdischen Oberklasse
des gegenwärtigen Amsterdam. Nach dem gleichnamigen Roman
von Leon de Winter erzählt Schütte von Max, dem
starken, aber verschlossenen Sohn eines dominanten Vaters.
Ganz ödipal rebelliert der Sohn erst, dann schlüpft
er immer besser in die Rolle des allmählich abdankenden
Alten, um sie am Ende perfekt auszufüllen. Wie Schütte
das dezent und mit viel Aufmerksamkeit fürs Detail erzählt,
hat mehr Format als man vom deutschen Kino gewohnt ist, und
weitaus mehr Geschmack als etwa Margarethe von Trottas ROSENSTRASSE.
Vor allem aber hat der Film viel Humor, und ein heitere Leichtigkeit
im Ernst, die stellenweise an Woody Allen denken lässt.
Das Publikum belohnte Schütte mit standing ovations.
Rüdiger Suchsland
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