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"Sie waren Kinder ihrer Zeit. Sie fühlten sich
wohl in ihrer Haut. Sie waren alles andere als dumm. Vor allem
aber gab es das Kino." - in Georges Perecs 68er-Roman
"Die Dinge" wird beispielhaft beschrieben, wie eng
das Kino, genauer die französische Nouvelle Vague mit
der Revolte von 1968 verflochten war. In der Pariser Cinémathèque
Française des Henri Langlois beginnt THE DREAMERS,
der neue, überaus bewegende Film von Bernardo Bertolucci,
der im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig außerhalb
einer Konkurrenz lief, der er mühelos hätte standhalten
können. Eine Liebeserklärung an das Kino: Auch hier
wird die Filmerfahrung, werden Werke wie AUSSER ATEM von Godard,
SCHOCK CORRIDOR von Fuller und Bressons MOUCHETTE zur Initiation
grundlegender Veränderung. Längst, so scheint es,
hat das Kino diese Träume von einst begraben. Aber bei
Festivals wie diesen, in denen man mit den Werken der - inzwischen
- alten Meister des Autorenfilms auch für Augenblicke
noch einmal in deren Träume eintauchen darf, könnte
die Begegnung auch selbst zum Auslöser neuer Veränderungen
und Aufbrüche werden. Die Hoffung jedenfalls soll man
nicht aufgeben.
"Non, je ne regrette rien." - "Ich bedaure
nichts" singt Edith Piaf, und man darf sicher sein, dass
dieses Bekenntnis auch für Bertolucci selber gilt. In
THE DREAMERS erklingt das Chanson ganz am Ende eines Films,
der voller Rock und Pop ist, die Wildheit des Pariser Mai
rekapituliert, aber auf eine Weise, wie man es noch nie gesehen
hat. Denn Bertolucci, der oft genug erklärte, dass wir
wieder ein anderes Verhältnis zu dieser Epoche des Aufbruchs
finden müssten, dass es mit der üblichen billigen
Verdammung oder ihrer verabschiedenden Historisierung nicht
getan sei, erliegt selber nicht der Versuchung, die eigene
Jugend einfach zu beschwören. THE DREAMERS ist vielmehr
eine ziemlich unbequeme Selbstbefragung.
Den Rahmen bildet die merkwürdige "ménage
à trois" zwischen einem französischen Geschwisterpaar
und ihrem amerikanischen Freund. Als die Eltern für Wochen
aufs Land fahren, wird deren Wohnung zur Insel der Seligkeit.
So erzählt Bertolucci den "Mythos 1968" nicht
als Geschichte der Politisierung und öffentlicher Demonstrationen,
nicht der Barrikadenkämpfe und Polizeischlägereien,
sondern einer privaten, oberflächlich betrachtet, unpolitischen
Entdeckungsreise. Ohne eine gewisse Nostalgie oder das eigene
Pathos zu verleugnen, zeigt der Regisseur doch auch illusionslos
die Tristesse. Eine untergründige Trauer liegt in allen
Blicken. Vor allem aber will der Film das Abgegriffene und
Bekannte vermeiden, mit dem man diese Zeit in immer wieder
den gleichen Bildern schildert. Darum verharrt er fast den
ganzen Film über im bürgerlichen Salon, als dem
Ausgangspunkt der Revolte, beschreibt einen psychoanalytischen
Kontext und scheut auch vor einer umgedrehten Urszene - quasi
unschuldige Eltern überraschen die Kinder im Wohnzimmer
beim Sex - nicht zurück. Musikalisch das Gleiche: Gespielt
werden zwar die Doors und Jimi Hendrix, aber eben Nebenwerke
und Unbekanntes. Der ganze Film bleibt bis zum Ende unvorhersehbar,
findet immer wieder neue Wendungen für seine Geschichte
- ein mutiger Schlag ins Gesicht aller auch im Berlusconi-Italien
weitverbreiteten Anti-68er.
