23.07.2020
Cinema Moralia – Folge 222

Das Kino – ein Ort des Aushan­delns

Berlin Alexanderplatz
No need for diversity, just necessity!
(Foto: Entertainment One Germany)

Diversität ist die Frage, nicht die Antwort: ästhetische und politische Räume, buntes Deutschland statt Setzkastengesellschaft. Das Kino ist kein Ort für Identitätspolitik – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 222. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»I didnt want you to enjoy the film. I wanted you to look very closely at your own soul.«
Sam Peckinpah

»The task I am trying to achieve is above all to make you see.«
D. W. Griffith

»Wer sah deiner Meinung nach gut aus im Anzug?
Der Gary Cooper. Ein Kunst­his­to­riker hat einmal gesagt: Eine Skulptur von Michel­an­gelo, die kannst du den Hügel hinun­ter­rollen, und sie wird nicht zerbre­chen. Das Gleiche galt für Gary Cooper: Roll him down the hill and he will not break. Der steht da unten wieder auf, putzt sich ab und ist wieder cool.«
Und Mastroi­anni?
Ganz groß. Dem konntest du dreißig Sakkos hinhängen, und er hätte immer das richtige raus­ge­sucht. Es gibt ja ein Stil­ge­spür, und das hatte er. Wobei man sagen muss: Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, und das alles in Schwarz-Weiß, das ist natürlich das Schönste überhaupt...
Hans Hurch, im Gespräch

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Vor drei Jahren starb Hans Hurch. Das ist immer noch sehr traurig! Mit Hans hätte ich heute wahn­sinnig gern ein, zwei, drei Bier getrunken und zum Beispiel über Roberto Minervini gespro­chen.

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Ein Zufalls­fund: SZ-Seite vom Dienstag 26.08.1980. Dort die »Filmtipps« vor knapp 40 Jahren in München, hier einmal ungekürzt abge­schrieben:
Weekend (1967) von Jean-Luc Godard, seine letzte Arbeit vor dem Mai 1968, »ein Film, verirrt im Kosmos, gefunden auf dem Schrott­haufen« (Godard), dem Schau­platz des Unter­gangs der Bour­geoisie. Spät­pro­gramm in der Lupe 2. ― Zum Vergleich: Easy Rider (1969) von Dennis Hopper, der in seinem Vertrauen auf die Frei­heiten der räum­li­chen Bewegung gegenüber Godard unbe­irrbar sich an Mythen bindet und seine Ballade dennoch nicht mehr zu einem guten Ende bringt. In Origi­nal­fas­sung, Mittwoch und Donnerstag, Spät­vor­stel­lung im Europa.
Les jeux sont faits (1947) nach Jean-Paul Sartre von Jean Delannoy, der zumindest in den vierziger Jahren dem Kino zahl­reiche echte Möglich­keiten aufzeigte, Literatur zu verfilmen. Bis Donnerstag, Nach­mit­tags­pro­gramm im Theatiner.
Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) von Piel [Sic!] Jutzi nach Erzäh­lungen von Heinrich Zille. »Gegenüber diesem Film versinken geprie­sene Werke der deutschen Produk­tion in ihr verdientes Nichts«, schrieb »Der Abend« nach der Urauf­füh­rung. Und der »Film-Kurier«: »Der bedeut­samste, neuar­tigste Unter­welt­film Berlins ist so entstanden.« Bis Donnerstag, täglich 20.30 Uhr im Film­mu­seum
Mr. und Mrs. Smith (1941), Hitch­cocks einzige ameri­ka­ni­sche Komödie. »Da ich die Art von Leuten nicht verstand, die in dem Film gezeigt wurden, habe ich die Szenen photo­gra­phiert, wie sie geschrieben waren.« (Hitchcock). Bis Donnerstag, Spät­pro­gramm im Theatiner.
Aus dem Programm der Film­kunst­wo­chen: Malper­tuis (1971) von Harry Kümel. Antike Mythen, abend­län­di­sche Märchen­mo­tive und Tradi­tionen des Schau­er­ro­mans in einer homogenen Phantasie von den Grenzen der Allmacht eines gefräßigen Tyrannen. Am Donnerstag im Isabella.
Coming Home (1977), Hal Ashbys Vietnam-Heim­keh­rer­me­lo­dram. Am Dienstag im Kino West. Saint Jack (1979) von Peter Bogd­a­no­vich. Am Dienstag im Rex. Die dritte Gene­ra­tion (1978) von Rainer Werner Fass­binder. Am Donnerstag im Türken­dolch. Gezeichnet: HGP.

