19.03.2020
21 films

Die SuperMe­gaÜber-Liste

Under the skin
Eine der Überraschungen: Under the Skin von Jonathan Glazer
(Foto: Senator)

Was von den Listen übrig blieb: Kuratorenfilme, Produzentinnenfilme, Männerfilme, Frauenfilme – zum Abschluß von »21 Films«, unserer überaus subjektiven, vielstimmigen Bilanz des Kinos der Zehnerjahre

Von Rüdiger Suchsland

»Borges ... zitiert 'eine gewisse chine­si­sche Enzy­klopädie', in der es heißt, daß 'die Tiere sich wie folgt grup­pieren: a Tiere, die dem Kaiser gehören, b einbal­sa­mierte Tiere, c gezähmte, d Milch­schweine, e Sirenen, f Fabel­tiere, g herren­lose Hunde, h in diese Grup­pie­rung gehörige, i die sich wie Tolle gebärden, k die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l und so weiter, m die den Wasser­krug zerbro­chen haben, n die von weitem wie Fliegen aussehen.'«
Michel Foucault »Die Ordnung der Dinge«

»Abso­lu­ti­si­rung – Univer­sa­li­si­rung – Clas­si­fi­ca­tion des indi­vi­du­ellen Moments, der indi­vi­du­ellen Situation etc. ist das eigent­liche Wesen des Roman­ti­si­rens.«
Novalis

Ein Rahmen ist ein Rahmen, hat eine Teil­neh­merin geschrieben zur Begrün­dung, warum sie nicht mehr als 21 Filme nennt. Das stimmt natürlich. Trotzdem fühle ich mich nicht schlimm, weil ich mit Zusatz­nen­nungen den Rahmen gesprengt habe wie viele andere. Auch wie wir mit dem Rahmen umgehen, wo wir ihn über­schreiten und wie, das verrät vor allem etwas über uns.

Auch inter­es­sant: Die Ordnungs­prin­zi­pien der jewei­ligen Teil­nehmer. Manche ordnen alpha­be­tisch, andere nach Jahres­zahlen. Wieder andere nach persön­li­cher Priorität. Alles legitim. Genauso wie die schöne Idee, die Filme nach ihrem Charakter und ihrem persön­li­chen Impact zu gliedern. Gerade dies nimmt die Idee des »Lieb­lings­films«, der Subjek­ti­vität ganz ernst.

Etwas dogma­ti­scher ist der Eindruck dort, wo zum Beispiel nur deutsche Filme genannt werden, oder nur Filme von Frauen. Ob das Kino aufhört? Das wurde ich gefragt. Viel­leicht ab 2014? Es gibt Teil­nehmer, deren Lieb­lings­filme fast ausschließ­lich aus der ersten Hälfte des Jahr­zehnts stammen.
Darf man eigene Filme nennen, oder nicht? Für Produ­zenten ist es offenbar leichter.

Es wird vielen so gegangen sein, wie mir: Manche Teil­nehmer haben mich mit ihren Listen extrem über­rascht, weil sie unvor­her­sehbar waren, und manchmal so gar nichts mit den Filmen zu tun zu haben scheinen, die sie selber machen.
Am inter­es­san­testen war aber das, über das ich hier nicht schreiben darf: Wie die einzelnen kommu­ni­zieren. Ob sie eine Liste abgeben oder erst die fünfte dann gelten darf. Ob die Liste nach einer Stunde kommt oder zwei Wochen nach verspro­chenem Termin. Ob sie wieder zurück­ge­nommen wird, oder nicht. Kommen­tiert oder nicht. Und wenn ja, wie.
Das alles verrät auch etwas darüber, wie die Betref­fenden Filme machen. Es zeigt, wie viel­fältig das deutsche Kino ist. Und wie toll in seiner Vielfalt. »Toll«, das heißt im Duden: Großartig, ausge­lassen, wild. Aber auch toll­dreist. Und verrückt.

+ + +

Listen zu schreiben ist eine roman­ti­sche Tätigkeit. Listen selbst sind roman­tisch. Romantik und Prag­ma­tismus, Romantik und kühle Betrach­tung sind keines­wegs Gegen­sätze, sondern bedingen einander. Es geht eben darum: Das eine nicht dem anderen zu opfern.

