08.03.2018
68. Berlinale 2018

Die Berlinale-Workout Playlist 2018, Vol. II

Elefant
Die erfüllte Langsamkeit ist oft der einzig sinnvolle, ja mögliche Rhythmus
(Foto: Arsenal Institut / Forum Berlinale)

Edelmann & Willmann erleben einen Höhenflug mit Elefant

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

»Misery is the River of the World«

Der Mensch ist schlecht, die Welt schon auch – und nur die Erde gut. Das ist ziemlich erschöp­fend die Erkenntnis von Kim Ki-duks zweis­tün­digem Inkan, Gongkan, Sikan Grigo Inkan (Human, Space, Time and Human). Ein Film mit einem Hang zu hoher Redundanz bei recht geringer Komple­xität.
Diese Weltsicht ist nichts Neues bei Kim Ki-duk. Ungewohnt aber ist, dass sich das bei ihm – dem es sogar einmal gelungen ist, ganz allein in einem Zelt mit Hand­ka­mera einen span­nenden Film zu drehen – derart leer, desin­ter­es­siert, fad und nach Masche anfühlt.
Inkan, Gonkan, Sikan Grigo Inkan ist eine »Narren­schiff«-Variation – in der ein alle­go­ri­scher Quer­schnitt der Gesell­schaft auf einem ausran­gierten Schlacht­schiff zu einer Fahrt ins Ungewisse versam­melt ist. Es gibt die eitlen Mächtigen; die Klein­ga­noven, die deren Macht mit körper­li­cher Gewalt und Einschüch­te­rung sichern; die meist nur als Horde auftre­tenden normalen Leute – und den stummen Künstler (Kim Ki-Duk selbst), der außerhalb von allem steht und es beob­achtet. Und jetzt raten Sie mal, wer da die Bösen sind, und wie die sich verhalten!
Bei einer an Verge­wal­ti­gungs­szenen wirklich nicht armen Berlinale (ausge­rechnet in diesem Jahr...) dürfte dennoch Inkan, Gonkan... unan­ge­fochten die Konkur­renz anführen um die meisten solchen Szenen in einem Film. Keine einzige Frau in Inkan entgeht diesem Schicksal – es ist die Stan­dard­lö­sung, wann immer Kim erzäh­le­risch nicht voran­kommt. (Quasi wie späteres Game of Thrones für Bildungs­bürger.) Ohne dass es in einem selbst oder den Figuren etwas bewegt.
Männer sind Mörder und Verge­wal­tiger, Frauen sind Nutten oder Allmütter – weiter kommt der Film in seinem ach so radikalen Menschen­bild nicht. Nur der visionäre, ackernde Künstler bestellt aus Staub und Saat bereits die neue, kommende Welt, während die anderen sich zerflei­schen und am Untergang laben.
Ähnlich wie in Aufbruch sind es die zu wenigen, zu kurzen Momente, wo Kim auf der Leinwand in sich versunken ganz boden­s­tändig an seinem post­apo­ka­lyp­ti­schen Schre­ber­garten werkelt, wo der Film zu leben beginnt, eigene, nicht abge­nutzte, abge­schmackte Bilder findet.
Aber der para­die­si­sche Neustart trägt den nächsten Untergang schon in sich. Die vermeint­liche Hoffnung der (neuen) Menscheit – das (freilich bei einer der Verge­wal­ti­gungen gezeugte) Kind ist auch nur ein Mann. Wussten Sie schon? Der Mensch ist schlecht, die Welt schon auch – und nur die Erde gut!