Dieser Text erzählt in jedem Wort mehr über den Verfall der deutschen Film­kultur, als viele lange Leit­ar­tikel.

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Darf man, wenn man ihn loben will, sagen, ein Film sei »schön«. Ich glaube schon, andere glauben nicht. Schönheit steht unter Verdacht.
Ein Grund mehr, sie zu vertei­digen. Denn das, was siegt, zu vertei­digen, bringt nicht nur keine Ehre.

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»Ausver­kauft« war das Delphi-Kino am Frei­tag­abend bei meinem ersten regulären Kino­be­such »post-corona«. Ich wollte nochmal Berlin Alex­an­der­platz sehen, der Film bestand das zweite Sehen gut, trotz kleiner Längen. Bei drei Stunden kein Wunder.
Der Abstand zwischen den Leuten: Riesig. Hyste­risch. Man muss nur auf die Straße treten und das Volk rückt dicht an dicht, im Kino aber herrscht Abstands­hal­tung, wie bei den Lege­hennen, nur bürger­li­cher. Insgesamt nur viel­leicht 80 Leute in einem Kino, das knapp das Zehnfache fasst. Ausver­kauft war das nie im Leben, auch nicht im Rahmen der Auflagen. Vor allem aber: Kino ist anders. Kino ist Schmutz und Dichte, der schlechte Atem des fremden Neben­manns, das Knie der unbe­kannten Nachbarin. Kino ist schmut­zige Phantasie.
Und dann bei so einem Film. Das Gefühl war das einer Pres­se­vor­füh­rung, und zwar für einen Arthouse-Film, also ohne Blogger, wie in den Neun­zi­gern, als wir anfingen: Wohl­tem­pe­riert, gesittet. Selige Zeiten. Für die Presse. Kino aber war damals erst recht anders: Sitten­lo­sig­keit, Gestank, Verfall, Midnight, vor allem Risiko. Zumindest auch.

Diese Film­vor­füh­rung war risikolos. Aber ich hätte den Film gern gesehen ohne Berüh­rungs­ver­bote und mit Infek­ti­ons­ge­fahr.

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Burhan Qurbanis Berlin Alex­an­der­platz, über den ich noch mehr schreiben werde, erzählt von einem bunten Deutsch­land, und zeigt Körper als Material, Zeit als Treib­stoff, die Metropole als Bühne.
Er formu­liert Döblins ange­staubten, wenn auch immer noch bezir­zenden Expres­sio­nismus um zu einem Film aus unserer Gegenwart.
Ein Film, bei dem der Haupt­dar­steller nicht schwarz ist, um einen Diver­si­tät­scheck zu bestehen.

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Das bringt uns aufs nächste Thema: Die Film­för­de­rung Hamburg-Schleswig-Holstein (FFHSH) hat einen Diver­si­tät­scheck für alle Projekte lanciert, und sich damit bestimmt viele Brownie-Points verdient, bei irgend­wel­chen Verbänden zumindest.

Den Film, den Kinofilm insbe­son­dere, bringt solches erzwun­gene (natürlich nicht in echt, aber de facto) Diver­si­fi­zieren nicht voran. Burhan Qurbanis kluge und aus dem Stoff entstan­dene Entschei­dung, aus dem Prole­ta­rier Franz Biberkopf den afri­ka­ni­schen Flücht­ling Francis B. zu machen, stünde zukünftig im Verdacht, nur sekun­dären Erwä­gungen poli­ti­scher Korrekt­heit geschuldet zu sein.
Unbe­fangen übersehen könnten wir sie genauso wenig wie vorher. Übersehen kann nicht verordnet, erzwungen werden. Und auch wenn es viele schwarze und farbige (ich weiß schon: nicht PC, aber POC ist auch kein Wort) Deutsche gibt, ist die Mehrheit der Deutschen weiß. Dafür oder für die Entschei­dung, dies auch in einem Film zu zeigen, sollte man sich nicht recht­fer­tigen müssen. Sowenig wie für andere Haut­farben.

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In unserer Politik domi­nieren phan­ta­sie­volle Wohl­fühl­ge­schichten. Dazu gehören folgende Aussagen: Alle Lebens­stile sind gleich­rangig. Einen alter­na­tiven Lebens­stil zu diskri­mi­nieren, ist ein Verbre­chen. Wer gegen die Gleich­stel­lungs­po­litik ist, ist ein Rassist, frem­den­feind­lich und Sexist. Keine Religion und keine Kultur ist einer anderen überlegen.
Wenn Sie diese Sätze unter­schreiben, haben wir Gesprächs­be­darf. Ich glaube nämlich, dass kein vernünf­tiger Mensch diese Sätze unter­schreiben kann, aber zunehmend wird es konform, ihnen nicht zu wider­spre­chen.