Die Listen der Anderen zu führen und zusam­men­zu­fassen, auszu­men­deln und nach­zu­prüfen ist nun wiederum vor allem über­flüssig und nerdy. Es ist eben so: Am Ende kommen die Nerds und das Nerdige in uns. Und die Nerds sind keine Roman­tiker. Sie aber beherr­schen die Welt durch ihren Ordnungs­sinn, ihre Vernunft. Hier nun endlich, verzögert durch Berlinale und Corona, aber genau richtig viel­leicht für die nun kommenden Wochen der Einkehr, des Rückzugs, der erzwun­genen Nach­hal­tig­keit, die manche, allzu­viele für meinen Geschmack nun feiern als will­kom­menes und unbe­zahltes Sabba­tical vom modernen Leben, einen will­kom­menen Zwang.

So haben nun alle, die es sowieso wissen wollten, jene, die es nie zu fragen wagten, und jene, die schon eigene Über­le­gungen in sozialen Netz­werken anstellten, Gele­gen­heit, sich in die Listen zu vertiefen, oder nach­zu­rechnen, oder eigene aufzu­stellen. Diese heutige SuperMe­gaÜ­berListe ist teilweise todlang­weilig, teilweise spannend, teilweise über­ra­schend – was insgesamt kaum über­rascht.

+ + +

Hier also einige Zahlen: Insgesamt wurden 76 Menschen um eine 21films-Liste ihrer Lieb­lings­filme gebeten, tatsäch­lich ganz exakt 38 Frauen und 38 Männer, dies eher zufällig, aber es hat natürlich gut gepasst. 16 haben sich entweder nicht gemeldet oder mit mehr oder weniger guten Gründen abgesagt. Unter den Absagen waren aber 10 Frauen und nur 6 Männer, daher im Gesamt­bild das leichte Über­ge­wicht von Letzteren: Von 61 Teil­nehmer sind 33 Männer, 28 Frauen. Die meisten Absagen kamen aus dem Ausland, da ist wohl dieser Listen­wahn zu deutsch.

Sie leben vor allem in Berlin: (30) und München (16), das liegt wohl auch an dem, der fragt. Die meisten sind Regis­seure (27), Produ­zenten (9) und Kritiker (7). Nur eine (reine) Autorin und ein Verleiher muss mir im Nach­hinein zu denken geben.

Sie haben insgesamt 602 Titel aus den Jahren 2010-2019 genannt (Fehl­mel­dungen wurden, falls Rück­sprache nicht möglich war, still­schwei­gend gelöscht). 213 Titel wurden mehrfach genannt, 389 nur je einmal. Gerade dies spricht schon mal für eine große Vielfalt der Antworten.

+ + +

Wenig aussa­ge­kräftig ist eine Diffe­ren­zie­rung dieser Filme nach Erschei­nungs­jahren und nach Produk­ti­ons­län­dern. Im Großen, Ganzen wird jedes Jahr 120 bis knapp 140 Mal genannt. Das Jahr 2015 scheint mit nur 99 Nennungen besonders schwach gewesen zu sein, 2018 mit 150 besonders stark – aber viel­leicht hatte man das nur noch am besten in Erin­ne­rung. Bei den Produk­ti­ons­län­dern liegen kaum über­ra­schend die USA klar vorn, vor Deutsch­land und Frank­reich.

Inter­es­santer ist die Liste der Filme und der Regis­seure.

Ich hätte nicht erwartet, dass Toni Erdmann ganz vorne liegt, und die starken Resultate für Alfonso Cuaróns Roma und Melan­cholia von Lars von Trier und Under the Skin von Jonathan Glazer haben mich auch über­rascht. Dass Nader und Simin – Eine Trennung von Asghar Farhadi und Boyhood von Richard Linklater weit vorn liegen würden, war für mich eher erwartbar. Aber dann wieder einige »schwie­rige«, kontro­verse Filme: Drive, Burning , Spring Breakers, Western, The Tree of Life. Schöne Über­ra­schungen!

Giorgos Lanthimos und ein bisschen auch Scorsese hat in der Listen-Wahr­neh­mung geschadet, dass sie so viele gute Filme gemacht haben: Die Stimmen verteilen sich gerade bei Lanthimos, und auch bei Ruben Östlund, Celine Sciamma, Lynne Ramsay, Andrea Arnold, Lee Chang-dong, Jia Zhang-ke, Chris­to­pher Nolan, auf etwas gerin­gerem Niveau Jean-Luc Godard und Paul Thomas Anderson.

Das zeigt dann die Liste der meist­ge­nannten Regis­seure, wo all diese Boden gutmachen konnten.

