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11.09.2003
 
 
       

Narren im Strom
Ein Streifzug durch die 60. Mostra von Venedig

 
 
THE DREAMERS
   
 
 
 
 

"Sie waren Kinder ihrer Zeit. Sie fühlten sich wohl in ihrer Haut. Sie waren alles andere als dumm. Vor allem aber gab es das Kino." - in Georges Perecs 68er-Roman "Die Dinge" wird beispielhaft beschrieben, wie eng das Kino, genauer die französische Nouvelle Vague mit der Revolte von 1968 verflochten war. In der Pariser Cinémathèque Française des Henri Langlois beginnt THE DREAMERS, der neue, überaus bewegende Film von Bernardo Bertolucci, der im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig außerhalb einer Konkurrenz lief, der er mühelos hätte standhalten können. Eine Liebeserklärung an das Kino: Auch hier wird die Filmerfahrung, werden Werke wie AUSSER ATEM von Godard, SCHOCK CORRIDOR von Fuller und Bressons MOUCHETTE zur Initiation grundlegender Veränderung. Längst, so scheint es, hat das Kino diese Träume von einst begraben. Aber bei Festivals wie diesen, in denen man mit den Werken der - inzwischen - alten Meister des Autorenfilms auch für Augenblicke noch einmal in deren Träume eintauchen darf, könnte die Begegnung auch selbst zum Auslöser neuer Veränderungen und Aufbrüche werden. Die Hoffung jedenfalls soll man nicht aufgeben.

"Non, je ne regrette rien." - "Ich bedaure nichts" singt Edith Piaf, und man darf sicher sein, dass dieses Bekenntnis auch für Bertolucci selber gilt. In THE DREAMERS erklingt das Chanson ganz am Ende eines Films, der voller Rock und Pop ist, die Wildheit des Pariser Mai rekapituliert, aber auf eine Weise, wie man es noch nie gesehen hat. Denn Bertolucci, der oft genug erklärte, dass wir wieder ein anderes Verhältnis zu dieser Epoche des Aufbruchs finden müssten, dass es mit der üblichen billigen Verdammung oder ihrer verabschiedenden Historisierung nicht getan sei, erliegt selber nicht der Versuchung, die eigene Jugend einfach zu beschwören. THE DREAMERS ist vielmehr eine ziemlich unbequeme Selbstbefragung.
Den Rahmen bildet die merkwürdige "ménage à trois" zwischen einem französischen Geschwisterpaar und ihrem amerikanischen Freund. Als die Eltern für Wochen aufs Land fahren, wird deren Wohnung zur Insel der Seligkeit. So erzählt Bertolucci den "Mythos 1968" nicht als Geschichte der Politisierung und öffentlicher Demonstrationen, nicht der Barrikadenkämpfe und Polizeischlägereien, sondern einer privaten, oberflächlich betrachtet, unpolitischen Entdeckungsreise. Ohne eine gewisse Nostalgie oder das eigene Pathos zu verleugnen, zeigt der Regisseur doch auch illusionslos die Tristesse. Eine untergründige Trauer liegt in allen Blicken. Vor allem aber will der Film das Abgegriffene und Bekannte vermeiden, mit dem man diese Zeit in immer wieder den gleichen Bildern schildert. Darum verharrt er fast den ganzen Film über im bürgerlichen Salon, als dem Ausgangspunkt der Revolte, beschreibt einen psychoanalytischen Kontext und scheut auch vor einer umgedrehten Urszene - quasi unschuldige Eltern überraschen die Kinder im Wohnzimmer beim Sex - nicht zurück. Musikalisch das Gleiche: Gespielt werden zwar die Doors und Jimi Hendrix, aber eben Nebenwerke und Unbekanntes. Der ganze Film bleibt bis zum Ende unvorhersehbar, findet immer wieder neue Wendungen für seine Geschichte - ein mutiger Schlag ins Gesicht aller auch im Berlusconi-Italien weitverbreiteten Anti-68er.