Gut ist die Welt schon auch nicht, in Hu Bos An Elephant Sitting Still – aber sie existiert nicht allein als Bühne für die Leiden und Schlech­tig­keit der Menschen. Und obwohl es vier durchaus gewicht­volle Stunden sind, so lohnen sie das, was sie einem abver­langen. Und es bewegt sich in ihnen etwas – völlig im Gegensatz zum hyste­ri­schen Still­stand bei Kim Ki-duk.
Das liegt gewiss nicht zuletzt daran, dass An Elephant Sitting Still zwar Hu Bos filmi­sches Erst­lings­werk ist, der 29-Jährige aber zuvor in China bereits als Roman­autor etabliert war. Dem Film eignet die epische Fort­be­we­gung, der unauf­ge­regte, ruhige, aber zwingende Fluss eines gut struk­tu­rierten Romans. Anders als bei so vielen gewollt zerdehnten, dies­jäh­rigen Berlinale-Filmen hat man das Gefühl, dass die erfüllte Lang­sam­keit hier der einzig sinnvolle, ja mögliche Rhythmus ist – es ist der innere Rhythmus des Lebens, das er zeigt.
Der Film nimmt seinen Ausgang in der nüch­ternen Tristesse einer Hoch­haus­sied­lung in Manjur – einer mittel­großen chine­si­schen Stadt. Wir lernen die Prot­ago­nisten jede und jeden für sich alleine kennen – und im Grunde bleiben sie bis zum Ende alleine, auch wenn all ihre Leben sich im Laufe des Filmes kreuzen und berühren. Da sind unter anderem ein Teenager, der sich zu vehement gegen einen Bully in seiner Schule wehrt; ein Großvater, den seine Kinder ins Alters­heim abschieben wollen, um an seine Wohnung zu kommen; ein Mädchen das ein Verhältnis mit einem ihrer Lehrer hat; eine Bande von Klein­kri­mi­nellen.
Der Film spielt an einem einzigen Tag – und die Stimmung, die einem die ange­messen, aber nicht erzwungen kühlen Bilder vermit­teln, ist die träge Schwere des immer­glei­chen Alltags, selbst wenn sich Außer­ge­wöhn­li­ches ereignet.
An Elephant Sitting Still gesteht seinen Figuren die Würde zu, weder die Mensch­heit zu hassen, noch sie zu bemit­leiden. Auch wenn Hu Bo für sich wohl einen anderen Schluss gezogen hat (er nahm sich letztes Jahr das Leben), hat der Film durchaus Glauben an die Menschen. Der Film gibt sich nicht der Depres­sion hin, ist weder Hilferuf noch Anklage, sondern meis­ter­haft geformte Kunst, ist ein klarer Blick aufs Leben.
Im Gegensatz zu den ganzen Pseudo-»Die Welt ist schlecht«-Filmen der Berlinale 2018 hatte er als einziger die Größe, im fatalsten Moment auf die Absur­dität des Lebens mit Humor, mit Lachen zu reagieren. Und dieser Moment war eben kein redun­dantes Beharren auf der Schlech­tig­keit des Menschen – sondern vollends zum Desaster kommt es gerade, wenn alle versuchen sich zusam­men­zu­reißen und hilfreich zu sein.
Hu Bos Film ist hoffnungs-, aber nicht trostlos: Er macht keinerlei Hoffnung, dass die Situation sich bessern wird, oder dass man sich selber je entkommen könnte. Aber er lässt einem den keines­wegs billigen Trost, dass das Ganze sich – gemeinsam neben­ein­ander – ertragen lassen kann.