Besonders über­rascht und erstaunt hat mich, dass Xavier Dolan nicht mehr Stimmen bekommen hat. Auch nicht von einigen, die ich als Dolan-Fans zu kennen glaubte. Dolan, in dem man doch, auf den ersten Blick, einen der maßgeb­li­chen Filme­ma­cher der Dekade sehen würde. Das gleiche gilt für Mia Hansen Love und für Olivier Assayas, der immerhin 5 Filme gemacht hat, aber mit keinem mehr als drei Mal genannt wurde – sie allen erscheinen aus meiner Sicht unter Wert. Aber viel­leicht ging es bei Hansen Love und Assayas (die kurio­ser­weise auch noch im Leben ein Paar waren) vielen wie mir selbst. Ich dachte: Die muss ich nicht nennen; die werden eh genug genannt; andere Filme brauchen mehr Aufmerk­sam­keit.

Gewis­ser­maßen unter die Räder der Verges­sen­heit gekommen ist Gian­franco Rosi mit Fuoco­ammare, dem Berlinale-Sieger, auch Cristi Puiu und Laszlo Nemes wurden einfach zu wenig genannt. Andere, wie Bruno Dumont, David Fincher und Kathryn Bigelow scheinen in den Augen vieler ihre beste Zeit hinter sich zu haben.

+ + +

Man kann auch anders drauf­schauen. Es gibt ein paar richtige Kura­to­ren­filme: »*š« von Johann Lurf wird zum Beispiel dreimal genannt und dreimal von Kuratoren.
Glücklich wie Lazzaro von Alicia Rohr­wa­cher bekommt zehn Nennungen, aber allein 4 von Kuratoren und 2 von Produ­zen­tinnen.
Tatsäch­lich gibt es auch »Produ­zen­tin­nen­filme«. Nader und Simin – Eine Trennung von Asghar Farhadi verdankt von seinen 12 Nennungen allein 4 Produ­zen­tinnen.

+++

Am span­nendsten ist die Aufschlüs­se­lung nach Geschlecht der Abstim­menden. Bemer­kens­wer­ter­weise voll­kommen ausge­gli­chen ist der Sieger mit 11-11. Auch Melan­cholia (8 Männer, 7 Frauen), Burning (7-5), La vie d’Adèle (Blau ist eine warme Farbe) (5-4), Boyhood (7-5), American Honey (4-5), Shop­lif­ters (4-4), Frances Ha (3-3) Border (4-3) sind gewis­ser­maßen »geschlechts­neu­trale« Filme. Auch ausge­wogen finden die Werke von Chris­to­pher Nolan (7-5), Kenneth Lonergan (4-5, darunter 3 Produ­zen­tinnen), und Olivier Assayas (5-3) Zustim­mung.

Ganz anders bei anderen Filmen: Für Nader und Simin – Eine Trennung stimmen nur 3 Männer, aber 9 Frauen. Spring Breakers von Harmony Korine (8-3) ist gewis­ser­maßen das Pendant zu Porträt einer jungen Frau in Flammen von Céline Sciamma (2-8).
Weitere klare Frau­en­fa­vo­riten sind Moonlight von Berry Jenkins (0-5), die Regis­seure Giorgos Lanthimos(0-5, bzw. 1-4) und Jacques Audiard (1-6 bzw. 0-2) und Alejandro G Inarritu (3-9), die Filme Marriage Story von Noah Baumbach (0-4) und Ava von Léa Mysius (1-4).

Die soge­nannten »Kunst­filme« oder auch »Festi­val­filme« und ihre Regis­seure erhalten sehr eindeutig mehr Stimmen von Männern: Achi­t­apong Weer­a­set­hakul wird mit Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives sechs Mal genannt, ausschließ­lich von Männern, und für Cemetery of Splendour drei weitere Male, wieder nur Männer.

Holy Motors von Leos Carax neun, davon 8 von Männern. Bei Once Upon a Time in Anatolia von Nuri Bilge Ceylan steht es 7-2. Auch Andrey Zvyag­intsev und Paul Thomas Anderson, in meinen Augen (aber das ist eine subjek­tive Kategorie) eindeutig harte, »old school«-auto­ri­täre Männer, Set-Dikta­toren, die sich als gottähn­liche Seher aufspielen, bekommen viel mehr Stimmen von Männern.
Thomas Heises Heimat ist ein Raum aus Zeit bekommt 5 Stimmen, nur Männer. Paolo Sorren­tino fünf Stimmen, nur Männer. Aber auch L’inconnu du lac von Alain Guiraudie (7-1)

Als Männer­re­gis­seure erscheinen auch Hou Hsiao-Hsien, David Robert Mitchell, Jean-Luc Godard, Denis Ville­neuve, Bela Tarr, Luca Guad­a­gnino, Ruben Östlund, Joshua Oppen­heimer, Paul Schrader, aber auch Alicia Rohr­wa­cher, Ruth Becker­mann, Kelly Reichardt und Claire Denis.