12.09.2020
77. Filmfestspiele von Venedig 2020

Emotio­naler Mate­ria­lismus und andere Leiden­schaften

The best is yet to come
Sogar einen »Corona-Film« gab es im Programm: »The Best is yet to come«
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service)

Wer gewinnt die Löwen? Eine vorläufige Bilanz zum Abschluss der Filmfestspiele von Venedig – Notizen aus Venedig, Folge 11

Von Rüdiger Suchsland

»Emotions don’t make the news. Facts do. ... Sympathy will only impair our judgement.«
aus: The Best Is Yet to Come

»Natürlich ist es immer ein wenig mutwillig, einen so kleinen, so zufäl­ligen Ausschnitt aus der Welt­ki­no­pro­duk­tion fürs Ganze zu nehmen, aber die großen Festivals sind nun mal die einzige Gele­gen­heit, so etwas wie einen Überblick zu gewinnen. Dass dies gleich­zeitig einen Blick aus großer Höhe bedeutet, der eine konzen­trierte Annähe­rung gar nicht zulässt, spricht nicht gegen das Verfahren, auf diese Weise zu einem Gesamt­ur­teil zu kommen. Denn gerade in der Häufung wird sichtbar, was im einzelnen Werk sonst verborgen bleibt: die Orien­tie­rungs­lo­sig­keit des Weltkinos, wovon es überhaupt erzählen soll, und die Ratlo­sig­keit, wie das gege­be­nen­falls zu bewerk­stel­ligen wäre.«
Michael Althen, SZ 11.09.2000

Vor zehn Tagen wurde die Mostra eröffnet – das ist gleich­zeitig eine Ewigkeit her, und einen Wimpern­schlag. Jetzt hat das Finale des Festivals begonnen.

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The Best Is Yet to Come – das ist doch immerhin mal eine Ankün­di­gung. So heißt einer der besten Filme der Neben­reihe bei den Film­fest­spielen von Venedig. Der Film stammt vom Chinesen Wang Jing, ist das Regie­debüt des Assis­tenten von Jia Zhang-ke, und erzählt, inspi­riert von wahren Gescheh­nissen, von einem jungen Studenten, der im Jahr 2003 in Peking Jour­na­list werden will.

Im seinem Studen­ten­wohn­heim hängt ein Poster des »Turmbau zu Babel« von Brueghel. Das ist bestimmt nicht zufällig erkennbar. Ein Kommentar auf Chinas Boom? In den ersten Minuten dieses hervor­ra­gend gemachten, mit fließender Kamera, ansonsten aber in neorea­lis­ti­scher Nüch­tern­heit und voller Interesse an Details und Alltags­ge­nau­ig­keit erzählten Films fragt man sich: Warum läuft er nicht im Wett­be­werb? Ungefähr ab der Hälfte wird man verstehen, warum. Denn einer starken, wenn auch etwas konven­tio­nellen, fast schon Hollywood-Drama­turgie folgenden Eröffnung, folgt ein sehr schwacher holpriger, einfach schlecht erzählter Mittel­teil, und dann wieder ein starkes, im Inhalt­li­chen über­ra­schendes, formal aber unin­ter­es­santes und etwas zu mora­li­sie­rendes letztes Drittel.

Dies ist zual­ler­erst einmal ein Hohelied auf den idea­lis­ti­schen Jour­na­lismus im durchaus ameri­ka­ni­schen Vers­tändnis: Inves­ti­gativ, fact-checking, neutral, team-orien­tiert. Auf den Jour­na­lismus vor Internet und sozialen Netz­werken. Die Haupt­figur ist ein Prak­ti­kant bei der wich­tigsten Zeitung von Peking. Seine Vorge­setzten erklären ihm zum Beispiel: »Emotions don’t make the news. Facts do.« Oder: »Sympathy will only impair our judgement.«
Das könnten sich die aller­meisten Jour­na­listen der Gegenwart einmal zu Herzen nehmen.

