16.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Rauchend durch Cannes

Der Leopard
Alice Rohrwacher, sehr überzeugend: Lazzaro felice

Die unüblichen Verdächtigen: Ein Streifzug durch den ersten Teil eines ungewöhnlichen Wettbewerbs von Cannes, mit jeder Menge Zigaretten in der Tasche

Von Till Kadritzke

Als Programm­leiter Thierry Frémaux vor einigen Wochen auf der obli­ga­to­ri­schen Pres­se­kon­fe­renz den Wett­be­werb des dies­jäh­rigen Festivals von Cannes vorstellte, war man vieler­orts ein wenig über­rascht über den deutlich gerin­geren Anteil jener üblichen Verdäch­tigen, die noch jeden der letzten Jahrgänge bestimmten. Statt dem Who-is-Who des europäi­schen Autoren­films, statt also Namen wie Assayas, Leigh, Loach, Dardenne, Almodóvar, Ozon, Haneke, Lanthimos oder Sorren­tino war von A.B. Shawky die Rede, von Ryusuke Hamaguchi, Eva Husson, Sergey Dvorts­evoy und Nadine Lebaki. Zu diesen auf dem roten Teppich an der Côte d’Azur bislang nicht auffällig gewor­denen Regis­seurInnen gesellten sich der seit 27 Jahren nicht mehr einge­la­dene Spike Lee sowie Cannes bereits bekannte, aber noch junge Filme­ma­cherInnen wie Alice Rohr­wa­cher und David Robert Mitchell. Die klas­si­schen Kandi­daten kamen mit Hirokazu Koreeda, Jia Zhang-ke, Asghar Farhadi und dem erst spät ins Programm aufge­nom­menen Nuri Bilge Ceylan eher aus Nah- und Fernost.

Dass vor allem einige ältere Herr­schaften einen Platz in diesem Wett­be­werb, der immerhin den Anspruch erhebt, den Status quo des Weltkinos zu reprä­sen­tieren, geradezu abonniert zu haben schienen, stellte eine immer wieder geäußerte Kritik am Auswahl­ko­mitee dar. Wurde hier womöglich Jahr für Jahr einer neuen Gene­ra­tion von Film­schaf­fenden der Zugang zum begehrten Club schon am Einlass verwehrt, weil die Gäste­liste längst vorge­druckt war? Einer­seits also ein über­fäl­liger Move. Ande­rer­seits wurde die Auswahl dann eben doch mit viel Skepsis beäugt, zu viele bekann­tere Werke schwirrten im Vorfeld als Gerüchte umher, und weil einige von ihnen wohl nicht recht­zeitig fertig geworden waren, befürch­tete man, der Wett­be­werb bildete womöglich eine Art Plan B ab.

Rauchen, solange es noch geht

Als wäre das Festival ein bisschen nervös, wie sein Make-over bei Publikum und Kritik ankommt, wurde in den ersten Filmen auffällig viel geraucht. Bei Christoph Honoré – einem europäi­schen Autoren­filmer, aller­dings seit seinem Chanson der Liebe von 2007 nicht mehr im Wett­be­werb – raucht eigent­lich nur Jacques, dafür aber ständig und überall. Er kann das recht sorglos tun, weil er andere Sorgen hat, weil seine Zeit begrenzt ist. Honoré hat seinen Sorry Angel in den 1990er Jahren ange­sie­delt, Jacques ist HIV-positiv, flirtet zwar noch immer ungehemmt mit hübscheren, jüngeren Männern, hat aber geschworen, sich auf keine große Liebes­ge­schichte mehr einzu­lassen. Die Heraus­for­de­rung wird ange­nommen von Arthur, der sich mit seinen zarten 22 Jahren noch gänzlich unbedarft durchs Leben tanzt und vögelt. Die Liebes­ge­schichte, die sich entwi­ckelt, erzählt Honoré mit tollem Under­state­ment, das diesem von vorn­herein zur Flüch­tig­keit verdammten Zusam­men­treffen ange­messen scheint. Beide haben zudem schon ein voll­ge­stelltes Leben, der eine als Schrift­steller in Paris, der andere als Student in Rennes, und Sorry Angel wird deshalb von einer ganzen Schar aus Neben­fi­guren bevölkert, die viel mehr sind als Stich­wort­geber für einen Liebes­film. Sorry Angel ist ein leiser Film, der gerade deshalb nahegeht, weil das große Drama von vorn­herein gedämpft ist, weil klar ist, dass das, worauf alles hinaus­läuft, niemals wirklich beginnen wird.