Einen schönen Nebenstrang bildet die Filmvernarrtheit
der Drei. Immer wieder werden kurze Filmszenen eingespielt,
und zum Teil nachgelebt. Am Ende aber muss es damit genug
sein, der Auszug aus dem Paradies ist der aus der Verwechslung
von Kino und Leben.
Auch Margarethe von Trotta hat ihr persönliches '68
gelebt, und auch sie bedauert vermutlich nicht viel, hat vielmehr
versucht, bis in ihre letzten Filme an den politischen Ideen
jener Jahre festzuhalten, sie in die Aktualität weiterzutragen.
Nach 22 Jahren kehrte sie nun an den Lido zurück, wo
sie 1981 ihren größten Triumph erlebte. Mit DIE
BLEIERNE ZEIT, der bis heute präzisesten Auseinandersetzung
mit dem deutschen Terrorismus im Spielfilm, gewann sie den
Goldenen Löwen. Über die Jahre ist sie ihrem Kernsujet
treu geblieben: Immer wieder ging es - von ROSA LUXEMBURG
(1986) bis zum starken TV-Mehrteiler JAHRESTAGE - um starke
Frauen in der Männerwelt, ihre Selbstbehauptung.
Um allerdings selbst den Nationalsozialismus noch zum Vehikel
eines Emanzipationsdramas zu degradieren, gehört schon
ein erstaunliches Maß an Ignoranz: In Trottas ROSENSTRASSE,
dem einzigen deutschen Beitrag im Hauptwettbewerb der Mostra
ist der Faschismus wieder einmal genau 100 Meter lang und
steht in Babelsberg. Die ROSENSTRASSE ist die immergleiche
Hausecke mit der immergleichen Pflasterstraße und dem
immergleichen Licht, die schon in AIMEE UND JAGUAR, in DER
PIANIST und zuletzt in HERR LEHMANN sowie einem weiteren halben
Dutzend Babelsberg-Drehs heranhalten musste, wenn es galt,
deutsche Vergangenheit zu illustrieren. Auch sonst sind wir
im vertrauten Terrain der mundgerechten Konsumierbarkeit von
Auschwitz, wo die Nazis blitzblanke Uniformen tragen, laut
schreien und auch mal böse in die Luft schießen
- und ansonsten von grundguten Deutschen umzingelt sind.
ROSENSTRASSE verdichtet historisch verbürgte Ereignisse
im Berlin des März 1943, als ca. 2000 Juden aus "Mischehen"
interniert und ihr Abtransport ins Lager vorbereitet wurde.
Doch deren Ehefrauen protestierten öffentlich und erreichten
nach kurzer Zeit die Freilassung - eines der wenigen Beispiele
von zivilem Ungehorsam im Dritten Reich. Von Trotta teilt
die Vorgänge in eine Rahmenepisode, die in der Gegenwart
von einer jungen amerikanischen Jüdin erzählt, die
der Vergangenheit ihrer Mutter nachforscht und in das Schicksal
einer Protestlerin. Katja Riemann hat in dieser Rolle einen
ihrer besten Auftritte seit langem. Doch vor allem der Umgang
mit dem historischen Stoff überzeugt kaum. Von der überflüssigen
und -komplizierten Rahmenhandlung abgesehen, benutzt das Drehbuch
die Judenverfolgung nur als Kulisse fürs private Melodram
und zur kulturpolitisch verwertbaren Dienstleistung: Frauenpower
1943 - nichts ist zu spüren von Abgründen, vom Terror,
von Todesangst. Goebbels ist ein blasierter Zwerg, der sich
von Katja Riemann gern rumkriegen lässt, um als Belohnung
dann mal den Holocaust kurz wieder abzublasen - eine peinliche
Banalisierung des Nazi-Terrors.
Die Umstände des Rosenstraßen-Protests bleiben
dagegen ungeklärt, viele Fragen offen - und die allzu
langsame und altbackene, dabei grelle Inszenierung wirkt seltsam
unauthentisch.