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Wir sehen die Haupt­figur dann under­cover ein Minen-Desaster unter­su­chen – und hier gibt es eine lustige Anekdote: Der Produzent Jia Zhang-ke, der 2006 hier den Goldenen Löwen für Still Life gewann, spielt nämlich einen schmie­rigen Vertreter der Minen­ge­sell­schaft, die den Arbeitern gegen eine niedrige Abfindung eine Unter­schrift abnötigen will, mit der sie auf alle weiteren Ansprüche verzichten.

Seine nächste Story ist illegaler Blut­handel. Dumm nur, dass er da zum einen Mitleid mit den Händlern bekommt, die nur aus schierer Not zu diesen illegalen Geschäften gezwungen werden. Zum anderen kommt er der »Hepatitis B«-Diskri­mi­nie­rung und den Verwer­fungen des rigorosen Gesund­heits­sys­tems in China auf die Spur. Die machen es den mit Hepatitis B infi­zierten Trägern des Virus unmöglich, Arbeit zu finden.

Stimmt nun der Satz »The law can never be wrong.« oder die Urteile der Kritiker des staat­li­chen Gesund­heits­sys­tems?

Mit solchen Gedanken sitzt man im Kino, und hört plötzlich Sätze wie »People tend to be overly cautious about infec­tious diseases.« »They do not listen to the facts and overreact.« »Their position 'better safe than sorry' does harm many people.« – zu denen es im Kino dann Szenen­ap­plaus gibt. Denn die Ähnlich­keiten zur derzei­tigen Corona-Wirk­lich­keit und zu den – overly cautious? – Pandemie-Maßnahmen liegen auf der Hand.

So gelingt es Festi­val­di­rektor Alberto Barbera sogar noch, einen Corona-Spielfilm im Programm zu haben.

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Die wahre Geschichte, die alldem zugrunde liegt, ist übrigens die des Jour­na­listen Han Fudong, über den ich im Netz nichts gefunden habe.

The Best ist Yet to Come ist ein inter­es­santer, insgesamt aber zu unaus­ge­wo­gener Film, der ein paar seiner Einfälle und im Prinzip auch sein Thema nicht konse­quent genug verfolgt.

Stammte er aus den 1950er Jahren, wäre dies ein Para­de­bei­spiel für Sozia­lis­ti­schen Realismus: Denn der Film zeigt, wie ein enga­gierter Bürger die Gesell­schaft ein klein wenig verbes­sert, ohne sich gegen diese zu stellen. Und dass es jedem gelingen kann.

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Sicher­lich auffällig ist die Qualität der beiden wichtigen Nebensek­tionen »Orizzonti« und »Giornate«. Auch dort liefen in einem ausge­zeich­neten wie außer­or­dent­li­chen Festi­val­jahr hervor­ra­gende Filme. Über die werden wir an den nächsten Tagen an dieser Stelle noch eine Menge berichten.
Heute aber muss es erstmal um die Goldenen Löwen gehen, die heute Abend vergeben werden, und um den Wett­be­werb.

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Ob auch hier das Beste noch kommt, durch eine kluge, von ästhe­ti­schen Argu­menten domi­nierte Preis­ver­lei­hung, das lassen wir mal dahin­ge­stellt. Allzu opti­mis­tisch bin ich aus leidiger Erfahrung nicht.

Eher könnte man sich erinnern, dass im Casino des Lido, wo heute das Festi­val­zen­trum steht, früher tatsäch­lich um hohe Summen Geld gespielt wurde. Seit langem lohnt sich der Spiel­be­trieb nicht mehr, mit anderem wird mehr verdient. Aber die Geister der Roulette- und Karten­ti­sche, die Schatten des Glücks­spiels sind hier noch spürbar, und viel­leicht liegt der Unter­schied zur Preis­ver­gabe nur darin, dass im Film(Festival)betrieb die Banditen zweiarmig sind.

Hoffen wir also, dass die Würfel glücklich fallen!

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Es gab diesmal nicht so viele Filme, bei denen man sagen konnte: Die sind outstan­ding, so hervor­ra­gend, dass ihr Niveau keine Frage ist, dass also Debatten über sie per se auf hohem Niveau sind. Es gab keine Filme, die auf einem hohen Niveau so provo­zierten, dass man sich wirklich produktiv darüber streiten könnte – wie letztes Jahr Joker, den ich und andere richtig doof fanden, der aber wiederum für andere ein Meis­ter­werk ist.