Einen schönen Nebenstrang bildet die Filmvernarrtheit der Drei. Immer wieder werden kurze Filmszenen eingespielt, und zum Teil nachgelebt. Am Ende aber muss es damit genug sein, der Auszug aus dem Paradies ist der aus der Verwechslung von Kino und Leben.

Auch Margarethe von Trotta hat ihr persönliches '68 gelebt, und auch sie bedauert vermutlich nicht viel, hat vielmehr versucht, bis in ihre letzten Filme an den politischen Ideen jener Jahre festzuhalten, sie in die Aktualität weiterzutragen. Nach 22 Jahren kehrte sie nun an den Lido zurück, wo sie 1981 ihren größten Triumph erlebte. Mit DIE BLEIERNE ZEIT, der bis heute präzisesten Auseinandersetzung mit dem deutschen Terrorismus im Spielfilm, gewann sie den Goldenen Löwen. Über die Jahre ist sie ihrem Kernsujet treu geblieben: Immer wieder ging es - von ROSA LUXEMBURG (1986) bis zum starken TV-Mehrteiler JAHRESTAGE - um starke Frauen in der Männerwelt, ihre Selbstbehauptung.
Um allerdings selbst den Nationalsozialismus noch zum Vehikel eines Emanzipationsdramas zu degradieren, gehört schon ein erstaunliches Maß an Ignoranz: In Trottas ROSENSTRASSE, dem einzigen deutschen Beitrag im Hauptwettbewerb der Mostra ist der Faschismus wieder einmal genau 100 Meter lang und steht in Babelsberg. Die ROSENSTRASSE ist die immergleiche Hausecke mit der immergleichen Pflasterstraße und dem immergleichen Licht, die schon in AIMEE UND JAGUAR, in DER PIANIST und zuletzt in HERR LEHMANN sowie einem weiteren halben Dutzend Babelsberg-Drehs heranhalten musste, wenn es galt, deutsche Vergangenheit zu illustrieren. Auch sonst sind wir im vertrauten Terrain der mundgerechten Konsumierbarkeit von Auschwitz, wo die Nazis blitzblanke Uniformen tragen, laut schreien und auch mal böse in die Luft schießen - und ansonsten von grundguten Deutschen umzingelt sind.
ROSENSTRASSE verdichtet historisch verbürgte Ereignisse im Berlin des März 1943, als ca. 2000 Juden aus "Mischehen" interniert und ihr Abtransport ins Lager vorbereitet wurde. Doch deren Ehefrauen protestierten öffentlich und erreichten nach kurzer Zeit die Freilassung - eines der wenigen Beispiele von zivilem Ungehorsam im Dritten Reich. Von Trotta teilt die Vorgänge in eine Rahmenepisode, die in der Gegenwart von einer jungen amerikanischen Jüdin erzählt, die der Vergangenheit ihrer Mutter nachforscht und in das Schicksal einer Protestlerin. Katja Riemann hat in dieser Rolle einen ihrer besten Auftritte seit langem. Doch vor allem der Umgang mit dem historischen Stoff überzeugt kaum. Von der überflüssigen und -komplizierten Rahmenhandlung abgesehen, benutzt das Drehbuch die Judenverfolgung nur als Kulisse fürs private Melodram und zur kulturpolitisch verwertbaren Dienstleistung: Frauenpower 1943 - nichts ist zu spüren von Abgründen, vom Terror, von Todesangst. Goebbels ist ein blasierter Zwerg, der sich von Katja Riemann gern rumkriegen lässt, um als Belohnung dann mal den Holocaust kurz wieder abzublasen - eine peinliche Banalisierung des Nazi-Terrors.
Die Umstände des Rosenstraßen-Protests bleiben dagegen ungeklärt, viele Fragen offen - und die allzu langsame und altbackene, dabei grelle Inszenierung wirkt seltsam unauthentisch.

