16.01.2020
21 films

Starke Oldtimer

Braqueurs von Julien Leclercq
Man kann’s gar nicht glauben – Bertoluccis Io e te
(Foto: Kool Filmdistribution)

Ein Kommentar

Von Dominik Graf

Von Dominik Graf (Regisseur, München)

Starke Oldtimer

- Alain Resnais Ihr werdet euch noch wundern, 2012
Natürlich kommt einem als erstes der Anfangs-Moment dieses Films in den Sinn. Nach seinem Tod, quasi als Vermächtnis, lässt ein Bühnen­autor seine liebsten Schau­spieler in sein Anwesen rufen. Und so treten etliche fran­zö­si­sche Heroen nach­ein­ander durch die Tür des im Studio gebauten Land­hauses: Sabine Azéma, Mathieu Amalric, Pierre Arditi, Michel Piccoli, André Dussolier, Lambert Wilson – in einer unsag­baren rhyth­mi­schen Anmut anein­ander geschnitten, die Resnais seinen Filmen und seinen Mitar­bei­tern immer geben konnte. Jedes Mal wenn die Tür sich öffnet, stürmen Herbst­blätter vorbei, ertönt ein Musik­ak­zent voll Trauer und Verlas­sen­heit. Dieser völlig frap­pie­rende Moment ist mit Resnais' Tod zwei Jahre danach dann reale Film­ge­schichte geworden. So sind sie 2014 viel­leicht auch alle zu seiner Trau­er­feier gekommen. Und natürlich hätte man sich gewünscht, dass Alain Resnais ebenso wieder aufer­steht wie der Autor in diesem Film. Dass das Ganze wieder nur ein Witz, ein Scherz war. Nein, diesmal nicht. Resnais' vorletzter Film, fast schon ein verfrühter Abschied, ein frap­pie­rendes Party­spiel, in dem der Gastgeber alle narrt. So einfach kam Resnais aber nicht davon, es folgte bei ihm noch ein letztes Dacapo, sozusagen vor dem bereits gefal­lenen Vorhang, »Boire, chanter« 2014.

+ + +

– Mike Figgis Suspen­sion of Disbelief, 2012
Figgis meets Godard meets Figgis. Es gilt ja immer noch dieser wich­tigste Kernsatz, den die guten alten Päpste der »Nouvelle Vague« gepflegt haben, der besagt: sogar die schwächeren Werke einer/s bewun­derten Regis­seurs/in sind grund­sätz­lich besser und inter­es­santer als die erfolg­reichsten und umju­beltsten Filme aus der Menge des Regie-Mittel­maßes. So ist es hier. »Gefähr­liche Begierde« (»Suspen­sion of Disbelief«) ist ein ausuferndes Spiel mit erzäh­le­ri­schen Optionen. Wer hat nach einer Geburts­tags­party wen viel­leicht umge­bracht – und warum.....? Oder doch nicht? Und hatte das alles bereits eine Vorge­schichte vor 15 Jahren? Brennende Fragen in einer Londoner Film-Haute-Volée mit jungen, karrie­re­be­wussten, gutaus­se­henden Menschen. Eine hübsche Französin wird ertrunken aufge­funden. Erin­ne­rungen werden Wirk­lich­keit, werden gedoppelt als Film­szenen bei Dreh­ar­beiten. Haupt­figur ist ein deutscher Dreh­buch­autor (Sebastian Kochs stärkste Leistung bislang), der unter Verdacht gerät, eventuell eine Freundin seiner Tochter im nächt­li­chen Nachklang ihres Geburts­tags­festes getötet zu haben. Koch wird von Dämonen seiner Vergan­gen­heit heim­ge­sucht, denn seine Ehefrau, die ihn pausenlos demütigte, verschwand spurlos vor 15 Jahren.

Gleich­zeitig zu den Bedro­hungen gibt der Dreh­buch­autor Koch ein Seminar und disku­tiert die Prämissen für modernes filmi­sches Erzählen. Während der Film seine Span­nungs­punkte einer nach dem anderen allmäh­lich aufbaut, warnt der Autor seine Schüler davor, die Zuschauer dauernd mit lockenden erzäh­le­ri­schen Häppchen zu füttern, weil daraus eine zu große Erwar­tungs­hal­tung erwachsen kann. Der Autor, der auftrumpft mit erzäh­le­ri­schen Ideen, kann sich leicht darin verfangen. Und dann bricht es förmlich aus Sebastian Koch heraus: »Character is Plot«. Die Figuren sind die Geschichte. Das kann man nur bestä­tigen. Man muss nur an Figgis' berühm­teste Filme denken: Leaving Las Vegas allen voran, Mr. Jones, Internal Affairs, One Night Stand... Alle sind sie moto­ri­siert von extrem starken Haupt­fi­guren. Inzwi­schen schaut Figgis auf seine Geschichten wie eine Kamera auf ein Fußball­feld, die einfach immer weiter nach oben fährt, und dabei mehr und mehr das Umfeld und die Außen­li­nien des immer kleiner werdenden Spek­ta­kels im Zentrum zu defi­nieren versucht. Aber wenn man mal eine Nacht darüber geschlafen hat, scheint die Konstruk­tion Sinn zu machen. Man muss halt Spaß haben daran, als Zuschauer sozusagen am Nasenring durch die Arena des Erzählers Figgis gezogen zu werden.