»We Didn’t Start the Fire«

Viele Prot­ago­nisten in den Filmen der dies­jäh­rigen Berlinale waren auf der Suche nach einem Platz in der Welt. Und auffällig oft wurden tatsäch­lich im Bild Stätten, die Heim bedeuten – beschei­dene Häuschen und Hütten –, nieder­ge­brannt, gesprengt, dem Erdboden gleich­ge­macht. Als wäre das die notwen­dige Voraus­set­zung, dass die Figuren phönix­gleich aus der Asche sich aufmachen können in ein neues Leben.
Das war in Damsel oder Ang panahon ng halimaw so, und selbst bei der Woche der Kritik in Hagazussa. Am gewoll­testen war Isabel Coixets Versuch, dem (sehr herbei­ge­sehnten) Ende von The Bookshop mit CGI-Feuer etwas Dramatik zu verleihen. Warum das histo­ri­sche Häuschen, das Florence Greens (Emily Mortimer) Buchladen beher­bergte, in Flammen aufgehen muss, darf man genau­so­wenig hinter­fragen, wie warum sie den Laden überhaupt unbedingt genau dort, in dem winzigen, an Literatur desin­ter­es­siertem Insel-Örtchen und in der auch von der reichen Grande Dame des Dorfes begehrten Immobilie eröffnet.
Man wäre vollauf zufrieden gewesen, hätte sich The Bookshop als eine Art Chocolat mit Büchern erwiesen. Und man sollte meinen, bei dem Setting und der Besetzung (u.a. Bill Nighy, Patricia Clarkson) hätte das fast ein Selbst­läufer sein sollen. Aber wie in ihrem letzten Debakel eines Berlinale-Beitrags, Nobody Wants the Night, zeigt die Spanierin auf fremdem Terrain keinerlei Gespür für den Ort und dessen Bevöl­ke­rung. Das funk­tio­niert noch nicht einmal als ein Klischee-Bild vom England der 1950er.
Die vermeint­liche Liebe zu seinen Themen bleibt leere Behaup­tung, sie springt nie über, wird nie wirklich spürbar. Berühmte Bücher (»Fahren­heit 451«, »Lolita«) werden ins Bild gehalten und kurz für toll befunden – aber es wird nie auch nur ein Satz mehr darüber kommu­ni­ziert, was es denn ist, was einen an Literatur berührt, bewegt.
Und selbst wenn man wirklich bereit ist, über die Klei­nig­keiten hinweg­zu­sehen, die beim Film nun mal schief­gehen können, bombar­diert einen The Bookshop mit einer ärger­li­chen, irri­tie­renden Häufung von Schlam­pe­reien. Ob ein im Film vom ganzen Dorf disku­tiertes Kleid vom Kostüm­de­part­ment schief genäht ist; ob in Groß­auf­nahmen deutlich Kontaklinsen zu sehen sind; im Regal aktuelle Penguin-Ausgaben prangen; oder beim ausge­dehnten Nach­mit­tagstee kein einziger Bissen vom – auch wieder viel­dis­ku­tierten – Kuchen gegessen wird, man sich aber nachher ganz uniro­nisch fürs leckere Mahl bedankt, und und und: Wenn in fast jeder Szene einem derar­tiges aufstößt, dann findet man einfach kein Heim mehr in der Illusion.
Und wenn am Ende zu Florences unfrei­wil­ligem Abschied von der Insel das umstrit­tene Häuschen abge­fa­ckelt wird, nur damit es nicht der Rivalin in die Hände fällt – dann tut das poetisch und gerecht, ist im Grunde aber nur ein klein­li­cher, zerst öreri­scher Racheakt.

