24.12.2020
Cinema Moralia – Folge 238

Ein Bären­dienst fürs Kino

Die Zukunft der Berlinale
Wieder mal »on stake«: Die Zukunft der Berlinale
(Zeichnung: rbb/24)

Zwischen Kolonialmuseum, Streaming-Bedrohung und Pandemie: Die Berlinale zerteilt sich – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 238. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Die Berlinale in den Sommer zu verlegen, war schon immer eine gute Idee. Auch die Älteren vergessen gern, dass die Berlinale bis zum Jahr 1980 tatsäch­lich ein heute trotz Klima­wandel unvor­stellbar warmes, hell­som­mer­li­ches Festival war, weil sie im Juni stattfand, in etwa genau zu dem Termin im Jahres­rhythmus, den sich kurz darauf der Münchner Ober­bür­ger­meister Erich Kiesl unter den Nagel riss, und an dem Eberhard Hauff fünf Jahre nach Gründung der entspre­chenden kosten­trei­benden GmbH das Filmfest München zum ersten Mal durch­führte.

Die Vorver­schie­bung in den Winter durch den damals neu ange­tre­tenen Festi­val­di­rektor (Und ZEIT-Filme­dak­teur! Das war noch ein Niveau!!) Wolf Donner war vor 40 Jahren eine mindes­tens schlaue Sache, festi­val­stra­te­gisch jeden­falls, ange­sichts der Umstände, dass Berlin hinter Cannes schon immer das viel unwich­ti­gere und banalere Film­fes­tival war, und dass Venedig sich 1980 gerade nach zehn Jahren, in denen es dort kein echtes Festival gab, neu gründete, und Berlin plötzlich zwischen zwei attrak­ti­veren Orten und besseren Festivals lag. Man setzte sich damit im Jahres­ab­lauf vor das Film­fes­tival von Cannes und konnte so den Franzosen immerhin ein paar Filme abluchsen. Film­märkte, wo es sie denn überhaupt auf Festivals schon gab, inter­es­sierten seiner­zeit niemanden.

Als Carlo Chatrian und Mariette Ries­sen­beek vor zwei Jahren den uner­setz­li­chen Dieter Kosslick als Berlinale-Direktor ersetzten, hatten ihnen die Wohl­mei­nenden unter den vielen Berlinale-Kritikern nicht nur zu einem deut­li­chen Schnitt in Programm und Personal geraten, sondern verein­zelt auch dazu, das Festival komplett in den Sommer zu verlegen. Am besten gegen Ende Juli. Das würde Carlo Chatrians altes Festival in Locarno zwar endgültig aus der ersten Reihe elimi­nieren, aber dafür mit genügend Abstand zu Cannes liegen. Die gerade unter Nicht-Europäern unver­min­dert angesagte Metropole Berlin könnte außer mit konkur­renzlos billigen Preisen und unzäh­ligen Unter­künften auch mit warmen Spät­som­mernächten punkten, mit einem 24/7-Nacht­leben, Bars und Clubs. Die schönen Seiten Berlins, die es tatsäch­lich auch gibt, bekommt der dick einge­packte und dauer­erkäl­tete Besucher der Berlinale-on-Ice gar nicht mit. Und plötzlich würde sich sogar das typische Kosslick-Wohl­fühl­kino, das auch im ersten Chatrian/Ries­sen­beek-Jahr weiterhin viel zu viel im notorisch über­la­denen und kontur­losen Berlinale-Programm vertreten war, weniger schlimm anfühlen.

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Es brauchte aber erst eine globale Seuche, um solche Ideen gegen den Willen der gesamten Funk­ti­onärs- und Poli­ti­ker­kaste und gegen das Zaudertum der Berlinale-Führung durch­zu­setzen. Zumindest ansatz­weise.

Denn die jetzt verkün­deten Corona-Reak­tionen sind in vielen Details unklar und wirken so unschlüssig wie der Lockdown-Light der Bundes­re­gie­rung.