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Für den Boulevard war die Abwe­sen­heit der US-Stars in diesem Jahr schlecht, für unsereins und die übrigen Besucher eher gut. Es geht wieder um das, worum es eigent­lich immer gehen sollte: Um die Filme selbst und um Kunst.
Die Dichte der Firma, die hat ein bisschen nach­ge­lassen, einige Gäste sind schon abgereist.

Wer nicht über Filme schreiben will oder darf, dem fehlen die Aufreger. Wirklich aufregen kann nicht mal das Frau­en­thema. Offen­kundig ist, dass von dem in den letzten Jahren verstärkt beklagten Fehlen weib­li­chen Filme­ma­chens im Wett­be­werb 2020 kaum eine Rede sein kann: Fast die Hälfte der 18 Wett­be­werbs-Filme stammen von Regis­seu­rinnen. Und zwar nicht, wie Mostra-Direktor Alberto Barbera betonte, »weil sie Frauen sind. Sondern weil die Filme gut sind«.
In den anderen Sektionen setzt sich dieser Trend nur zum Teil fort: 23 Männer gegenüber 3 Frauen lautet das Verhältnis der »Offi­zi­ellen Selektion außer Konkur­renz«, 15-4 in den »Orizzonti«.

Hier böse Absichten zu unter­stellen, wäre nur borniert. Alberto Barbera, der Direktor, handelte sich ja nur Ärger ein, wenn er keine Frauen in den Wett­be­werb einlädt. Solche Leute sind am Ende Politiker und ich glaube, dass Barbera, wenn er überhaupt an so etwas wie Quote denkt, dann eher auf noch ein paar Frauen drängt, und dann billigend in Kauf nimmt, dass die Filme nichts taugen. Dass es jetzt so viele sind, kann sich nächstes Jahr schon wieder ändern.

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Man hat ja in den letzten Jahr­zehnten ein bisschen vergessen, dass Film in erster Linie eine Kunst ist. Er wird oft genug nur als Ware gesehen. Aber keiner würde auf den Gedanken kommen, bei der Kunst­bi­en­nale in Venedig die Werke als Ware zu sehen, obwohl da natürlich auch viele Millionen kursieren, wenn diese Werke dann gehandelt werden. Aber man hat mehr Lust und Neugier an Sperrigem, Unge­wöhn­li­chem, an etwas, das unsere Verhält­nisse auf allen Ebenen – ästhe­tisch, moralisch, politisch – in Frage stellt und kriti­siert. Im Film hat man ein bisschen zu wenig Lust dazu. Das liegt auch daran, dass Film gerne als Massen­kunst angesehen und abgetan werden.

So lenkt dieser ganze Star­rummel ein bisschen von dem ab, worauf es wirklich ankommt, und man kann hoffen, dass sich das wieder verändert. Auf der anderen Seite muss man ehrlich sagen: Seit den Anfängen des Kinos, schon wenn wir an Mary Pickford, Louise Brooks, Marlene Dietrich und solche Berühmt­heiten aus der Frühzeit denken, gab es schon große Stars, die das Kino voran­ge­bracht haben und unter die Massen gebracht haben, die mit ihrer Popu­la­rität auch sperrige und soge­nannte kleinere Filme, die sonst keine Aufmerk­sam­keit gehabt hätten, ins Licht der Öffent­lich­keit bringen.
Insofern bedingt eines das andere. Man hatte viel­leicht nur zuletzt den Eindruck gehabt, dass es gar nicht mehr um die Filme geht, sondern darum, welche Klei­dungs­stücke, welches Parfüm und auch welche Umwelt- und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion den jewei­ligen Star schmückt – und das ist natürlich die falsche Reihen­folge.