Aber die Hauptsache bei einem Festival wie diesem sind die Neuentdeckungen. Irgendwo müssen sie doch sein, die Godards, Truffauts und Antonionis der Zukunft, die das Kino von morgen revolutionieren? Die Gegenüberstellung und den künstlerischen Konflikt verschiedener Generationen hat man bei diesem Filmfestival quasi schon institutionalisiert. Denn neben dem renommierten Hauptwettbewerb gibt es noch eine zweite, nahezu gleichberechtigte Konkurrenz: Schon ihr Name "Controcorrente" soll programmatisch darauf hinweisen, dass hier das sperrigere, frischere, experimentelle Kino zu finden sei, das "gegen den Strom schwimmt" - im Unterschied zum mitunter etwas altbackeneren, repräsentativeren, stilistisch älteren und gediegeneren Hauptwettbewerb. Ein unbekannter junger Godard hätte heute jedenfalls keine Chance auf eine Teilname im Hauptwettbewerb.

In diesem Jahr wurden derartige Versprechen zweifellos erfüllt: In einem insgesamt starken Festival liefen zumindest drei der besten Filme im "Controcorrente". Tatsächlich ist LOST IN TRANSLATION von Sofia Coppola, der Tochter des großen Francis Ford, eine subtile, überaus kluge Geschichte einer Generationenbegegnung. Coppola erzählt die nur scheinbar abgegriffene Geschichte vom alten Mann und dem Mädchen ganz neu und frisch, dabei keusch und in atemberaubend schönem, an den pastelligen Bilderzauber des japanischen Kinos angelehnten Stil. Ein alternder Schauspieler trifft auf eine unglückliche junge Ehefrau. Komiker Bill Murray glänzt in einer fast traurig-melancholischen Rolle, und amüsiert zugleich - als Frank Sinatra und Dean Martin-Imitator, aber auch weil der Film in aller Tiefe doch auch eine sehr gelungene Satire auf das Verhältnis des Westens zu Japan ist - das ungleiche Paar verliebt sich nämlich in den gesichtslosen Hotelräumen eines hypermodernen Tokio. Und ein wenig fragt sich der Zuschauer am Ende, an wen die Regisseurin bei alldem eigentlich denkt? An sich und ihre eigenen Erfahrungen, oder handelt es sich doch eher um eine romantische Phantasie über das Dasein ihres oft so lange abwesenden Vaters?

Eine kleine Sensation ist LAST LIFE IN THE UNIVERSE vom jungen, gänzlich unbekannten thailändischen Regisseur Pen-ek Ratanaruang: Ein existentielles Drama über das Verlorensein in der Fremde, das Melancholie und subtilen Witz mischt. Im Zentrum dieses surrealen, in blaugrauen Farben gehaltenen Traumstücks steht ein todessüchtiger Japaner, der in Bangkok lebt. Mit der Zeit erfährt man sein Vorleben, beobachtet, wie er sich der Schwester eines Mädchens annährt, an deren Unfalltod er sich mitschuldig fühlt. In seiner atemberaubenden Schönheit erinnert der Film nicht zufällig an Wong Kar-wai - die Bilder stammen von dessen Kameramann Christopher Doyle.