Aber die Hauptsache bei einem Festival wie diesem sind die
Neuentdeckungen. Irgendwo müssen sie doch sein, die Godards,
Truffauts und Antonionis der Zukunft, die das Kino von morgen
revolutionieren? Die Gegenüberstellung und den künstlerischen
Konflikt verschiedener Generationen hat man bei diesem Filmfestival
quasi schon institutionalisiert. Denn neben dem renommierten
Hauptwettbewerb gibt es noch eine zweite, nahezu gleichberechtigte
Konkurrenz: Schon ihr Name "Controcorrente" soll
programmatisch darauf hinweisen, dass hier das sperrigere,
frischere, experimentelle Kino zu finden sei, das "gegen
den Strom schwimmt" - im Unterschied zum mitunter etwas
altbackeneren, repräsentativeren, stilistisch älteren
und gediegeneren Hauptwettbewerb. Ein unbekannter junger Godard
hätte heute jedenfalls keine Chance auf eine Teilname
im Hauptwettbewerb.
In diesem Jahr wurden derartige Versprechen zweifellos erfüllt:
In einem insgesamt starken Festival liefen zumindest drei
der besten Filme im "Controcorrente". Tatsächlich
ist LOST IN TRANSLATION von Sofia Coppola, der Tochter des
großen Francis Ford, eine subtile, überaus kluge
Geschichte einer Generationenbegegnung. Coppola erzählt
die nur scheinbar abgegriffene Geschichte vom alten Mann und
dem Mädchen ganz neu und frisch, dabei keusch und in
atemberaubend schönem, an den pastelligen Bilderzauber
des japanischen Kinos angelehnten Stil. Ein alternder Schauspieler
trifft auf eine unglückliche junge Ehefrau. Komiker Bill
Murray glänzt in einer fast traurig-melancholischen Rolle,
und amüsiert zugleich - als Frank Sinatra und Dean Martin-Imitator,
aber auch weil der Film in aller Tiefe doch auch eine sehr
gelungene Satire auf das Verhältnis des Westens zu Japan
ist - das ungleiche Paar verliebt sich nämlich in den
gesichtslosen Hotelräumen eines hypermodernen Tokio.
Und ein wenig fragt sich der Zuschauer am Ende, an wen die
Regisseurin bei alldem eigentlich denkt? An sich und ihre
eigenen Erfahrungen, oder handelt es sich doch eher um eine
romantische Phantasie über das Dasein ihres oft so lange
abwesenden Vaters?
Eine kleine Sensation ist LAST LIFE IN THE UNIVERSE vom jungen,
gänzlich unbekannten thailändischen Regisseur Pen-ek
Ratanaruang: Ein existentielles Drama über das Verlorensein
in der Fremde, das Melancholie und subtilen Witz mischt. Im
Zentrum dieses surrealen, in blaugrauen Farben gehaltenen
Traumstücks steht ein todessüchtiger Japaner, der
in Bangkok lebt. Mit der Zeit erfährt man sein Vorleben,
beobachtet, wie er sich der Schwester eines Mädchens
annährt, an deren Unfalltod er sich mitschuldig fühlt.
In seiner atemberaubenden Schönheit erinnert der Film
nicht zufällig an Wong Kar-wai - die Bilder stammen von
dessen Kameramann Christopher Doyle.
Seit Jahren macht man den großen Filmfestivals den
- nicht immer unberechtigten - Vorwurf, dass dort eine Clique
Altgewordener sich versammle, um den großen Zeiten des
Autorenfilms nachzutrauern. Nicht selten in der Filmgeschichte
können die ältesten Regisseure aber die jüngsten
sein. Diese Erfahrung konnte man in Venedig gleich mehrfach
machen: Zum Beispiel in einem so wunderbaren, spannenden Experiment
wie THE FIVE OBSTRUCTIONS, einer Gemeinschaftsarbeit der Dänen
Joergen Leth und Lars von Trier. 1967 hat der heute über
60jährige Leth den Kurzfilm DER PERFEKTE MENSCH gedreht,
ein Lieblingsfilm von Triers. Beide ließen sich nun
auf den virtuosen Handel ein, dass Leth seinen Film nach von
Triers Vorgaben, kleinen "Dogmen" sozusagen, neu
dreht. Heraus kommen vier höchst unterschiedliche Variationen
- und der Film THE FIVE OBSTRUCTIONS selbst. Ein ernstes Spiel
von Liebe und Zufall über das Filmemachen. Es ist sehr
lustig und zugleich aufregend und aufschlußreich zu
beobachten, wie sich Leth bei allem Respekt für von Trier
gegen ihn zur Wehr setzt. Ein Kampf um Selbstbehauptung und
wechselseitige Anerkennung zwischen den Vertretern zweier
Filmemachergenerationen, geführt mit den Mitteln des
Kinos. Hochexplosiv! Und bis zum Ende rätselt man, wer
hier Herr, wer Knecht ist. Denn indem Leth den Spieß
umdreht, und von Trier Paroli bietet, werden auch dessen Eitelkeit
und künstlerischer Sadismus so deutlich sichtbar wie
noch nie. Und es ehrt beide, dass sie sich derart preisgeben,
wie hier.