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Im Jahre des Corona-Festivals ist es unsi­cherer denn je, wer denn wohl heute Abend den Goldenen Löwen gewinnen wird. Nur eines scheint sicher: Die britische Darstel­lerin Vanessa Kirby (bekannt aus der Serie „The Crown“) gilt bei nahezu allen als Favoritin auf den Preis der Besten Schau­spie­lerin. Gleich in zwei Filmen spielt sie die Haupt­rollen: In The World to Come von der in den USA lebenden Norwe­gerin Mona Fassvold spielt sie die eine Hälfte eines Frau­en­lie­bes­paars im Wilden Westen des Jahres 1856. Und beim Ungarn Kornel Mundruczu ist sie die „Frau in Stücken“ (Woman into Pieces), eine Frau, die bei der Geburt ihr Kind verliert, und mit diesem Verlust nicht fertig wird.

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Aber sonst? Die Frage ist immer inter­es­sant, wie so eine Jury eigent­lich arbeitet und worauf es ankommt; aller­dings nimmt uns das viel­leicht zu viel Zeit.
Für eine Jury­ent­schei­dung ist die innere Dynamik der Jury entschei­dend. Es bleibt aber fast immer reine Speku­la­tion, wie die Leute sich verstehen, wer sich durch­setzt und wo auch viel­leicht nur aus Gründen persön­li­cher Eitelkeit bestimmte Filme verhin­dert oder nach vorne gepusht werden.
Filme­ma­cher heute sind so entsetz­lich höflich und wohl­erzogen. Alle sind viel zu nett zuein­ander – vorbei die Zeiten, in denen in Jurys die Fetzen flogen, weil einzelne Jury­mit­glieder in der Entschei­dung pro/contra für einen Film wirklich etwas Entschie­denes fanden und sahen, und faule Kompro­misse ablehnten.
Aber so wie sich einer in der Jury benimmt, so macht er auch Filme – wir werden also heute Abend bei der Preis­ver­lei­hung viel­leicht nichts über Filme erfahren, aber bestimmt etwas über die Jury.

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Ich kann meine persön­li­chen Löwen nennen: Beim Goldenen Löwen schwanke ich zwischen zwei Filmen: The World to Come von Mona Fassvold und Andreij Kont­scha­low­skis Dear Comrade. Beide wirken nach über die Tage des Festivals, beide sind auf ihre Art filmisch konser­vativ, was nicht optimal für einen Haupt­preis ist, aber es gibt auch filmisch nichts Besseres; und beide haben unter­schied­liche Quali­täten, die einen Vergleich erschweren.
Am Ende würde ich mich für The World to Come entscheiden, und Kont­scha­lowski den Regie­preis geben. Der »Große Preis der Jury« ginge an Nuevo orden von Michel Franco. Der »Spezi­al­preis der Jury« an Kiyoshi Kurosawa für The Wife of a Spy.
Den Preis für das Beste Drehbuch wäre eigent­lich auch nochmal etwas für einen dieser vier Filme. Da das aber von den Regu­la­rien her, glaube ich, nicht geht, könnte man hier an den irani­schen Wett­be­werbs­film Sun Children von Majid Madjidi denken.
Die Coppa Volpi für die Beste Schau­spie­lerin geht an Vanessa Kirby. Die Coppa Volpi für den Besten Schau­spieler wäre dann übrig für etwas Italie­ni­sches. Ich habe Padren­ostro leider nicht gesehen, nur gehört, dass dessen Haupt­dar­steller Pier­fran­cesco Favino (den wir auch von Il traditore kennen) sehr gut sein soll. Den Marcello Mastroi­anni-Preis für eine Nach­wuchs­leis­tung müsste der jugend­liche Haupt­dar­steller von Sun Children bekommen.

So ist das, wenn ein Film­kri­tiker sich die Preise backen könnte. Große Einschrän­kung bei alldem: Einen Film, der immer wieder genannt wird, habe ich versäumt, und werde ich nur nachholen können, wenn er heute Abend wieder­holt wird – das passiert nicht mit den kleineren oder den Schau­spiel­preisen. Mal sehen.