Politik verwan­delt sich in eine Therapie für Minder­heiten. Dazu gehört die neue und gerade sehr modische Anwendung des schönen Begriffs der Diver­sität. »Diver­sität« ist ähnlich wie »Multi­kul­tu­ra­lität« ein Begriff für die gleich­mäßige Reprä­sen­ta­tion aller Reli­gionen, Kulturen und Ethnien – ein klas­si­scher Fall von Orwell'schem Neusprech.
Tatsäch­lich bedeutet Diver­sität in diesem Zusam­men­hang nichts als Konfor­mismus.

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Wer Diver­sität per se eine Super­sache findet, muss eigent­lich auch das Coro­na­virus toll finden. Denn das Virus ist wie die Natur überhaupt, wild, plural, divers, damit allerings auch ungleich, diskri­mi­nie­rend. Das Virus lehnt moderne Gleich­heit ab und kennt viele Unter­schiede: des Geschlechts, des Alters, der Hautfarbe. Alte sind häufiger und schwerer betroffen als Junge, Männer mehr als Frauen, dunklere Haut­farben mehr als Weiße. Das sind die Schat­ten­seiten der Diver­sität.

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Diver­sität ist gerade »in«. Aber Diver­sität ist mindes­tens eine Illusion, wahr­schein­lich eine neue Ideologie des Zeital­ters.

Das Diver­si­täts­nar­rativ gibt vor, Diver­sität sei per se etwas Positives. Tatsäch­lich kommt es sehr darauf an.

Die Illusion unseres Zeital­ters ist die, dass alles und jedes politisch »reprä­sen­tiert« sein müsste. Dies gehört zu den Trug­schlüssen der Post­mo­derne. Die Post­mo­derne ist eine Epoche, in der die Antithese gestri­chen wurde. Doch eine Gesell­schaft, die nur auf Thesen beruht und diese nicht vermit­telt, wird scheitern.
Die Post­mo­derne behauptet, dass es in Politik und Gesell­schaft um Reprä­sen­ta­tion als solche ginge, dass also ein Parlament, ein Gremium, eine Film­kultur Abbild von etwas sein müsste – am Ende einer ganzen Gesell­schaft. In dieser Logik muss dann, weil die Gesell­schaft diverser wird oder »multi­kul­tu­reller«, wie man früher gesagt hätte, die entspre­chende Multi­kul­tu­ra­lität/Diver­sität abge­bildet werden, also auch die Film­kultur und das Parlament diverser werden. Dies ist aber mitnichten der Fall.

Es geht nicht darum, Diver­sität zu fördern, es geht darum, Diver­sität zu akzep­tieren. Manchmal geht es sogar eher darum, Diver­sität im Zaum zu halten und sie zu redu­zieren. Das sind die gesell­schaft­li­chen Aufgaben.

Am Ende funk­tio­niert Gesell­schaft nur, wenn die hoch­kom­plexen Frag­men­tie­rungen und Indi­vi­dua­li­sie­rungen nicht in eine Aufspal­tung vieler Grüppchen münden, sondern in einen Zusam­men­halt.

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Das ganze Getue mit »diversity«, mit Inklusion und so weiter, als ginge es im Kino nur darum, die richtige Sprach­re­ge­lung zu haben und jeder Gruppe der Gesell­schaft einen Platz zu reser­vieren – davon müssen wir wegkommen. Und wir müssen das natürlich nicht etwa, um einer Härte und Schwere, um irgend­einer rechten Agenda das Wort zu reden, sondern wir müssen es, um uns auf das Wesent­liche zu konzen­trieren und uns klar­zu­ma­chen: Dass das Kino nicht in erster Linie nur ein sozialer Raum ist, sondern ein ästhe­ti­scher Raum – erst das unter­scheidet ihn vom sehr geschätzten Bier­garten. Erst in zweiter Linie ist das Kino ein sozialer Raum, viel­leicht auch erst in dritter, dann erstmal ist es auch ein kultu­reller Raum. Ein ästhe­ti­scher, ein kultu­reller und dann viel­leicht ein poli­ti­scher Raum – wenn wir sagen: Kino ist ein poli­ti­scher Raum, dann ist gemeint, dass das Kino eine Arena ist. Eine Arena, in der gestritten wird, nicht etwa eine Arena, die irgend­etwas reprä­sen­tiert, was angeblich von der Gesell­schaft akzep­tiert und ausge­han­delt wurde – nein, es ist selbst der Ort dieses Aushan­delns.

(to be continued)