08.09.2020
77. Filmfestspiele von Venedig 2020

Ohne Abstand sitzt sich's schöner

Dear Comrades
Ein starker Film, aber einer, über den man streiten kann: Dear Comrades von Andrei Konchalovsky.
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service)

Spielarten der Leere im Kino und ein postsowjetischer Film im Wettbewerb – Notizen aus Venedig, Folge 7

Von Rüdiger Suchsland

»Tatsäch­lich befindet man sich auf Festivals stets auf Tauch­fahrt unter Wasser, und wenn man das Kino verlässt, fühlt man sich, als würde man wieder empor­steigen ans grelle Tages­licht, wo alle Träume im Nu verdampfen. Da sieht man dann Tom Cruise und Nicole Kidman auf der Pres­se­kon­fe­renz, und nichts, aber auch gar nichts erinnert an den Zauber, den sie in Kubricks Film entfalten. Ein nettes, junges Paar, das übermüdet versucht zu erklären, was nicht zu erklären ist. Dass der Mann hinter diesem Film keines­wegs ein Sonder­ling, sondern ein Fami­li­en­mensch gewesen sei. Nett, vers­tänd­nis­voll, zugewandt. So what! Und draußen kreischen die Mädchen, wenn Tom auftaucht, und wissen nicht warum.«
Michael Althen, SZ 04.09.1999 Feuil­leton

Einen Roten Teppich gibt es auch dieses Jahr. Er ist aller­dings hinter einem Sperr­holz­ver­schlag derart zugehäm­mert, dass nichts von dem Schau­laufen mehr möglich ist, das ihm überhaupt Sinn gibt.
Nur für die Photo­gra­phen und die Kamera der RAI existiert er überhaupt – ein potem­kin­scher Roter Teppich am Adria­strand. Irgendwo da drüben, gegenüber auf der anderen Seite des Meeres hatte Tito einst ein kleines jugo­sla­wi­sches Hollywood errichten lassen, zu seinem Privat­ver­gnügen. Auch ein Richard Burton half seiner­zeit mit, um Film­in­dus­trie zu simu­lieren, er spielte den jungen Parti­sa­nen­führer Tito in einem dieser Jugo-Block­buster.

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Die Leere selbst am Samstag oder Sonntag in den Kinos – sie macht bestimmt Gesund­heits­po­li­tiker und Hyste­riker glücklich, einen Kinofan kann sie nicht glücklich machen. Denn Kino, das ist unter anderem auch dichtes Aufein­an­der­sitzen, es ist das Gefühl einer inten­siven Menge.
Zuschauen mit Distanz und Sicher­heits­ab­stand zwischen­ein­ander ist eine Perver­sion des Kinos, auch wenn es vielen gefällt. Aber dieser große Abstand, die Tatsache, dass die Kinos manchmal auch nicht mal zur Hälfte gefüllt sind, wie sie dürften, die nervt auf Dauer.

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Um den Kino­be­such unter den Pande­mie­be­din­gungen zu orga­ni­sieren, gibt es ein ausge­klü­geltes Buchungs­system für Akkre­di­tierte. Drei Tage im Voraus kann und muss man buchen, man wählt einen bestimmten Sitz, und da die jewei­ligen Nach­bar­sitze abmon­tiert sind oder so fest­ge­schnallt, dass sich dahin keiner setzen kann, ist sicher­ge­stellt, dass jeder allein sitzt, keiner neben­ein­ander.
Wo man im Kino sitzen sollte, ist ein ewiges Thema. Eher vorne – das ist klar. Die Mitte ist irgendwie doof, man braucht Perspek­tive.
In Venedig gucke ich eigent­lich in allen Sälen von rechts auf die Leinwand. Warum, das kann ich nicht erklären. In Locarno auch, in Cannes und San Sebastian in der linken Hälfte, kommt zum Teil auch auf die Kinos an.

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Am Wochen­ende hat das Festival die Ansage verändert. Jetzt sagen sie nicht nur an, dass man die Gesichts­maske auch während des Scree­nings tragen muss und auch die Nase bedeckt halten soll, sondern sie weisen auch darauf hin, dass man seinen Platz nicht wechseln darf. Wahr­schein­lich ist die gute Absicht dabei die, dass mögliche Infek­tionen nach­ver­folgbar sein sollen. Was dabei aller­dings komplett unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass nicht selten Plätze von ihren Inhabern gar nicht einge­nommen werden, sondern diese die vorher gebuchten Tickets verfallen lassen. Auch das ist keine böse Absicht, es ist nur natürlich, bei einem Film­fes­tival, wo zumindest ein paar Dinge spontan funk­tio­nieren und man sich auch manchmal entscheidet, etwas sausen zu lassen, oder arbeitet, oder man hat einen wichtigen Film mehrfach gebucht, um sicher hinein­zu­kommen, wenn man nicht weiß, ob man bestimmte Scree­nings zeitlich schaffen wird. Oder man hat einfach vergessen, die gebuchte Karte zurück­zu­geben. Alles das kann passieren, alles das gehört zu einem Film­fes­tival – nur sind eben eine ganze Menge Plätze, die vorher gebucht waren, frei. Und das bedeutet, dass man die Zuschauer noch viel Corona-gesi­cherter verteilen könnte.
Wie es dann im Infek­ti­ons­fall wirklich aussähe, ist gar nicht vorstellbar – wahr­schein­lich müsste man sowieso alle Saal-Insassen infor­mieren, egal wo sie saßen.