Einhellig positiv war die Reaktion auf Manoel de Oliveira
aus Portugal, sozusagen den ältesten aktiven europäischen
Regisseur. Der heute 95jhrige ist so jung und modern, wie
kaum ein 30jähriger deutscher Filmemacher. Allein seine
Biografie fasziniert: Denn einst begann Oliveira noch mit
Stummfilmen, dann war er Autorennfahrer, dann baute er Wein
an und leitete die geerbte väterliche Fabrik - um seit
den 50er Jahren, sozusagen als Hobby seiner zweiten Lebenshälfte
wieder Filme zu machen - bis heute dreht er kontinuierlich
mindestens einen pro Jahr. A TALKING PICTURE, also eigentlich
"Geredefilm", noch einfacher "Tonfilm"
heißt ganz einfach sein neuestes Werk.
"Was ist ein Mythos?", "Was ist eine Legende?"
- hört man aus dem Mund eines jungen Mädchens. Diese
scheinbaren Kinderfragen bilden den Leitfaden eines sehr streng
komponierten Films. Erzählt wird von der Schiffsreise
einer Mutter - sie ist Geschichtsprofessorin - mit ihrer Tochter
am Mittelmeer entlang zum Suez-Kanal und weiter gen Bombay.
Diese "Passage to India" zitiert zugleich den alten
Traum Portugals vom Seeweg nach Indien - nicht zufällig
beginnt alles im Hafen von Lissabon mit der Vorbeifahrt an
den Denkmälern für Heinrich den Seefahrer und Vasco
da Gama. Unterwegs besuchen Mutter und Tochter die Ruinen
der Griechen, der Römer, der Osmanen, Pompeji und die
Pyramiden. Ihre Gespräche drehen sich um die Vergangenheit
der Imperien, den Charakter der Zivilisation und das Verhältnis
zwischen Westen und Orient. Mit an Bord sind Catherine Deneuve,
Stefania Sandrelli und Irene Papas, quasi als profane Göttinnen
ihrer jeweiligen Kulturen und Nationen, sowie als Kapitän
der Amerikaner (!) John Malkovitch. Hochgebildet und doch
auf merkwürdige Weise ganz leicht geht es um nicht weniger
als alles - ein elegantes, feinsinniges Hohelied auf die Kultur
des alten Europa, zugleich auch ein melancholischer Abgesang,
denn bei aller Schönheit sind die Gespräche nicht
durch Optimismus bestimmt, und am Ende, wie im richtigen Leben,
bricht buchstäblich der Terror in die mittelmeerische
Gelassenheit und zerstört manche Hoffnung.