Seit Jahren macht man den großen Filmfestivals den - nicht immer unberechtigten - Vorwurf, dass dort eine Clique Altgewordener sich versammle, um den großen Zeiten des Autorenfilms nachzutrauern. Nicht selten in der Filmgeschichte können die ältesten Regisseure aber die jüngsten sein. Diese Erfahrung konnte man in Venedig gleich mehrfach machen: Zum Beispiel in einem so wunderbaren, spannenden Experiment wie THE FIVE OBSTRUCTIONS, einer Gemeinschaftsarbeit der Dänen Joergen Leth und Lars von Trier. 1967 hat der heute über 60jährige Leth den Kurzfilm DER PERFEKTE MENSCH gedreht, ein Lieblingsfilm von Triers. Beide ließen sich nun auf den virtuosen Handel ein, dass Leth seinen Film nach von Triers Vorgaben, kleinen "Dogmen" sozusagen, neu dreht. Heraus kommen vier höchst unterschiedliche Variationen - und der Film THE FIVE OBSTRUCTIONS selbst. Ein ernstes Spiel von Liebe und Zufall über das Filmemachen. Es ist sehr lustig und zugleich aufregend und aufschlußreich zu beobachten, wie sich Leth bei allem Respekt für von Trier gegen ihn zur Wehr setzt. Ein Kampf um Selbstbehauptung und wechselseitige Anerkennung zwischen den Vertretern zweier Filmemachergenerationen, geführt mit den Mitteln des Kinos. Hochexplosiv! Und bis zum Ende rätselt man, wer hier Herr, wer Knecht ist. Denn indem Leth den Spieß umdreht, und von Trier Paroli bietet, werden auch dessen Eitelkeit und künstlerischer Sadismus so deutlich sichtbar wie noch nie. Und es ehrt beide, dass sie sich derart preisgeben, wie hier.

Einhellig positiv war die Reaktion auf Manoel de Oliveira aus Portugal, sozusagen den ältesten aktiven europäischen Regisseur. Der heute 95jhrige ist so jung und modern, wie kaum ein 30jähriger deutscher Filmemacher. Allein seine Biografie fasziniert: Denn einst begann Oliveira noch mit Stummfilmen, dann war er Autorennfahrer, dann baute er Wein an und leitete die geerbte väterliche Fabrik - um seit den 50er Jahren, sozusagen als Hobby seiner zweiten Lebenshälfte wieder Filme zu machen - bis heute dreht er kontinuierlich mindestens einen pro Jahr. A TALKING PICTURE, also eigentlich "Geredefilm", noch einfacher "Tonfilm" heißt ganz einfach sein neuestes Werk.
"Was ist ein Mythos?", "Was ist eine Legende?" - hört man aus dem Mund eines jungen Mädchens. Diese scheinbaren Kinderfragen bilden den Leitfaden eines sehr streng komponierten Films. Erzählt wird von der Schiffsreise einer Mutter - sie ist Geschichtsprofessorin - mit ihrer Tochter am Mittelmeer entlang zum Suez-Kanal und weiter gen Bombay. Diese "Passage to India" zitiert zugleich den alten Traum Portugals vom Seeweg nach Indien - nicht zufällig beginnt alles im Hafen von Lissabon mit der Vorbeifahrt an den Denkmälern für Heinrich den Seefahrer und Vasco da Gama. Unterwegs besuchen Mutter und Tochter die Ruinen der Griechen, der Römer, der Osmanen, Pompeji und die Pyramiden. Ihre Gespräche drehen sich um die Vergangenheit der Imperien, den Charakter der Zivilisation und das Verhältnis zwischen Westen und Orient. Mit an Bord sind Catherine Deneuve, Stefania Sandrelli und Irene Papas, quasi als profane Göttinnen ihrer jeweiligen Kulturen und Nationen, sowie als Kapitän der Amerikaner (!) John Malkovitch. Hochgebildet und doch auf merkwürdige Weise ganz leicht geht es um nicht weniger als alles - ein elegantes, feinsinniges Hohelied auf die Kultur des alten Europa, zugleich auch ein melancholischer Abgesang, denn bei aller Schönheit sind die Gespräche nicht durch Optimismus bestimmt, und am Ende, wie im richtigen Leben, bricht buchstäblich der Terror in die mittelmeerische Gelassenheit und zerstört manche Hoffnung.