Man hört bisher Wider­sprüch­li­ches aus der Berlinale-Pres­se­ab­tei­lung. Klar ist: Die Berlinale wird komplett verlegt. Und sie wird in der Verlegung tatsäch­lich zwei­ge­teilt: Im März gibt es den Wett­be­werb und wohl auch ein Festival für die Film­branche, das heißt für Einkäufer und Rechte-Händler, für bestimmte Filme­ma­cher, viel­leicht auch für akkre­di­tierte Jour­na­listen. Das findet statt wie immer, nur um 2-3 Wochen nach hinten verschoben – wie es dann wirklich ist, das weiß niemand so genau. Die größte Änderung aber ist: Das Publikum bleibt erstmal ausge­schlossen! Deswegen, weil man nicht genau weiß, ob ein Lockdown richtig aufge­hoben ist, oder halb aufge­hoben ist.
Dafür kann das allge­meine Publikum dann im Juni, zu einer viel ange­neh­meren, aller­dings auch kino-unfreund­li­cheren Jahres­zeit ins Kino gehen, und wird dort auch eine große Gala erleben.

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So ganz genau ist übrigens aus der Pres­se­mit­tei­lung nicht klar geworden, was da wie eigent­lich ablaufen soll. Dort steht definitiv, im März wird eine inter­na­tio­nale Jury die Filme des Wett­be­werbs in Berlin sichten, und die Bären-Preise entscheiden. Dem Berliner Publikum werden die Preis­träger und die Film­aus­wahl dann im Sommer »präsen­tiert«. Falls sie bis dahin nicht schon im Kino waren.

Aber wann kann zum Beispiel die Presse eigent­lich die Filme sehen? Und das Fach­pu­blikum? Ist die Presse auch unter der »Film­branche« subsu­miert, die zumindest virtuell beim European Film Market (EFM) teilnimmt?

Die Berliner Presse, zum Beispiel der notorisch popu­lis­ti­sche »Tages­spiegel«, hat andere Sorgen: Wird die Berlinale wie Cannes? Diese angst­volle Frage steht zwischen allen Zeilen, die im Char­lot­ten­burger Weltblatt zu lesen sind.

In Cannes kommt das normale Publikum norma­ler­weise nicht rein. Die Berlinale hingegen sagt popu­lis­tisch: Wir zeigen Filme, in die jeder rein kann. Als ob in die Filme von Cannes niemand rein könnte – diese Filme sind einfach dafür vorge­sehen, im Kino vermarktet zu werden, und nicht um von einem Film­kunst­fes­tival ins nächste zu wandern und irgend­wann nach Mitter­nacht im Fern­seh­pro­gramm zu verschwinden. Es gibt sehr gute Gegen­ar­gu­mente gegen die Berlinale-Selbst­dar­stel­lung, und die Formel vom Publi­kums­fes­tival ist schon seit langem nur eine Ausrede dafür, dass die Berlinale nicht die Filme bekommt, die in Cannes laufen.

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Die Hinter­gründe sind bemer­kens­wert: Nach allem, was man hört, ist es so, dass das Festival nur deshalb zwei­ge­teilt wird, weil der größte öffent­liche Geldgeber, das Bundes­kul­tur­mi­nis­te­rium, eine klas­si­sche Berlinale für den April jetzt nicht fest zusagen wollte. Die März-Veran­stal­tung wiederum ist zu unsicher. Man wollte even­tu­elle Ausfall­kosten im Hause Grütters nicht garan­tieren.
Diese Nachricht schmerzt doppelt. Denn es ist das BKM gewesen, nicht etwa die Berlinale-Leitung, die im vergan­genen Herbst noch vor dem soge­nannten Light-Lockdown sehr darauf gedrängt hat, den Termin im Februar zu bestä­tigen. Die Berlinale-Leitung selbst, die zwischen­zeit­lich mindes­tens fünf verschie­dene Szenarien – von einer komplett virtu­ellen bis hin zu einer komplett analog statt­fin­denden klas­si­schen Berlinale – erwogen hat, war seiner­zeit von Grütters gezwungen worden, wider besseres Wissen oder bessere Ahnung den Februar-Termin zu fixieren.

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Einmal mehr zeigt sich auch hier das Versagen der Bundes­kul­tur­po­litik, nament­lich der Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters. Auf der einen Seite gibt der Bund nicht weniger als 630 Millionen Euro für ein Kolo­ni­al­mu­seum aus, eine Art Monika-Grütters-Denkmal, und füllt den leer­ste­henden, weil für sich genommen sinnlosen Wieder­aufbau des preußi­schen Stadt­schlosses größ­ten­teils mit Raubkunst.

Da scheint mir ein sehr großes Miss­ver­hältnis vorzu­liegen, und wieder einmal die bekannte Miss­ach­tung des Kinos.