Bei allem Geheische von Völker­ver­s­tän­di­gung waren bei dieser Berlinale erstaun­lich viele Filme im Programm, die es sich sehr einfach machten, die Mensch­heit klar und platt in Gut und Böse zu unter­teilen. Und dann alles abzu­segnen, was den angeblich Bösen im Namen des Guten angetan wird.
Es sagt viel, wenn in Black 47 noch die wohl nuan­cier­teste Szene einen der bösen Engländer (Jim Broadbent) immerhin nicht völlig verschlossen der verblüf­fenden Erkenntnis zeigt, dass nicht alle irischen Frauen dreckige Tiere seien. Dieser Ansatz von Belehr­bar­keit rettet freilich auch ihn nicht.
Black 47 ist ein Rache­wes­tern im Hunger­winter des englisch besetzten Irlands 1847. Und freilich führten sich histo­risch die Besatzer dort nicht auf die feine englische Art auf. Aber wie Lance Dalys Film den einsamen Feldzug seines Prot­ago­nisten insze­niert, vermeidet schon sehr jegliche Komple­xität – bei reich­li­cher Redn­un­danz.
Nach der anfäng­li­chen Elends-Porno Tour durch das dekorativ hungernde, erfrie­rende irische Dorfleben und die Zers­törung von Heim und Herd läuft der restliche Film nach dem immer­glei­chen Prinzip ab: Einer der zum Bösen Erklärten – sei es Engländer, irischer Kola­bo­ra­teur oder auch einfach nur verhun­gernder Ire, der von den Englän­dern Essen akzep­tiert hat – kommt nach Hause. Unser Held sitzt schon da und guckt finster. Der Böse versucht sich zu recht­fer­tigen. Der Held bringt ihn auf durchaus kreative und abwechs­lungs­reiche, möglichst sadis­ti­sche Weise um.
Und egal wie albern, berech­tigt oder empörend man das histo­risch und politisch finden mag: Man muss dabei durch­leiden, wie in der Haupt­rolle das austra­li­sche Charisma-Vakuum James Freche­ville permanent die deutlich pr äsenteren, sehens­wer­teren Schau­spieler aus dem Film befördert.

»Science Fiction Double Feature«

Wo viele der anderen Berlinale-Filme als künst­le­ri­sches Mittel die zeitliche Ausdeh­nung in die Hori­zon­tale wählten, packen Guy Maddin, Evan Johnson und Galen Johnson quadra­tisch, praktisch, gut die Substanz von rund 30 Filmen in 10 Minuten und ein Wimmel­bild. Man blickt auf die Balkone und Fenster einer Hoch­haus­fas­sade und die Dramen der Bewohner – mal alltäg­lich, mal genre­film­reif –, die sich darauf und dahinter abspielen. Accidence ist quasi Rear Window ohne Tele­ob­jektiv.
Man kann diesen narra­tiven Setz­kasten von taties­quer Dichte nur auf großer Leinwand wirklich wahr­nehmen – da man dabei aber frei und gezwungen ist, seine Aufmerk­sam­keit jeweils nur auf einen Teil der inein­ander verwo­benen Kurz­ge­schich­ten­samm­lung zu lenken, hat das kollek­tive Kino­er­lebnis para­do­xer­weise zum Resultat, dass alle im Saal einen anderen Film sehen.
Accidence war somit das perfekte Gegen­s­tück zum dies­jäh­rigen Berlinale-Trend zu hoher Redundanz bei geringer Komplexit ät.

Der zweite Film des Maddin, Johnson & Johnson-Double Features stellt das Prinzip von Accidence sozusagen auf den Kopf. Die Geschichte(n) von The Green Fog spielt zwar an einem Ort – aber nicht in einer Zeit.
Dieser Ort ist das stets latent von Vertigo (wieder: Hitchcock) durch­spukte San Francisco. Es ist ein San Francisco das die File­ma­cher zusam­men­setzen aus Frag­menten dutzender Spiel­filme.
Ein Mosaik San Fran­ciscos aus Jahr­zehnten von Film- und damit nebenbei einge­fan­gener Stadt­ge­schichte – das gleich­zeitig Bild für Bild verankert, und im Gesamt­bild doch losgelöst ist von der Zeit.
Ausge­rechnet dieser Recycling-Film, der davon handelt, dass alle Geschichten schon tausend­fach erzählt sind; dass sie wieder und wieder die selben Orte heim­su­chen; dass alle Dialoge schon so oft gespro­chen wurden, dass es reicht, von Dialog­szenen nur die Pausen zwischen den Worten übrige zu lassen – ausge­rechnet dieser Film erwies sich als ein erstaun­lich erquick­li­ches Gegengift zum Ermat­tungs-Gefühl, welches die übrige Berlinale durch­wa­berte.