24.09.2020
68. Festival de Cine de San Sebastián 2020

Schlichte Passionen

Druk
Gut durchgehaltener Anti-Moralismus: Thomas Vinterbergs Druk
(Foto: Press Service SSIFF 2020)

Der Teufel, der Schnaps. Und die Sehnsucht nach Exzess: Ein K(l)ammerspiel und Sisyphos auf dem Gipfel – Notizen aus San Sebastián, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

»Denn das wahre Bedürfnis der Philo­so­phie geht doch wohl auf nichts anderes als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen.«
Hegel

Albert Camus, der fran­zö­si­sche Exis­ten­tia­list und Schrift­steller, den manche auch für einen Philo­so­phen halten, hat ein ganzes Buch über den »Mythos des Sisyphos« geschrieben. Das ist jener von Homer über­lie­ferte Mann, der »der weiseste und klügste unter den Sterb­li­chen« war. Sein Beruf war der eines Straßen­räu­bers. Das muss kein Wider­spruch sein. Er war aber nicht klug genug, oder zu klug, um den Zorn der Götter zu vermeiden. Man verdammte ihn zu sinnloser Skla­ven­ar­beit: Einen Fels­bro­cken musste er einen Berg hinauf­rollen, und immer, wenn dieser fast oben war, rollte der Brocken wieder hinunter – auf Ewigkeit.
Was ich mich bei dieser Geschichte immer gefragt habe: Warum macht der Mann das überhaupt? Wenn er so klug war. Nehmen wir mal an, er schafft es nach einigen tausend Jahren, den Felsen doch irgendwie auf den Berg zu kriegen – was hat er dann davon?
Wir müssen uns Sisyphos also als einen enttäuschten Menschen vorstellen.

An Sisyphos habe ich bei mehreren Filmen denken müssen, wohl auch, weil bereits in Woody Allens Eröff­nungs­film viel von den großen Fragen des Sinns des Lebens die Rede war. Wer das albern findet, darf hier aufhören, und Drogen nehmen. Für die anderen ist die Frage viel­leicht inter­es­sant, ob das Leben nun leer und bedeu­tungslos ist, oder doch irgendein Zweck dahinter liegt. Man muss Woody Allen und seinen Eröff­nungs­film auch nicht mögen, um die Frage relevant zu finden, worum es im Leben geht, und ob es irgend­etwas nach dem Tod oder jenseits der Welt gibt, oder nur das große Nichts. Und um über Allens Frage zu lachen: »Kann man Gott verklagen, wenn er vertrags­brüchig wird?«

Aber was wäre dieser Vertrag? Das Verspre­chen auf Glück? Auf Sinn? Auf Aufklärung über die Bedeutung bestimmter Dinge? Über das Gute, über die Existenz des Bösen? Über das Schöne? Und wie all das mitein­ander zusam­men­hängt.

Weil mich das inter­es­siert, und ich diese Fragen ernst­nehme, und tatsäch­lich gern wüsste, was Sisyphos von seiner prole­ta­ri­schen Existenz hat, und warum er in der Absur­dität glücklich sein soll, wie Camus behauptet, darum gehe ich ins Kino.

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Vor vielen Jahren hat Danielle Arbid einen sehr schönen Film gemacht über ihre Kindheit im Libanon. Ich habe ihn nicht vergessen, genauso wie die Tatsache, dass ihre Jugend im Bomben­hagel des Bürger­kriegs ausge­rechnet durch Boney M.- Songs verschönt wurde. Inzwi­schen sind 15 Jahre vergangen und ihr neuer Film Passion Simple wäre in Cannes gewesen – viel­leicht sogar im Wett­be­werb? Wer weiß das schon? Wenn man den Film gesehen hat, kann man sich ihn im Wett­be­werb nur aus solchen Gründen vorstellen, wie sie im Vorjahr zur Teilnahme des Films Sibyl führten. Auch darin ging es vor allem um Seelen­qualen einer bürger­li­chen Frau, Innen­an­sichten von Weib­lich­keit.