Der Terror und der politische Generationenkonflikt stand
auch im Zentrum des wichtigsten italienischen Beitrages: Marco
Bellocchios BUONGIORNO, NOTTE. Spartanisch aber immer ehrenwert
und nicht zuletzt wohltuend kühl inszeniert, wird er
vor allem durch seine inhaltliche Brisanz wichtig: Denn Bellocchio
erzählt in dem "meinem Vater" gewidmeten Film
von Italiens bleierner Zeit: Im April 1978 wurde der Parteichef
der Christdemokraten und mehrfacher Ministerpräsident
Aldo Moro entführt und nach zwei Monaten ermordet. Als
verantwortlich gelten die "Roten Brigaden", doch
sind die detaillierten Hintergründe der Vorgänge
bis heute nicht geklärt. Viele vermuten eine Mitverantwortung
von Moros Parteifreunden, denen Moros Tod nicht immer unlieb
war - er wenige Wochen vor seiner Entführung hatte er
für den "historischen Kompromiss" und eine
Koalition mit Italiens Eurokommunisten plädiert. Daher
gibt es bis heute auch ungeklärte Theorien über
Verschwörungen, die von der "Democrazia Christiana"
über den Vatikan, die Mafia und Italiens Rechtsextremisten
bis hin zur CIA reichen sollen - die erwiesenermaßen
in den "Brigate Rosse" V-Leute besaß.
Von alldem, das erst kürzlich wieder im Prozess gegen
den DC-Politiker Andreotti (der freigesprochen wurde) in Erinnerung
gebracht wurde, erzählt Bellocchio freilich überraschend
wenig. Weitaus wichtiger ist ihm die Tradition der Linken,
und die Selbstkritik dieser Tradition. Darum werden wir Zuschauer
anhand einer jungen Frau, die Mitglied der Entführer
ist, zu Zeugen der unendlichen Wochen von Moros Gefangenschaft,
dem "Volksprozeß" und "Todesurteil"
gegen ihn und den Gewissenkonfikten der Entführerin.
Schließlich scheint Moro mehr den Partisanen in faschistischer
Gefangenschaft zu ähneln, als den Faschisten, als den
ihn seine Entführer abstempeln.
Belocchio zeigt auch die Terroristen als Menschen, zugleich
konzentriert er sich ästhetisch einseitig auf die Linke
und ihre Fehler, macht sich den Vorwurf des Linksfaschismus
zueigen. Die Fehler der anderen Seite, die Möglichkeit
der bewussten Opferung Moros durch seine Parteifreunde wird
zwar ausgesprochen, aber nicht mit Bildern und Spielszenen
untermauert. Als persönliche Geschichte der jungen Frau
im Zentrum ist BUONGIORNO, NOTTE aber ein bewegender Film
mit melodramatischen Zügen - qualitativ klar besser als
vieles andere.
Zum Abschluss des so harmonisch und auf künstlerisch
hohem Niveau verlaufenen Filmfestivals gab es am Lido doch
noch Streit. Unter Protest verließ Marco Bellocchio,
der seit der Vorführung am Mittwoch sehr hoch als einer
der Favoriten auf den Goldenen Löwen gehandelt wurde,
die Lagune. Soeben hatte er erfahren, dass er quasi leer ausgegangen
war - die Auszeichnung mit dem Drehbuchpreis kommt angesichts
der begeisterten Aufnahme des Films bei Publikum und Kritik
einer öffentlichen Ohrfeige gleich. In Rom gab Bellocchio
dann am Abend in TV-Interviews die beleidigte Leberwurst und
schimpfte auf die Jury - ein kleiner Skandal am Ende.
Tatsächlich waren die Entscheidungen der Jury für
die meisten professionellen Besucher unverständlich.
An elf Tagen hatten sie einen guten Wettbewerb verfolgt, der
in seinem gleichmäßig hohen Niveau interessanter
und abwechslungsreicher war, als der des Vorjahrs, oder die
Wettbewerbe der diesjährigen beiden anderen "A-Festspiele"
von Berlin und Cannes. Mit Buhrufen wurde mehr als ein Ergebnis
quittiert - und das durchaus nicht allein aus übertriebenen
Lokalpatriotismus. Beim russische Siegerfilm THE RETURN von
Andrey Zvyagintsev handelt es sich um ein symbolüberfrachtetes
verquastes Melodram, das in stilistischen Tarkowski-Posen
eine Vater-Sohn-Geschichte erzählt. Der Film strotzt
vor offensichtlichen Bibel-Anspielungen und gefällt sich
zugleich in dunklem Getue - bestenfalls unter "typisch
russische Mystik" zu verbuchen. Politisch wichtig, aber
filmisch banal ist LE CERF VOLANT, vom Libanesen Randal Chahal
Sabbag, eine Gutmenschenstory über ein geteiltes Dorf
auf den Golan-Höhen.