Denn auf der anderen Seite scheut man sich, die Summe von 15 bis 20 Millionen Euro einmalig zu garan­tieren, und als Sicher­heit zu hinter­legen, um einen even­tu­ellen Ausfall der Berlinale im April finan­ziell abzu­fe­dern. Darum wird die Berlinale jetzt gezwungen, genau das zu tun, von dem sie seit Monaten gesagt hat, dass sie es auf keinen Fall tun will: Online gehen, das Festival und den Film-Markt virtuell zu veran­stalten.
So wie die Festivals von Saar­brü­cken oder Duisburg es getan haben – die spielen aber in einer deutlich nied­ri­geren Liga als die Berlinale.
Die echte Konkur­renz der Berlinale sind Festivals wie Cannes, Venedig, Locarno und San Sebastian. Und die haben es im letzten Jahr unter Corona-Bedin­gungen allesamt besser gemacht: Venedig und San Sebastian hatten das Glück, im Spät­sommer genau zu der Zeit statt­zu­finden, in der wir alle einen kurzen Sommer der Corona-Lockerung erlebten. Man konnte also die Filme wie gehabt im Kino sehen. Mit Gästen auf Pres­se­kon­fe­renzen und in Inter­views disku­tieren. Wenn man sich eini­ger­maßen vernünftig verhielt, das heißt mit Maske im Kino war und auf Abstand zu den anderen Zuschauern.
Cannes und Locarno, die ungüns­ti­gere Termine hatten, hatten schon sehr früh gesagt: We better prefer not to – das heißt unter diesen Umständen würden sie einmal nicht statt­finden, bevor sie online gehen. So schmerz­lich das ist, aber es sei eben besser, als dem Kino, dem man doch dienen wollte, durch eine Virtua­li­sie­rung einen Bären­dienst zu erweisen.
Genau diesen Bären­dienst erweist nun die Berlinale im Kino: zum Zeitpunkt, in dem wir schon mehr als ein Jahr nach dem ersten Lockdown uns alle sowieso schon stark dem Kino entwöhnt haben, setzt die Berlinale noch einen drauf.

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Wie nobel war da die Reaktion des Filmfest München, dessen Termin durch die Berlinale-Egozen­trik nun fast mitge­schred­dert wird:
»Die Berlinale hat sich ange­sichts der jüngsten Pandemie-Entwick­lungen für ein zwei­stu­figes Festi­val­format für die kommende Ausgabe entschieden, mit digitalen Bran­chen­an­ge­boten im März und reinen Publi­kums­vor­stel­lungen im Juni in Berlin. Ange­sichts unserer Erfah­rungen in 2020 mit dem sequen­ti­ellen FILMFEST MÜNCHEN POP-UP können wir dieses Vorgehen nur unter­s­tützen und senden den Kolleg*innen beste Wünsche für die Umsetzung ihres Festivals.
Zugleich sehen wir unsere bereits seit längerer Zeit laufenden Planungen durch die Entwick­lungen in Berlin weiter bestärkt, im Sommer 2021 das FILMFEST MÜNCHEN als Live-Festival mit inno­va­tiven Kino- und Open Air-Elementen in der ganzen Stadt zu gestalten. In unserem Festi­val­zeit­raum vom 24. Juni bis 3. Juli 2021 werden wir Premieren und Begeg­nungen für ein breites Münchner Publikum und die gesamte deutsche Film­branche bieten.«
Festi­val­di­rek­torin Diana Iljine: »Wir stehen für Sommer, Sonne, München – für Begegnung vor Ort. Ein zentraler Teil der Belebung der gesamten deutschen Film- und Kultur­branche im kommenden Sommer wird auf dem FILMFEST MÜNCHEN statt­finden. Darauf freuen wir uns und wünschen den Berliner Kolleg*innen für ihre Planung gutes Gelingen.«

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Man wird sehen, was am Ende in Berlin heraus­kommt. Nun hat offen gesagt die Berlinale ganz andere und viel grund­sätz­li­chere Probleme, die sie lösen muss, und gegen die die Pandemie ein laues Lüftchen ist: Sehr grund­sätz­liche Raum­pro­bleme, Probleme der Ausrich­tung, Probleme überhaupt in Zukunft in einer Film-Land­schaft, in der das Kino sich verändert, ihren Platz zu behaupten.

(to be continued)