Noch eine Nach­be­mer­kung: Es ist ziemlich schade, dass hier wie auch in anderen Film­fes­ti­vals zwar ein fester Preis für das »Beste Drehbuch« vergeben wird, aber kein fester Preis für »Beste Bild­ge­stal­tung« oder so etwas wie »Beste künst­le­ri­sche Leistung« oder »Beste visuelle Leistung« – unter solche Kate­go­rien könnte man dann nämlich Kamera oder Schnitt subsu­mieren. Und es gibt Filme, bei denen liegt die Qualität ohne Frage nicht im Drehbuch, sondern in den Bildern. Kiyoshi Kurosawas Film gehört eindeutig zu diesen. Gäbe es einen Preis für die Beste Bild­ge­stal­tung würde er den bekommen. Oder The World to Come.

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Begrün­dung: Die Norwe­gerin Mona Fassvold, die bereits mit zwei Filmen im Wett­be­werb von Venedig vertreten war – in beiden Fällen aber als Dreh­buch­au­torin –, erzählt von ameri­ka­ni­schen Farmern Mitte des 19 Jahr­hun­derts. Zwei Frauen freunden sich an, sie teilen sowohl ihr Leid unter den jewei­ligen Ehemän­nern und den harten Lebens­ver­hält­nissen, als auch die Hoffnung, die Träume. Man inter­es­siert sich für Bücher, liest einen Atlas, sehnt sich nach der großen weiten Welt, die sehr weit weg ist. Die beiden verlieben sich inein­ander.
Dies ist eine Hymne auf die Freiheit, auch eine Hymne auf die Kraft der Kunst. Denn beide schreiben selber – Tage­bücher und Gedichte –, beide lesen viel, beide wollen mehr. Dies ist auch eine Hymne auf die Kraft der Schönheit – selber in großer Schönheit insze­niert. Der Film macht das auch selbst zum Thema, indem er die eine Figur ein schönes, auffällig blaues Kleid kaufen lässt, nicht etwa um es – das wäre die billige Variante – der Geliebten zu schenken, sondern um selber für sie schöner auszu­sehen.
Die Bild­sprache ist sehr poetisch, dies ist einfalls­rei­ches, sehr sinn­li­ches Kino, das stark von Natur­auf­nahmen lebt.

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Andrej Kont­scha­lowski wiederum ist über 80 Jahre alt, der älteste Regisseur im Wett­be­werb. Er ist ein typisches Produkt der Elite der Sowjet­union. Sein Vater war der Komponist der sowje­ti­schen Natio­nal­hymne – einer der schönsten Natio­nal­hymnen der Welt. Mit genau dieser Musik beginnt Kont­scha­low­skis Film – damit gibt der Regisseur sofort in den ersten Sekunden ein ironi­sches Zeichen: Dieser Film erzählt auch von mir persön­lich, er erzählt auch eine ganz eigene Geschichte. Hinzu kommt, dass Kont­scha­low­skis Frau und Haupt­dar­stel­lerin Julia Vysots­kaya selber in Novocher­kassk geboren wurde – der Stadt, in der das hier alles spielt. Viel­leicht hat sie von den histo­ri­schen Hinter­gründen des Films auch in der eigenen Familie oder von Freunden gehört. Der persön­liche Bezug ist jeden­falls da. Novocher­kassk ist auch die alte Kosaken-Haupt­stadt, und auch das spielt im Film eine Rolle.

So rekur­riert Kont­scha­lowski im Film immer wieder elegant auf die eigene Biografie und die eigene Familie. Er selbst kommen­tierte seinen Film in Bezug auf die Haupt­figur, eine Frau, die in der Zeit der Revo­lu­tion oder kurz danach geboren wurde, und die Hauptlast des »Großen Vater­län­di­schen Kriegs« gegen Nazi-Deutsch­land tragen musste – wir müssen uns ja klar machen, dass die Verhält­nisse, die wir heute in Europa haben, nicht allein den Ameri­ka­nern zu verdanken sind, sondern mindes­tens zum gleichen Anteil auch der Roten Armee und Stalin. Schon deswegen ist es nicht so einfach, dass man alles an der UdSSR nur verur­teilt: »Dieser Film ist eine Hommage an die Reinheit dieser Gene­ra­tion, ihre Opfer und die Tragödie, die sie erlebte, als ihre Mythen zusam­men­bra­chen und ihre Ideale verraten wurden.«