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Es ist ein relativ einsames Festival diesmal, eine ganze Reihe von Kollegen, mit denen ich ansonsten auch mal abends was trinken würde, sind nicht hier. Außerdem ist es so, dass wir durch die Reser­vie­rungs-Pflichten und die Vertei­lung der Vorfüh­rungen mehr Kinos haben als sonst und noch nie so getrennt saßen. Nach dem Kino verab­reden ist damit alles etwas kompli­zierter und auch zeitlich schwie­riger – wir verbringen mehr Zeit in den Kinos, aber es bedeutet auch, dass man für andere Dinge eigent­lich sehr wenig Zeit hat. Über­ra­schend wenig. Ich bin schon jetzt gespannt, ob das beim nächsten Film­fes­tival, das statt­findet, in San Sebastian, ähnlich sein wird. Oder es wieder voll­kommen spontane Begeg­nungen oder Zufalls­be­kannt­schaften gibt.
Manche Kollegen, von denen ich weiß, dass sie hier sind, die habe ich noch nicht ein einziges Mal gesehen. Anderen geht es, glaube ich, genauso. An dem Ort, wo ich manchmal zwischen­durch schreibe, ein Café auf dem Festi­val­gelände, wo es auch ziemlich viele Stühle und Tische gibt, da habe ich diesmal eine ganze Reihe von Menschen gesehen, die alleine herum­sitzen.

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Ein starker Film, aber einer, über den man streiten kann, ist Dear Comrades von Andrei Koncha­lovsky.

Gedreht in Schwarz-Weiß, im 4 zu 3 Format, geht es mit der sowje­ti­schen Natio­nal­hymne los. Ein Ort in der Provinz im Sommer, im Don-Becken des Südens: Nowot­scher­kassk im Jahr 1962.
Zu Beginn wirkt vieles ein bisschen nost­al­gisch roman­ti­sie­rend, der Film zeigt auch das Schöne des Lebens damals, die Musik, die Möbel, die kleinen Dinge: auch für die UdSSR ist 1962 eine gute Zeit, eine Zeit des Aufbruchs. Es scheint sich eine ganz private Geschichte zu entspinnen – nur im Hinter­grund gibt es natürlich im Radio leichtes Rumoren um die Preis­er­höhungen.
Ludmilla ist eine Frau in den mittleren Jahren, viel­leicht ist sie erst 40, viel­leicht auch schon 50. Sie hat eine poli­ti­sche Position in der lokalen KP und deswegen Privi­le­gien, weil sie besser an Essen und Trinken heran­kommen kann, auch an Ziga­retten und sonstige kleine Gefäl­lig­keiten – trotz aller Ratio­nie­rungen.

Sie hat ein Verhältnis mit einem verhei­ra­teten Mann, von dem sich heraus­stellt, dass er ihr Vorge­setzter in der Partei ist. Das erste Gespräch dreht sich bereits darum, dass sie alle gegen­seitig von der Situation profi­tieren und das in einem gewissen Sinn natürlich auf dem Rücken anderer.

Sie hat eine Tochter. Wir können uns schon jetzt ausrechnen, dass diese Tochter ungefähr 20 Jahre alt ist, also noch im Zweiten Weltkrieg geboren wurde, der damals erst 18 Jahre zurücklag. in den Gesprächen zeigt sich schnell die Gene­ra­tions-Differenz zwischen ihr und ihrer Tochter: Sie selbst hat eine Tendenz, Stalin zu verklären: »Das war die gute alte Zeit ... wenn er noch da wäre, dann wäre alles nicht so schlimm ... damals machte alles Sinn.«

Dann dreht sich der Film und entfaltet ein präzises Bild des komplexen Räder­werks der Partei und Staats­ap­pa­rate, des Militärs, der Jugend­or­ga­ni­sa­tionen. Es geht auch um die Funk­ti­ons­be­din­gungen der alltäg­li­chen Büro­kratie. Immer ist noch einer drüber in der allge­gen­wär­tigen Hier­ar­chie.

Als ziemlich bald vor Ort ein Streik ausbricht, der ziemlich schnell eskaliert, ist die Partei alarmiert. »Erinnern Sie sich an 1956« heißt es. So wird der Arbei­ter­auf­stand nieder­ge­schossen, über 20 Menschen sterben – Nach­richten über diese Ereig­nisse werden unter­drückt.

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Was Dear Comrades von natu­ra­lis­ti­schem Nach­stel­lungs­kino unter­scheidet, das etwa Jasmila Zbanics-Massa­ker­film vom Donnerstag prak­ti­ziert, ist, dass die aller­meisten Figuren unein­deutig und ambi­va­lent sind, und dadurch glaub­würdig.
Als sie über die Opfer der Revo­lu­tion und des Bürger­kriegs debat­tieren, sagt die Haupt­figur »Was there a better way?«

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Der Film spaltet. Mir und zum Beispiel Carlos hat er gut gefallen, aber der Italiener Ugo schimpfte über einen »Bour­geoisen Film«: »This is a stupid woman. I don’t want stupid women. I am not inte­rested in stupid women. I am not inte­rested in this one single person and her daughter – I’m inte­rested in history and the historic event.«

(to be continued)