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Ziemlich am Anfang geht Helene, die Haupt­figur des Films mit einer Freundin ins Kino. Sie sehen dort Hiroshima, mon amour von Alain Resnais nach Margue­rite Duras. Ein klar gesetztes Zeichen. »Moscou, Mon Amour« ist Passion Simple aber nicht geworden, und das liegt auch daran, dass die Regis­seurin zwar dieses und viele andere Zeichen setzt, aber nichts mit ihnen anzu­fangen versteht. Es sind einfach zu viele Zitate, Refe­renzen, Anspie­lungen durch­ein­ander. Man darf natürlich schon auf Resnais und Duras und diesen Film anspielen – aber wenn man das tut, dann muss man es auch richtig tun, dann kann man das nicht nur so als ein Zitat für ein paar Minuten mal in den Film hinein­we­deln, und es dann noch zum Anlass für eine kurze blöde Dialog­szene in einem Café machen.
So macht dieser Verweis uns eher unfrei­willig klar: Der fran­zö­si­sche Liebes­film ist auch nicht mehr, was er mal war.

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Nach dem Kino­be­such reden Helene und die Freundin im Café über den Film und über Männer. Zum Film hat Helene vor allem zu sagen, dass sie die Frau­en­figur nicht mochte, weil ihr die zu bürger­lich und typisch fran­zö­sisch sei, aber den Mann, den Japaner mochte sie.
Wenn man Passion Simple sehr wohlwill, könnte man ihn als ein Pastiche von Hiroshima, mon amour bezeichnen. Ein miss­glücktes, aber immerhin. Denn auch hier geht es um die Liebe zwischen einer bürger­li­chen Frau – Helene ist Univer­si­täts­do­zentin – und einem Fremden, in diesem Fall einem Russen namens Alexandre, der als Security-Mann bei der Botschaft arbeitet. Helene hat ein Kind und lebt allein. Alexandre ist verhei­ratet und mit Tattoos übersät. Es wird gesagt, dass er jünger sei als sie.

Mit Passion Simple hat Arbid Annie Ernauxs gleich­na­mige Novelle von 1992 verfilmt. Ich kenne das Buch nicht und weiß nicht, ob die »Hiroshima«-Referenz dort schon vorkommt. Ich habe mir aber erzählen lassen, der Film sei gegenüber der Vorlage stark verändert. Allemal sind die ganzen Refe­renzen auf das Putin-Russland offen­kundig aktuell gemeint. Und selbst die Besetzung ist eine Referenz: Sergei Polunin, Darsteller des Alexandre, ist ein berühmter Tänzer, der an der Pariser Oper bereits für mehr als einen Skandal gut war, und zuletzt heraus­ge­flogen ist, weil er sich öffent­lich »russ­land­freund­lich«, gemeint war wohl Putin-freund­lich, geäußert hatte.

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»Since last September, I have done nothing but wait for a man.« Dies ist der erste Satz. Erzählt wird von einer souver­änen Frau, die sich komplett von einem Mann abhängig macht, mit dem sie eine Sex-Beziehung hat. Mit dem sie nichts sonst verbindet. Die ihr Leben darüber verliert. Die sich dumm macht.
So ganz klar ist dabei nicht, was der Film zeigen will: Wie eine Frau dumm wird? Wie Liebe dumm macht? Worum es »wirklich« geht?
Manche, auch manche Frauen, werden einen solchen Film als einen typischen Frau­en­film ansehen. Der zeigt, »wie Frauen schauen«, »wie Frauen empfinden.« Wie »es« »wirklich« ist. Wir wollen mal hoffen, dass es das nicht ist.

Inter­es­sant ist das Ende. Später, nach vielen Wochen der Abwe­sen­heit, in denen sie zuerst fast verrückt wurde, dann allmäh­lich den Entzug geschafft hat, trifft sie ihn wieder: Sie sagt »der Mann, den ich wieder sah, war nicht mehr der Mann, den ich vor 8 Monaten getroffen hatte. Aber damals hatte er mich an eine Grenze geführt und mir gezeigt, wer ich bin. Durch ihn weiß ich, zu was ich fähig bin. Wo meine Grenzen liegen. Und ich habe Grenzen erreicht. An ihnen gekratzt, sie viel­leicht sogar über­schritten.«

Man kann in alldem auch einen Kommentar zum Russen-Bild in Europa sehen. Unsere Wahn­vor­stel­lung vom »Russen« als Tier.

Insgesamt ist dieser Film ein K(l)ammer­spiel, das in manchen Sequenzen wie die Karikatur eines fran­zö­si­schen Liebes­films wirkt, dann aber wieder durch groß­ar­tige Auftritte der beiden Haupt­dar­steller besticht: Laetitia Dosch ist eine Entde­ckung, auch Sergei Polunin hat Charisma.