Sein Film erzählt die Geschichte eines Arbeiter-Streiks im Jahr 1962, in der Don-Region, der blutig nieder­ge­schlagen wird. Es gibt über 20 Tote, die Schützen stammen nicht aus der Armee, die an den Ort gerufen wurde, sondern von Scharf­schützen des KGB, die aus Verste­cken heraus in die Menge geschossen haben, um die Demons­tra­tion aufzu­lösen. Das ist alles histo­risch ganz gut recher­chiert.

Es geht dem Regisseur um die grund­sätz­liche poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Atmo­sphäre und um eine Familie und deren drei Gene­ra­tionen, die im Zentrum stehen. Inter­es­san­ter­weise haben alle drei keine Lebens­partner, sie stehen allein für sich und ihre jeweilige Gene­ra­tion: Ein Großvater, seine Tochter, und wiederum deren Tochter. Der Großvater ist ungefähr 70, er hat also schon als junger Mann den Ersten Weltkrieg und die Russische Revo­lu­tion erlebt. Die Tochter ist 40, viel­leicht 45, sie hat also als junge Frau im Zweiten Weltkrieg gekämpft. An der Wand hängen Bilder von ihr in Uniform. Deren Tochter wiederum ist genau 18 Jahre alt. Sie arbeitet in der Fabrik, die den Streik beginnt, und sie sympa­thi­siert mit den Strei­kenden.

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Dies ist eine der ganz wenigen Ausnahmen unter den Filmen, die man hier sieht: Ein Film, in dem die Haupt­fi­guren keine Liebes­ge­schichte erleben. Keine enttäuschte, keine sich erfül­lende, keine neue. Sie werden von Lust und Liebe nicht in irgend­einer Form ange­trieben. Das kann sehr erholsam sein auf einem Film­fes­tival, in dem es überhaupt nicht mehr en vogue ist, dass Figuren irgendein poli­ti­sches, ästhe­ti­sches, welt­an­schau­li­ches oder intel­lek­tu­elles Motiv für ihr Handeln haben. Sondern nur schnöden Mammon, oder dessen Gefühl­spen­dant: Emotio­nalen Mate­ria­lismus. Hier verraten uns die Filme etwas über unsere Gegenwart und ihr Menschen­bild. Wir können uns den Menschen offenbar nur noch als Indi­vi­duum vorstellen, das auf der Suche nach egozen­tri­schen Befrie­di­gungen ist.

Aber Kont­scha­lowski, der schon andere Zeiten erlebt hat, kann es. Bei ihm geht es nicht um den Kitsch oder die Romantik der Emotionen, um Subjek­ti­vismus also, sondern es geht um die Verhält­nisse, auch in ihrer Härte, aber auch in ihrer Elas­ti­zität. Es geht um die Gesell­schaft, nicht um Privates – dies ist der große Unter­schied zu vielen anderen Filmen.

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Kont­scha­lowski erzählt hier gewis­ser­maßen die Geschichte Russlands – nicht nur der Sowjet­union, denn er geht zurück vor die Revo­lu­tion – anhand von drei Gene­ra­tionen, die alle unter einem Dach leben und anhand von drei Tagen, die die Stadt erschüt­tern. Als ein Streik blutig nieder­ge­schlagen wird, werden diese drei Gene­ra­tionen mitein­ander konfron­tiert. Ein ganz toller, sehr facet­ten­rei­cher Film.