Bemer­kens­wert lustig ist die Figur des den Vermiss­ten­fall bear­bei­tenden Detektivs, der – wichtiger als seine Nach­for­schungen – dem verdäch­tigten Dreh­buch­autor ein selbst geschrie­benes Thriller-Drehbuch zu lesen geben will. Dieser Moment ist nun sicher wirk­lich­keits­näher als viele Tatorte. Am Ende dann ertönt ein unnach­ahm­lich Figgis'sches Adagio, eine dieser Musiken, die er quasi erfunden hat, diese erlö­senden barocken Synthie- oder Streicher-Flächen, unter denen nervös ein Rhythmus zu ahnen ist – und über denen eine Trompete – Figgis selbst – wie impro­vi­sie­rend irrlich­tert. Roberto Rossel­lini sagte: »Wenn man keine Filme mehr drehen kann, dann dreht man eben Skizzen von Filmen.« Seit Figgis sich als Groß-Regisseur zurück­ge­zogen hat, mag die Film­ge­schichte etwas weiter­ge­gangen sein. Aber sie hinkt heute noch Meilen hinter ihm her.

Was auch dieses schöne Labyrinth wieder beweist.

+ + +

– Bernardo Berto­lucci: Io e te, 2012
»...Now it’s time to leave the capsule if you dare« singt David Bowie. Letzter Film und sagen­hafte Miniatur von Bernardo Berto­lucci, aus dem Rollstuhl heraus gefilmt. Lorenzo, ein puber­tie­render Groß­bür­gers-Sohn mit kompli­zierten Fami­li­en­ver­hält­nissen und großem Einsam­keits­be­dürfnis (»ich fühl mich super, wenn ich allein bin«) verbirgt sich im Keller, als seine Mutter denkt, er sei mit der Klasse beim Skifahren. Seine Idylle mit fett bestri­chenen Nutella-Broten und unge­sün­desten Big-Mäc’s Marke Eigenbau geht in die Brüche, als seine ältere Halb­schwester Olivia auftaucht, die sich selbst auf Cold Turkey setzt und ihre gesamte Extra­va­ganz sowohl im heulenden Elend des Heroin-Entzugs, wie auch im Glamour ihrer Hoch­phasen an ihm auspro­biert. Beide gehen verändert aus der gemein­samen Woche im Keller-Inferno hervor.

Man kann’s gar nicht glauben, dass Berto­lucci noch einmal ein solches wild-eigen­tüm­li­ches Kammer­spiel-Ding gestemmt hat. Schönheit um der Schönheit willen, komplexe Emotionen, erzäh­le­ri­scher Manie­rismus. Herrlich elitäre Kultur­ein­sprengsel von Anne Rice' Vampire-Sagas bis zu David Bowies mir bis dato unbekannt gewesener bizarrer Italo-Version von »Space Oddity« (»ragazzo solo, ragazza sola«, David singt italie­nisch!!), zu der die Geschwister liebevoll am Höhepunkt des Films nach dem erlebten Intim-Trip (ohne Sex) mitein­ander tanzen.

+ + +

– Wim Wenders: Every Thing Will Be Fine, 2015
Ja, ich weiß, ist 3D, hab ich aber als Flachfilm auf DVD gesehen. An die Stelle der Erzäh­lungen von Orten und Räumen in WW’s frühen Meis­ter­werken trat hier erstmals die Erzählung von verge­hender Zeit. Extrem eigen­willig und gleichsam zärtlich mit den drama­ti­schen Gefühlen der Story umgehend. Nach großen Umwegen gelangte Wenders wirklich in aufre­gendes Neuland, finde ich.

+ + +

– Wim Wenders: Die schönen Tage von Aranjuez, 2016
...und gleich noch einer: Handkes Thea­ter­text streng umgesetzt. Die Menschen reden, die Bäume rauschen. Auch nicht in 3D gesehen, ich behaupte mal arrogant, macht glaube ich nichts. Das Kino wird hier jeden­falls nochmal an einen Anfang zurück­ge­dacht, ähnlich wie in Rohmers vorletztem Film, dem gran­diosen Gemälde-Kulis­senspiel Die Lady und der Herzog von 2001. Und ähnlich wie Wenders und seine Kollegen im Münchner Film­hoch­schul-A-Kurs der ersten Stunde. Was ist das Kino? Was kann das Kino? Zum Beispiel Menschen beim Reden zuschauen. Gene Hackmans Detektiv in Night Moves sagte einst, ein Rohmer­film sei so, als würde man Farbe beim Trocknen zusehen. Das war natürlich immer Quatsch, klang aber als Spruch sehr gut. Handke sucht in den Dialogen nach Ausdruck für die fleisch­liche Liebe, verzet­telt sich, kommt zurück, korri­giert sich, fährt fort. Faszi­nie­rend, den beiden Darstel­lern im Mini­ma­lismus zuzusehen, während die Kamera kreist und kreist..... Und auch wenn die Auftritte von Nick Cave bei WW ab und zu wie Name­drop­ping wirkten – hier stellt sich bei seinem Live-Lied am Flügel »into my arms« eine große Harmonie mit den komplexen Sehn­süchten des Films ein.

+ + +

– Paul Schrader: »Dark« = Director’s Cut von Dying of the light, 2017
Der grimmige Auteur Paul Schrader hat seinen Produ­zenten quasi nach­träg­lich ins Gesicht gepinkelt und mit dem Cutter Benjamin Rodriguez (jr.!) eine aber­wit­zige eigene Version aus Resten seines solide erzählten Nicholas Cage-Flops von 2015 geschaffen. In Anlehnung an Cages Gehirn­krank­heit im Film, »fron­to­tem­po­rale Demenz«, drehen Schnitt und die Farb­ge­bung psyche­de­lisch komplett durch. Ein wirklich grimmiger Regisseur rächt sich an seinen fiesen Produ­zenten.