»Fifty Shades of French-Russian-Rela­ti­on­ship« kommen­tierte Dubravka, die mit mir in der FIPRESCI-Jury sitzt.

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Das Pendant dazu bildet Druk von Thomas Vinter­berg. So wie es bei Arbid um eine Frau geht, die noch etwas anderes vom Leben will als konven­tio­nellen Alltag, die ihre Grenzen und Möglich­keiten zum Exzess austesten will, so geht es hier um Männer, die in der Midlife-Crisis Erleich­te­rung suchen. Sie finden sie nicht allein und nicht in Affären, sondern gemeinsam, als Freunde und im Alkohl­rausch. »Druk« heißt auf Dänisch »Suff«.

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Am Anfang steht ein Motto vom Philo­so­phen (und Hege­lianer) Kier­ke­gaard: »What is youth? A Dream. What is love? The Content of the dream.«

Am Anfang saß ich in diesem Film, und denke: Ich will das nicht sehen. Von Anfang an dachte ich: Ich weiß, wie es weiter­geht, ich weiß, wie es ausgeht. Es wird wehtun. Mats Mikkelsen in der Rolle der Haupt­figur wird irgend­wann in seiner Kotze liegen und jammern und einen Alko­ho­liker am Boden spielen, und dann nüchtern werden müssen.

So geht es los. Dann aber nimmt der Film eine ganz andere Ausfahrt. Was in den ersten Minuten so beginnt, dass man ein moral­trie­fendes Alko­ho­li­ker­drama erwartet, verwan­delt sich in eine beschwingte Komödie über Exzess und Freiheit.
Der Däne erzählt von vier befreun­deten Lehrern in der Midlife-Crisis. Als sich die vier bei einer Geburts­tags­feier ordent­lich betrinken, beginnen sie ein Expe­ri­ment: Sie nehmen die These mancher Wissen­schaftler – es gibt sie wirklich! – wörtlich, nach der ein bisschen Alkohol dem Menschen guttut. Und sie beschließen, von morgens vor der Arbeit und bis um 20 Uhr regel­mäßig zu trinken. Wie Hemingway.
Tatsäch­lich wird ihr Unter­richt davon beflügelt, trotzdem gerät alles auch zwischen­durch aus dem Ruder.

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Der Film spielt mit den Gewiss­heiten unserer Selbst­op­ti­mie­rungs­ge­sell­schaft, auch dem Moral­re­gime, das verlangt, »perfekt« zu sein, »gesund« zu leben, den Körper zu stählen, zu trai­nieren, möglichst zu verbes­sern, aber mindes­tens zu erhalten. Für wen eigent­lich? Für dieje­nigen, die ihn ausbeuten wollen.

Dieser Film wider­spricht dem allge­gen­wär­tigen Mora­lismus gegen Sucht und für Leistung: Alkohol kann guttun. Und wozu perfekt sein? Wozu rein sein?
Vinter­berg hält seinen Anti-Mora­lismus erstaun­lich gut durch. Er pole­mi­siert gegen all jene, die immer genau wissen, was richtig ist. Und gegen die Spaß­ver­derber, die aus medi­zi­ni­schen Gründen und gesund­heit­li­chen Gründen Menschen den Spaß rauben.
Dafür kann er sogar Kier­ke­gaard zitieren: Akzep­tiere dich selbst als fehlbar.

Doch Vinter­berg lässt alles heiter und fröhlich enden. Am Schluss tanzt Haupt­dar­steller Mats Mikkelsen beschwingt über die ganze Leinwand. Wenn es einen »Männer­film« gibt, dann ist es dieser.

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Anna Sofie, Regis­seurin, dffb-Absol­ventin und Dänin aus Berlin, die nach zwei Auftritten mit Filmen diesmal in der »Zabaltegi«-Jury sitzt, erzählte mir gestern noch von einem Interview, das Vinter­berg in der dänischen Zeitung »Politiken« gegeben hat, und das ihn von einer sympa­thi­scheren Seite zeigt, als andere Auftritte. Er erzählt darin auch sehr offen von seinem Umgang mit dem Unfalltod seiner 19-jährigen Tochter Ida während der Dreh­ar­beiten zu Druk – der immerhin ein Film ist, in dem ganz viele Jugend­liche mitspielen, die kaum jünger waren als die Tochter, und in der er eine Beer­di­gungs­szene zu insze­nieren hatte. Man sieht diesen Film danach noch ein bisschen anders.

(to be continued)