Der Terror und der politische Generationenkonflikt stand auch im Zentrum des wichtigsten italienischen Beitrages: Marco Bellocchios BUONGIORNO, NOTTE. Spartanisch aber immer ehrenwert und nicht zuletzt wohltuend kühl inszeniert, wird er vor allem durch seine inhaltliche Brisanz wichtig: Denn Bellocchio erzählt in dem "meinem Vater" gewidmeten Film von Italiens bleierner Zeit: Im April 1978 wurde der Parteichef der Christdemokraten und mehrfacher Ministerpräsident Aldo Moro entführt und nach zwei Monaten ermordet. Als verantwortlich gelten die "Roten Brigaden", doch sind die detaillierten Hintergründe der Vorgänge bis heute nicht geklärt. Viele vermuten eine Mitverantwortung von Moros Parteifreunden, denen Moros Tod nicht immer unlieb war - er wenige Wochen vor seiner Entführung hatte er für den "historischen Kompromiss" und eine Koalition mit Italiens Eurokommunisten plädiert. Daher gibt es bis heute auch ungeklärte Theorien über Verschwörungen, die von der "Democrazia Christiana" über den Vatikan, die Mafia und Italiens Rechtsextremisten bis hin zur CIA reichen sollen - die erwiesenermaßen in den "Brigate Rosse" V-Leute besaß.
Von alldem, das erst kürzlich wieder im Prozess gegen den DC-Politiker Andreotti (der freigesprochen wurde) in Erinnerung gebracht wurde, erzählt Bellocchio freilich überraschend wenig. Weitaus wichtiger ist ihm die Tradition der Linken, und die Selbstkritik dieser Tradition. Darum werden wir Zuschauer anhand einer jungen Frau, die Mitglied der Entführer ist, zu Zeugen der unendlichen Wochen von Moros Gefangenschaft, dem "Volksprozeß" und "Todesurteil" gegen ihn und den Gewissenkonfikten der Entführerin. Schließlich scheint Moro mehr den Partisanen in faschistischer Gefangenschaft zu ähneln, als den Faschisten, als den ihn seine Entführer abstempeln.
Belocchio zeigt auch die Terroristen als Menschen, zugleich konzentriert er sich ästhetisch einseitig auf die Linke und ihre Fehler, macht sich den Vorwurf des Linksfaschismus zueigen. Die Fehler der anderen Seite, die Möglichkeit der bewussten Opferung Moros durch seine Parteifreunde wird zwar ausgesprochen, aber nicht mit Bildern und Spielszenen untermauert. Als persönliche Geschichte der jungen Frau im Zentrum ist BUONGIORNO, NOTTE aber ein bewegender Film mit melodramatischen Zügen - qualitativ klar besser als vieles andere.

Zum Abschluss des so harmonisch und auf künstlerisch hohem Niveau verlaufenen Filmfestivals gab es am Lido doch noch Streit. Unter Protest verließ Marco Bellocchio, der seit der Vorführung am Mittwoch sehr hoch als einer der Favoriten auf den Goldenen Löwen gehandelt wurde, die Lagune. Soeben hatte er erfahren, dass er quasi leer ausgegangen war - die Auszeichnung mit dem Drehbuchpreis kommt angesichts der begeisterten Aufnahme des Films bei Publikum und Kritik einer öffentlichen Ohrfeige gleich. In Rom gab Bellocchio dann am Abend in TV-Interviews die beleidigte Leberwurst und schimpfte auf die Jury - ein kleiner Skandal am Ende.
Tatsächlich waren die Entscheidungen der Jury für die meisten professionellen Besucher unverständlich. An elf Tagen hatten sie einen guten Wettbewerb verfolgt, der in seinem gleichmäßig hohen Niveau interessanter und abwechslungsreicher war, als der des Vorjahrs, oder die Wettbewerbe der diesjährigen beiden anderen "A-Festspiele" von Berlin und Cannes. Mit Buhrufen wurde mehr als ein Ergebnis quittiert - und das durchaus nicht allein aus übertriebenen Lokalpatriotismus. Beim russische Siegerfilm THE RETURN von Andrey Zvyagintsev handelt es sich um ein symbolüberfrachtetes verquastes Melodram, das in stilistischen Tarkowski-Posen eine Vater-Sohn-Geschichte erzählt. Der Film strotzt vor offensichtlichen Bibel-Anspielungen und gefällt sich zugleich in dunklem Getue - bestenfalls unter "typisch russische Mystik" zu verbuchen. Politisch wichtig, aber filmisch banal ist LE CERF VOLANT, vom Libanesen Randal Chahal Sabbag, eine Gutmenschenstory über ein geteiltes Dorf auf den Golan-Höhen.

