29.10.2020
Cinema Moralia – Folge 232

Die Reali­täts­ver­wei­ge­rung

Und morgen die ganze Welt
Widerstand in Julia von Heinz' gerade angelaufenen Und morgen die ganze Welt
(Foto: Alamode)

Gegen das Kultur Verbot! Wo bleibt der Aufstand? Das deutsche Kino muss streikfähig werden und aktiv auf den Lockdown antworten – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 232. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die ange­bo­rene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur Aggres­sion, Destruk­tion und damit auch zur Grau­sam­keit erwähnt wird.«
Sigmund Freud, 1930

»Die schlimmste Haltung ist die Gleich­gül­tig­keit, die bedeutet: 'ich kann nichts dafür, ich komme schon klar'. Mit einem solchen Verhalten verliert ihr einen unver­zicht­baren Bestand­teil der Mensch­lich­keit. Es ist die Empörung und das daraus resul­tie­rende Enga­ge­ment.«
Stephane Hessel, »Empört Euch!«, 2010

»Liebe Politiker lasst euch wählen, ja! Aber vergesst bitte nicht von wem! Das Land steht kulturell still. Und die Beweg­lichsten und Ehrlichsten tretet ihr gerade mit Füßen ... Nehmen wir uns und unsere Errun­gen­schaften ernst. Damit wir den Glauben an unser erfolg­rei­ches plura­lis­ti­sches System erhalten behalten genau das ist nämlich in Gefahr, wenn Kultur nicht mehr frei arbeiten und frei wirt­schaften kann.«
Till Brönner, 2020

Wenigs­tens zu Beginn etwas sehr Schönes: Eines der schönsten Kino­gän­ger­er­leb­nisse des Jahre hatte ich vergan­gene Woche noch ein weiteres Mal in der Retro­spek­tive des Berliner Arsenal zum fran­zö­si­schen Ausnah­me­re­gis­seur Bertrand Bonello, dessen wunder­schöner anti­ko­lo­nia­lis­ti­scher Essayfilm Zombi Child gerade in den Kinos läuft.
Où En Êtes-Vous? Numéro 2 entstand diesen Sommer, eine Selbst­re­fle­xion in Form eines 15-minütigen Briefs an seine 17-jährige Tochter. Dies ist auch eine Corona-Reflexion zu neu montierten klaus­tro­pho­bi­schen Bildern seiner Filme über Still­stand, Verlust, das Ende der Dinge, die ungewisse Zukunft und geträumte Film­pro­jekte, aber vor allem eine Ode an die Schönheit. Fazit: »Spring always returns.« Und: »There‘s always the music!«

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Das ist es dann auch schon mit den frohen Botschaften. Es ist eine Kata­strophe. Nicht die Corona-Zahlen, sondern unsere Reak­tionen darauf. Diesen Mittwoch spätes­tens ist die deutsche Politik in die Phase der Reali­täts­ver­wei­ge­rung einge­treten. Die Politik – gemeint sind die politisch Handelnden – hat in der Corona-Politik die Kontrolle verloren, also das, was ihre ihre ureigene Aufgabe ist. Sie hat sie aus eigener Schuld verloren. Und sie reagiert auf diesen Kontroll­ver­lust mit Verwei­ge­rung der Realität.
Diese Reali­täts­ver­wei­ge­rung hat viele Facetten. Zu ihr gehört auch, sich um Vermitt­lung ihrer Beschlüsse, um das Über­zeugen und »Mitnehmen« der Bürger nicht (mehr?) zu scheren.

Es gibt aber zwei Haupt­pro­bleme bei den nun beschlos­senen Lockdown-Maßnahmen: Die Verwei­ge­rung auf die Fakten und Daten einzu­gehen, ist das eine Problem. Die Ignoranz gegenüber der selbst vom regie­rungs­ei­genen RKI bestä­tigten Tatsache, dass Gast­stätten und Kino keine Pandemie-Treiber sind, sondern Begeg­nungen in privaten Wohnungen. Ergebnis: Durch Kino- und Gast­stät­ten­schließungen treibt man die Menschen, die nun mal soziale Wesen sind, noch mehr ins Private. Die Zahlen werden deshalb weiter steigen. Und schon heute wissen wir aus Erfahrung, dass die Maßnahmen über ihr jetzt behaup­tetes Ende, denn 30. November hinaus gelten werden.

Das zweite Problem ist das Wort »vorerst« in vielen Beschlüssen. Die Regierung verwei­gert sich ihrer Chance, der Bevöl­ke­rung das Wich­tigste zu geben: Hoffnung. Und ihr einen Ausweg zu zeigen.

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Jetzt müssen die Verbände reagieren. Gemeinsam. Entschlossen. Schnell. Sie müssen diese Politik in Grund und Boden klagen.
Bisher hat das nur die FDP angekün­digt. Hoffent­lich haben sie Erfolg. Aber ist es soweit, dass wir auf die FDP hoffen müssen?

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Wir müssen uns dieser Politik verwei­gern. Konse­quent. Demons­trieren. Auf Abstand auch zu den Rechten. Aber konse­quent.
Der Begriff der Konse­quenz gewinnt neue Aktua­lität.