Zweimal Musik in Schwarz-Weiß, einmal 8000 Kilometer in einem Film

Honorés Film war ein erster Fixpunkt in einem Festival, das nach dem seichten Eröff­nungs­film Everybody Knows von Asghar Farhadi zunächst nicht so recht vom Fleck zu kommen schien. Die Wett­be­werb-Debü­tanten Kirill Sere­bren­nikov und Pawel Pawli­kowski legten mit Leto und Cold War zwei Period Pieces in Schwarz-Weiß vor, in denen schon aufgrund ihrer Verortung in Musiker- und Bohème-Milieus viel geraucht wurde. Während es Sere­bren­nikov vor allem um die Beschwörung eines subkul­tu­rellen Rock-Life­styles in den 1980er Jahren geht, Leto dementspre­chend ein eher drif­tender Film mit Überlänge ist, geht Pawli­kowski mit seiner Liebes­ge­schichte vor welt­po­li­ti­schen Verwer­fungen strenger und ökono­mi­scher vor. Immer wieder verlieren sich Musiker Wiktor und Sängerin Zula im Europa der 1940er und 1950er, geraten zwischen die Fronten des Kalten Kriegs, treffen sich mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Vorhangs wieder, bevor dieser sich endgültig schließt und der Liebe gar keinen Raum mehr gibt. Beide Filme sind auf ihre Weise sehr selbst­be­wusste, viel­leicht etwas zu selbst­be­wusste Werke, die stets alle Zügel in der Hand behalten.

Span­nender, weil weniger vorher­sehbar, war da der neue Film eines der wenigen »Cannes-Abon­nenten« in diesem Jahrgang: Jia Zhang-khes Ash Is Purest White beginnt mit Ziga­retten in einem Hinter­zimmer, durch das Qiao wie eine Göttin sich bewegt. Innerhalb seiner zwei­ein­halb Stunden Dauer wird dieser Film aber auf große Fahrt gehen, Qiao am Ende knapp 8000 Kilometer zurück­ge­legt und fünf Jahre im Gefängnis verbracht haben. Wenn sie am Ende zurück­findet in die Stadt, in der alles seinen Anfang nahm, ist das Verhältnis zwischen ihr und Bin, ihrer großen Liebe, ein anderes. In der Kern­se­quenz von Ash Is Purest White hat sie ihm nämlich bei einer Ausein­an­der­set­zung mit einer Gang das Leben gerettet und ist dafür zu einer Gefäng­nis­strafe verur­teilt worden. Ähnlich wie in Honorés Film ist das Schöne an Jias Film weniger die präzise Beob­ach­tung einer zwischen­mensch­li­chen Beziehung als das Interesse an der eigenen filmi­schen Welt und allem, was sie bevölkert. Qiaos Suche nach Bin nach ihrer Entlas­sung führt sie durch halb China und wird großartig lang ausge­dehnt, einmal steigt sie sogar an einem verlas­senen Bahnhof aus und sieht viel­leicht ein Ufo. Wie schon in seinem letzten Film Mountains May Depart, zu dem Ash Is Purest White eine Art Companion Piece ist, spiegelt Jia das Große im Kleinen: Während das Land sich moder­ni­siert, zwischen agra­ri­scher Industrie, wahn­wit­zigen Groß­pro­jekten, Popkultur (diesmal ist nicht »Go West«, sondern »YMCA« musi­ka­li­sches Leimotiv) und Ehren­ko­dizes, müssen sich seine Figuren unentwegt verän­derten Umständen anpassen.

Raucher­husten und die Zigarette danach

Nach so viel qual­menden Filmen braucht man sich über Raucher­husten nicht zu wundern, aber der junge Graf, der an einem solchen leidet, bekämpft ihn auch nur, indem er sich eine Zigarette anzündet. Dieser junge Graf ist Teil des wunder­samen Figu­ren­en­sem­bles, das den ersten wirk­li­chen Höhepunkt dieses Cannes-Festivals bewohnt, Alice Rohr­wa­chers Lazzaro felice. Die 36-jährige Italie­nerin hatte bereits 2014 mit Land der Wunder den Wett­be­werb aufge­mischt, und auch ihr neuer Film zeichnet sich durch eine Verqui­ckung von Alltäg­li­chem und Erhabenem aus, die mit dem Begriff des magischen Realismus nur unge­nü­gend beschrieben wäre. Die titel­ge­bende Lazarus-Figur lebt in einer kleinen Dorf­ge­mein­schaft in Nord­ita­lien, die streng von jeder Außenwelt abge­schirmt ist und die, wie wir bald erfahren, in quasi-feudaler Abhän­gig­keit von einer Gräfin gehalten wird. Ein Heiliger ist dieser Lazzaro, und wenn Rohr­wa­chers Film im zweiten Teil einen beacht­li­chen Zeit­sprung vollführt, dann ist er nicht gealtert, sondern noch immer der gutmütige Jugend­liche, der den Menschen hilft. Heili­gen­ge­schichte und Sozi­al­rea­lismus, Mythi­sches und Poli­ti­sches verknüpft Rohr­wa­cher mit erstaun­lich leichter Hand; und dass sich hier aus derart verschie­denen Versatz­stü­cken ein Film zusam­men­setzt, der dennoch wie aus einem Guss erscheint, grenzt tatsäch­lich an ein Wunder. Ein Wunder, das Hélène Louvarts tolle 16mm-Kamera in ange­mes­sene Farben kleidet.