Beide Filme werden schnell vergessen sein. Etwas anders liegen die Dinge bei Venedig-Publikumsliebling Takeshi Kitanos ZATOICHI. Ein verdienter Regiepreis für eine Episode um den legendären blinden Schwertkämpfer aus dem 19.Jahrhundert, der der Held zahlloser Romane, Comics und TV-Folgen ist. Diesmal kommt er in ein von der Mafia drangsaliertes Bauerndorf und räumt dort ordentlich auf: HIGH NOON auf japanisch. Kitanos erster Kostümfilm mischt seinen typischen cool-lakonischen Humor mit computeranimierten Schwertkämpfen im japanischen Stil - also keine poetisch verlangsamte, durch Drahtseiltechnik ins Schwerelose gehobene Kampfkunst, sondern fast statisch-unbewegliche, wie am Boden festgewachsene Kämpfer, die ihre Starre nur durch sekundenschnelle, blitzartige Bewegungen unterbrechen. Ehe man erkennt, was geschieht, ist es schon wieder vorbei. Kitano spielt selbst den Part des ZATOICHI - sein Film ist sehr musikalisch und in all seiner Strenge voller burleskem Humor. Im Vergleich zur elegischen Poesie von HANA-BI, mit dem Kitano 1997 in Venedig gewann, lässt er trotzdem etwas kühl.
Obwohl Filmfestivals keine Olympiaden sind, und Patriotismus - vgl. Bellocchio - in den Künsten nichts zu suchen hat, darf man auch zwei Erfolge des deutschen Kinos notieren: Der Darstellerpreis für Katja Riemann (ROSENSTRAßE) geht in Ordnung - auch wenn Naomi Watts (21 GRAMS) den viel stärkeren Eindruck hinterließ, überspielt die Riemann nicht wenige Drehbuch-Schwächen von Trottas Geschichts-Melo. Und SCHULTZE GETS THE BLUES von Michael Schorr, der im zweiten "Controcorrente"-Wettbewerb den Regiepreis gewann, ist deutsches Kino von einer überraschend leichten, sympathischen Seite - ein deutscher Kaurismäki. Und endlich einmal keine Geschichte, in der man die Vergangenheit bewältigt oder Kleinfamilien stiftet.

Generell bot Venedig 2003 eine Vielfalt an Stilen, Genres und Geschichten. Diese kreisen nach wie vor viel um Politik. Zugleich wird vieles intimer, werden Atmosphären, Beobachtungen, die Gefühle des Zuschauers gegenüber der Handlung der Filme wichtiger. Sie bleiben in Erinnerung: Die Leidenschaft der Kamera und die Kinoliebe in Bertoluccis DREAMERS, das blaugraue Leben und eine Eidechse an der Wand im LAST TIME IN THE UNIVERSE, die Hotelräume und Bill Murrays Sinatra-Imitation in Sofia Coppolas LOST IN TRANSLATION. Wie immer in Venedig, noch mehr als anderenorts, fand sich vieles vom Besten in den Nebensektionen: Der "Controcorrente" war zum Teil dem Hauptwettbewerb gleichwertig. Und zumindest Sofia Coppola hätte auch in diesem Siegchancen gehabt.
Leider wird man nur Manches davon im deutschen Kino sehen können. Vor allem die Macht des Fernsehens lässt "kleineren" Filmen außerhalb der Videotheken immer weniger Chancen - selbst Woody Allens Eröffnungsfilm ANYTHING ELSE findet wohl wie schon HOLLYWOOD ENDING keinen deutschen Verleih. Ein Grund mehr, nach Venedig zu fahren.

"Sie waren Filmnarren", schreibt Perec weiter, "Kino war ihre größte Leidenschaft."

Rüdiger Suchsland

 

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