Beide Filme werden schnell vergessen sein. Etwas anders liegen
die Dinge bei Venedig-Publikumsliebling Takeshi Kitanos ZATOICHI.
Ein verdienter Regiepreis für eine Episode um den legendären
blinden Schwertkämpfer aus dem 19.Jahrhundert, der der
Held zahlloser Romane, Comics und TV-Folgen ist. Diesmal kommt
er in ein von der Mafia drangsaliertes Bauerndorf und räumt
dort ordentlich auf: HIGH NOON auf japanisch. Kitanos erster
Kostümfilm mischt seinen typischen cool-lakonischen Humor
mit computeranimierten Schwertkämpfen im japanischen
Stil - also keine poetisch verlangsamte, durch Drahtseiltechnik
ins Schwerelose gehobene Kampfkunst, sondern fast statisch-unbewegliche,
wie am Boden festgewachsene Kämpfer, die ihre Starre
nur durch sekundenschnelle, blitzartige Bewegungen unterbrechen.
Ehe man erkennt, was geschieht, ist es schon wieder vorbei.
Kitano spielt selbst den Part des ZATOICHI - sein Film ist
sehr musikalisch und in all seiner Strenge voller burleskem
Humor. Im Vergleich zur elegischen Poesie von HANA-BI, mit
dem Kitano 1997 in Venedig gewann, lässt er trotzdem
etwas kühl.
Obwohl Filmfestivals keine Olympiaden sind, und Patriotismus
- vgl. Bellocchio - in den Künsten nichts zu suchen hat,
darf man auch zwei Erfolge des deutschen Kinos notieren: Der
Darstellerpreis für Katja Riemann (ROSENSTRAßE)
geht in Ordnung - auch wenn Naomi Watts (21 GRAMS) den viel
stärkeren Eindruck hinterließ, überspielt
die Riemann nicht wenige Drehbuch-Schwächen von Trottas
Geschichts-Melo. Und SCHULTZE GETS THE BLUES von Michael Schorr,
der im zweiten "Controcorrente"-Wettbewerb den Regiepreis
gewann, ist deutsches Kino von einer überraschend leichten,
sympathischen Seite - ein deutscher Kaurismäki. Und endlich
einmal keine Geschichte, in der man die Vergangenheit bewältigt
oder Kleinfamilien stiftet.
Generell bot Venedig 2003 eine Vielfalt an Stilen, Genres
und Geschichten. Diese kreisen nach wie vor viel um Politik.
Zugleich wird vieles intimer, werden Atmosphären, Beobachtungen,
die Gefühle des Zuschauers gegenüber der Handlung
der Filme wichtiger. Sie bleiben in Erinnerung: Die Leidenschaft
der Kamera und die Kinoliebe in Bertoluccis DREAMERS, das
blaugraue Leben und eine Eidechse an der Wand im LAST TIME
IN THE UNIVERSE, die Hotelräume und Bill Murrays Sinatra-Imitation
in Sofia Coppolas LOST IN TRANSLATION. Wie immer in Venedig,
noch mehr als anderenorts, fand sich vieles vom Besten in
den Nebensektionen: Der "Controcorrente" war zum
Teil dem Hauptwettbewerb gleichwertig. Und zumindest Sofia
Coppola hätte auch in diesem Siegchancen gehabt.
Leider wird man nur Manches davon im deutschen Kino sehen
können. Vor allem die Macht des Fernsehens lässt
"kleineren" Filmen außerhalb der Videotheken
immer weniger Chancen - selbst Woody Allens Eröffnungsfilm
ANYTHING ELSE findet wohl wie schon HOLLYWOOD ENDING keinen
deutschen Verleih. Ein Grund mehr, nach Venedig zu fahren.
"Sie waren Filmnarren", schreibt Perec weiter,
"Kino war ihre größte Leidenschaft."
Rüdiger Suchsland
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