Auch die klas­si­sche Zigarette danach darf in diesem Wett­be­werb natürlich nicht fehlen: Osamu raucht sie, in Hirokazu Koreedas Shop­lif­ters, ganz beseelt, nachdem er erstmals seit langer Zeit wieder mit seiner Frau Nobuyo geschlafen hat. Zuvor hatte er einer Freundin noch erklärt, die Verbin­dung zu seiner Partnerin finde eben eher über das Herz statt als über den Schritt, aber schon ein paar Szenen später verführt, oder besser: über­wäl­tigt diese Herzens­dame ihn und reißt ihm die Klamotten vom Leib. Die beiden sind Kern eines jener unty­pi­schen Fami­li­en­zu­sam­men­hänge, für die der japa­ni­sche Regisseur bekannt ist. Hier jedoch sind jegliche tatsäch­li­chen Bluts­bande vollends gekappt, was Koreeda erlaubt, eine seit Nobody Knows (2004) nicht mehr dage­we­sene poli­ti­sche Ebene in seinen Film zu ziehen – wenn am Ende nämlich das utopische Fami­li­en­pro­jekt scheitern muss, weil sich der Staat eben doch mehr für DNA als fürs Glück inter­es­siert. Shop­lif­ters ist Koreedas stärkster Film seit langem, weil er uns in einen Figu­ren­zu­sam­men­hang wirft, in dem wir uns erstmal selbst zurecht finden müssen, weil er nicht die ganze Arbeit selber macht.
Lohnende Entde­ckungs­tour, to be continued…

Zwar hat also der Wett­be­werb mit A.B. Shawkys Yomeddine und Eva Hussons Girls of the Sun auch Filme zu bieten, die wie wandelnde Arthouse-Klischees anmuten, die eine Vorstel­lung vom Kino an den Tag legen, in der jedes weinende Close-up, jedes mensch­liche Unrecht vorgeb­lich nur ins Bild gesetzt zu werden braucht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Und doch ist die Entde­ckungs­tour im Jahr der weniger Namhaften bislang eine äußerst lohnende. Auch wenn bislang in erster Linie Cannes-Wieder­gänger überzeugt haben, ist doch generell ein wenig mehr Neugier im Spiel, wenn der Wett­be­werb nicht bloß aus den neuesten Einträgen in bereits umfäng­liche Oeuvres besteht. Das Rauchen kann also langsam aufhören, das Festival hat keinen Grund mehr, nervös zu sein.

Epilog: Noé auf LSD und der lallende Lars

Achja: Die härteren Drogen gibt es nebenan in der Nebensek­tion »Quinzaine des Réali­sa­teurs«, schon immer auch Auffang­be­cken für bekannte Namen, die nicht in den Wett­be­werb einge­laden wurden. Ins Opium flüchten sich da etwa die fran­zö­si­schen Soldaten in Guillaume Nicloux’ eindrück­li­chem To the Ends of the World, der im ersten Indochina-Krieg spielt und sich an den Körper eines Mannes heftet, der in der ersten Szene als einziger Über­le­bender eines Massakers einem Massen­grab entsteigt. Und Gaspar Noé hat großen Spaß daran, seinem Ensemble-Cast LSD in die Getränke zu mischen, auf dass die Party nicht in eine Sexorgie, sondern in einen kollek­tiven Bad Trip mündet. Als virtuose Choreo­gra­phie mit Kamera lässt sich Climax bewundern, Noés Poser-Gestus mitsamt voran­ge­stelltem Abspann und Lite­ra­tur­liste aber macht weite Teile des Films zu einer eher selbst­be­züg­li­chen Veran­stal­tung. Ähnliches lässt sich für den eher dem Alkohol zuge­neigten Lars von Trier sagen. Bekannt­lich erklärte der Däne, beim Dreh seines Films größ­ten­teils hacke­dicht gewesen zu sein. Um fest­zu­stellen, dass Alko­hol­konsum aggressiv und wehleidig machen kann, hätte man The House That Jack Built nicht unbedingt ansehen müssen. Und auch als Provo­ka­tion ist sein Film, der außer Konkur­renz läuft, eher öde, mutet eher an wie ein Selbst­ge­spräch übers Töten und die Kunst, oder wie ein einziger blutig augen­zwin­kernder Gag über den Regisseur selbst und seinen Hitler-Flirt. Weil er sich ohnehin nicht an uns richtet, lassen wir den lallenden Lars also lieber beiseite, stecken uns noch eine Kippe an und freuen uns auf die letzten unüb­li­chen Verdäch­tigen dieses Festivals.