09.01.2020
21 films

Neo-Polars und Filmkunst Europa

Braqueurs von Julien Leclercq
Hochmoderne Gangsterstory: Im Auge des Wolfs von Julien Leclerq
(Foto: SND Films)

Ein Kommentar

Von Dominik Graf

Von Dominik Graf (Regisseur, München)

Neo Polars

Die Franzosen haben seit 2000 einen neuen Gangster- und Poli­zei­film geschaffen, in den ersten Jahren befeuert vom Ex-Poli­zisten und Schau­spieler Olivier Marchal und dem Sohn eines berühmten Vaters, Frédéric Schoen­doerffer, dann mehr und mehr gefolgt von hoch­be­gabten jüngeren Regis­seuren. Die deutsche Film­kritik nimmt keinerlei Notiz davon. Viel­leicht auch besser so.

- L’assault (The Assault | R: Julien Leclercq | FR 2010)
Bester Flug­zeug­ent­füh­rungs­film, den ich kenne. Kriegt in den 88 Minuten Turbo-Geschwin­dig­keit eine gnaden­lose Drama­turgie und trotzdem eine emotio­nale Bindung an viele Charak­tere hin. Am Ende eine atem­be­rau­bende Mate­ri­al­schlacht auf engstem Raum. Außer­ge­wöhn­li­cher Adrenalin-Pumper, sehr mini­ma­lis­tisch gedreht. Psychi­sche Druck­kammer. Man ahnt, wo beim Drehen viel­leicht überall gespart wurde (die Wackel-Kamera hilft aller­dings, das zu über­de­cken!), aber völlig egal.

- Mea Culpa (R: Fred Cavayé | FR 2012)
Mit Gilles Lelouche und Vincent Lindon als eng befreun­dete Cops auf einer Wahn­sinns­jagd fast vom erst Moment an, um den kleinen Sohn von Lindon vor den Gangstern zu retten, die er in den Kata­rakten einer Stier­kampf-Arena bei einem Mord beob­achtet hat. Der Höhepunkt spielt im rasenden TGV!!!

- Mains armées (Point Blank – Bedrohung im Schatten | R: Pierre Jolivet | FR 2012)
Melan­cho­li­sches Drama, in dem ein fantas­ti­scher Roshdy Zem, der von Marseille aus eine Waffen­dieb­stahl-Gang nach Paris verfolgt, dort gezwungen ist, mit seiner ihm aus den Augen geratenen Tochter zusam­men­zu­ar­beiten.

- Braqueurs (Im Auge des Wolfs | R: Julien Leclercq | FR 2015)
Nochmal Leclerq. Klas­si­sche Gangs­ter­story, aber hoch­mo­dern. Eine marok­ka­ni­sche Familien-Gang begeht unglaub­lich inno­va­tive Geld­trans­port-Überfälle mittels Bauma­schinen (!!), wird dann in einen Drogen­krieg hinein­ge­zogen. Ganz stark ist Haupt­dar­steller Reddine Behache.

Le convoi (Fast Convoy | R: Frédéric Schoen­doerffer | FR 2017)
Wunder­barer Vollgas-Tragi­komik-Thriller über einen Drogen­trans­port mit drei Autos aus Malaga nach Paris. Benoît Magimel als einziger Vollprofi, der von hinten alles aufräumt, was auf dem Weg zurück­bleibt. Und um ihn herum viele brillante junge marok­ka­ni­sche Schau­spieler, sowie Reem Kherici als unfrei­wil­lige Mitfah­rerin, die entfernt an die unver­gess­liche Carole Laure erinnert. Sehr amüsant und sehr spannend mit einem großen Schluss.

Es fällt übrigens ein Neben­ef­fekt dieser neuen Polars auf: mit größter Selbst­ver­s­tänd­lich­keit treten hier farbige Schau­spieler mit arabi­schem, afri­ka­ni­schem und kari­bi­schem (Joeystarr aus Marti­nique) Hinter­grund auf, als Gute, als Böse, als Charis­ma­tiker in between, egal. Die sind echt weiter als wir.

Filmkunst Europa

Nur ein einziger Film.

- No Turning Back (R: Steven Knight; GB / USA 2013)
Eins dieser eigent­lich hassens­werten Konzept­werke, die bei sinkenden Budgets zu Allzweck-Rezepten der maroden Film­in­dus­trien werden. »Haben Sie diesen tollen Film in einer einzigen Einstel­lung gesehen?« Nein, kotz, ich kann’s auch nicht mehr hören. Das sollten Olym­pia­dis­zi­plinen werden, wie weit und lang ein/e Kame­ra­mann/frau sein/ihr Arbeits­gerät tragen kann.

Hier ist alles anders. Die Lebens­dramen eines jungen Baulei­ters (Thomas Hardy) über­schlagen sich auf einer verzwei­felten Nacht­fahrt/Nacht­flucht von Birmingham nach London und gehen in die entschei­dende Runde. In unzäh­ligen, sich über­schnei­denden Tele­fo­naten quasi in Echtzeit gedreht. Aber die Inhalts­an­gaben sind nur Futter für die Presse. Tatsache ist, dass es Steven Knight – einem regie­füh­renden Dreh­buch­autor (z.B. der ster­bens­lang­wei­lige Tödliche Verspre­chen von Cronen­berg), da ist auch immer Vorsicht geboten – trotz all der tödlichen forma­lis­ti­schen Verspre­chungen dennoch gelungen ist, mit seinem sagen­haften Helden Thomas Hardy einen modernen Bezie­hungs­thriller hinzu­kriegen, der voll und ganz in der Jetztzeit sich auflö­sender Familien und Bindungen steht. Der das Konzept vergessen lässt und in der nächt­li­chen Autofahrt die Entspre­chung findet zur dahin­ra­senden Wirk­lich­keit einer furcht­baren Lebens­ent­schei­dung. Ein Unikat in jeder Hinsicht. Ich vermute, das könnte auch in der Filmo­gra­phie des Autors/Regis­seurs so bleiben.