Nehmen wir mal die zu Recht viel kriti­sierten Hygiene-Demos. Ich nenne jetzt nicht die schönen Lich­ter­ketten und Menschen­rechts­mär­sche, an denen ich auch schon teil­ge­nommen habe, sondern die fiesen Corona-Nerv­ba­cken, über die sich Menschen und Medien viel mehr Gedanken machen.
Wenn es Demons­tra­tionen von ähnlicher Schlag­kraft und ähnlichen Wirkungen gebe, mit Masken und Abstand und für die Kultur, dann wäre es sehr gut. Wir sollten von den Hygiene-Demos das über­nehmen, was daran funk­tio­niert: Nämlich laut, penetrant und unüber­hörbar zu werden.
Anstatt mit gerümpfter Nase daneben zu stehen oder vor allem vor den Bild­schirm zu sitzen, den Kopf zu schütteln und wie selbst gute Freunde und namhafte Film­wis­sen­schaftler sich über die Empörer zu empören, sollten wir von ihnen lernen.
Die Idee des Aufstands sollte man sich nicht von einer Handvoll Neonazis aus der Hand schlagen lassen. Zur Idee des Aufstands gehört auch, dass man zusammen mit Leuten agiert, die einem nicht in jeder Hinsicht in den Kram passen, mit denen man nicht zu hundert Prozent über­ein­stimmt.

Um nicht miss­ver­standen zu werden: Ein Aufstand ist keines­wegs etwas, das ich mir wünsche. Aber ich wünsche mir rebel­li­sche Bürger. Und ich wünsche mir Bürger­druck gegen eine Regierung, die sich für Bürger­rechte vergleichs­weise wenig inter­es­siert. Die diese Bürger­rechte den Zahlen der von ihr keines­wegs unab­hän­gigen Institute und vor allem den Wirt­schafts­zahlen unter­ordnet.
Einer Regierung, die die Kultur miss­achtet. Und zwar deswegen, weil diese Kultur nicht mit einer Stimme spricht, weil diese Kultur nicht streik­fähig ist.

Die Kultur muss streik­fähig werden, denn was jetzt nötig ist, das ist ein Gene­ral­streik der Kultur!

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»Seit Monaten schaue ich mir nicht nur an, wie eine gesamte Branche durch Corona lahm­ge­legt wird, sondern erlebe auch, wie auffällig verhalten und geradezu über­vor­sichtig Bühnen­künstler sich auch nach acht Monaten zu dieser Misere äußern – obwohl ihre Existenz gerade funda­mental auf dem Spiel steht. Ich halte diese Zurück­hal­tung aus unseren eigenen Reihen für fatal, da sie ein völlig falsches Bild der drama­ti­schen Lage zeichnet, in der sich unser Berufs­zweig aktuell befindet.«

Der Jazz­mu­siker Till Brönner hat schon vor den neuesten Regie­rungs­er­klärungen eine knapp sieben­minü­tige Wutrede gehalten, die sich in den letzten Stunden in den »sozialen Netz­werken« massen­haft verbreitet hat.

»Ich denke es ist an der Zeit einmal klar­zu­stellen, worüber wir gerade sprechen. Denn hier geht es nicht um Selbst­ver­wirk­li­cher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind. Es geht um uns alle! Und es geht um Geld, viel Geld!! Ich bin Künstler, aber ich bin auch Arbeit­geber, Fami­li­en­vater, und Leis­tungs­träger einer Nation, die sich auch selbst gerne das Land der Dichter und Denker nennt.«

»Ich spreche von Musikern, Tonin­ge­nieuren, Licht­tech­ni­kern, Catering, Bühnen­bauern, Busfah­rern, Beschal­lungs­firmen, Club­be­sit­zern, Agenturen und lokalen Hallen­be­trei­bern. Die Liste alleine in meinem persön­li­chen Umfeld ist also sehr sehr lang. Ich spreche von hunderten quali­fi­zierten Menschen, Studierten, und nur in meinem Dunst­kreis und hoch­ge­rechnet sind wir viele. Sehr sehr viele. Um genau zu sein so viele, dass der Vergleich mit den größten Branchen, wie z.B. der Auto­in­dus­trie deshalb hinkt, weil wir mehr als doppelt so viele sind. Nämlich weit über 1,5 Millionen.«

Brönner verweist in seinem Aufruf darauf, dass die Kultur- und Veran­stal­tungs­branche pro Jahr rund 130 Milli­arden Euro Umsatz mache und insofern auch ein Wirt­schafts­zweig sei. Und dass dieser Wirt­schafts­zweig vom Staat ignoriert und ohne Hilfe einfach dem Untergang preis­ge­geben wird. »Das ist kein Luxus­pro­blem, das ist ein Kern­pro­blem.«
Ich weiß nicht, woher er seine Zahlen hat, und wie »belastbar« sie sind. Persön­lich vermute ich, sie dürften noch etwas höher sein.

»Was habe ich übersehen? Wie kann man einzelnen Konzernen Milli­arden in den Vorgarten werfen, und der Veran­stal­tungs­branche Arbeits­lo­sen­geld II anbieten? Wir sind weder arbeitslos noch hatten wir vor Corona ein Nach­fra­ge­pro­blem, wie so einige andere Branchen übrigens, die in Wahrheit nicht an Corona, sondern durch Schläf­rig­keit oder Gier in Schief­lage geraten sind.«

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Man hätte sich so etwas natürlich von der Film­brache schon lange und erst recht gewünscht, zumal die Pandemie ja die Bedeutung des Films – nicht des Kinos, aber des Films – noch unter­mauert, aber die Film­branche hatte bestimmt Wich­ti­geres zu tun.

Egal, nehmt Euch einfach ein Beispiel Leute! Hört zu und vor allem: Handelt endlich! Jetzt!!

(to be continued)