Es geht Kont­scha­lowski weniger um das konkrete Ereignis 1962 und seine Hinter­gründe, sondern um seine mora­li­schen und poli­ti­schen Funda­mente. Dieser Film schlägt eine Schneise durch das russische 20. Jahr­hun­dert, denn es gibt hier drei Gene­ra­tionen einer Familie: Einen Großvater, der bei den Kosaken war, also gegen die Revo­lu­tion 1917. Er hängt dieser Zeit nach, hat einen scharfen Sinn für die Verbre­chen, aber er verdammt auch einseitig die Revo­lu­tion und leugnet ihre Errun­gen­schaften.
Diese Errun­gen­schaften vertei­digt um so mehr seine Tochter, die Haupt­figur. Sie sympa­thi­siert auf eine geradezu naive Weise mit Stalin. Sie war Soldatin in der Zeit des Großen Vater­län­di­schen Krieges gegen Hitler­deutsch­land. Sie ist Stali­nistin oder besser Stalin-Roman­ti­kerin – im Jahr 1962, also schon lange nach dem berühmten 20. Parteitag 1956, bei dem sich der Wind gedreht und erstmals die Verbre­chen Stalins öffent­lich benannt wurden, und mit dem die damnatio memoriae der Zeit Stalins begonnen hat. Diese Ergeb­nisse will diese Ludmilla nicht nur nicht akzep­tieren. Sie will sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Die dritte ist die Enkelin.
Kont­scha­lovski gehört der Gene­ra­tion der Tochter an, seine Eltern der der Mutter. Die drei Gene­ra­tionen verkör­pern verschie­dene Sicht­weisen auf Land und Politik.
Der zweite Grund für die Qualität dieses Films ist seine Ästhetik: In schwarz-weiß gedreht, im klas­si­schen 4:3-Format. Dies ist auch ein sehr gut gemachter Film.

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Wife of a Spy ist ein Film Noir aus Japan. Kiyoshi Kurosawa erzählt eine Geschichte aus den frühen 40er Jahren. Japans Diktatur radi­ka­li­siert sich zunehmend.
Im Zentrum des Films steht ein Ehepaar, das glücklich verhei­ratet ist. Er leitet eine Firma, seine Ehefrau ist zuhause. Man lebt im Wohlstand und vor allem liebt man das westliche Leben: Westliche Kleidung, Whiskey aus Amerika, und nicht zuletzt das Kino. Man dreht hübsche kleine private Filme.
Das ist nicht alles: Das japa­ni­sche Kaiser­reich hatte 1940 bereits einen »Natio­nalen Kleider-Erlass« verkündet, nach dem alle Japaner ange­halten werden – noch nicht gezwungen – sich japanisch zu kleiden und nicht westlich.
Auf diesem Fundament öffnet Kurosawa ein faszi­nie­rendes, span­nendes, dabei sehr spie­le­ri­sches Tableau der Verwir­rung. Immer wieder wechseln die Perspek­tiven auf die Figuren und das Geschehen. Ein Vexier­spiel, bei dem man sich fragt, wer hier wen betrügt und warum? Wer der Verräter ist, und was Verrat überhaupt heißt unter den Umständen einer faschis­ti­schen Diktatur? Das alles ist die Frage.
Wie es sich für einen guten Film Noir gehört, sind die mora­li­schen Gewich­tungen nicht klar verteilt. Wer hier gut ist, wer böse, das ist genauso unklar wie vieles andere.

Fest steht, dass der Gatte auf einer Mand­schurai-Reise irgend­wann Beweise für Kriegs­ver­bre­chen und Menschen­ver­suche sichern kann. Unter anderem auf Film. Offenbar will er sie außer Landes bringen. Seine Frau ahnt zuerst nichts, dann kommt sie ihm auf die Schliche, verrät ihn – doch dieser Verrat entpuppt sich selbst als Finte, um die entschei­denden Infor­ma­tionen dadurch um so sicherer zur Seite zu bringen. Aber ist das wirklich alles?

Kostbare Seide dient hier zum Einwi­ckeln wert­voller Dinge, falsch aufge­stellte Schach­fi­guren signa­li­sieren Gefahr, Vorhänge, Möbel, Anzüge sind von erlesener Qualität, gefahren wird im Rolls-Royce – auch in Japan ist die Klas­si­sche Moderne der Sehn­suchsort schlechthin.
Kurosawa wickelt diese reiße­ri­sche Geschichte in leise Töne und roman­ti­sche Musik – in Japan ist die Verpa­ckung immer schon wichtiger als der Inhalt, und diese Verpa­ckung ist bezau­bernd.

(to be continued)