22.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Goldene Palme für Olivier Assayas, Regie­preis für Cristi Puiu, Grand Prix du Jury an Maren Ade!

Personal Shopper
Ginge es nach unserem Korrespondenten, erhielte Olivier Assayas' Personal Shopper die Goldene Palme – Le jury, c'est moi.
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Wer gewinnt die Goldene Palme? Meine persönliche geht an Personal Shopper – vor der Preisverleihung hat die Deutsche Maren Ade weiter gute Chancen – Cannes-Notizen, 15. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das Problem ist, dass es oft nur ums Abhaken geht. Da muss man das machen, dann macht man dies. Wie soll man den Augen­blick fest­halten?« – aus: Toni Erdmann

Die Film­fest­spiele von Cannes gehen in die Ziel­ge­rade. Am Sonn­tag­abend werden die Goldene Palme und viele weitere Preise verliehen. Unter den Favoriten ist auch gut eine Woche nach seiner Premiere der deutsche Wett­be­werbs­bei­trag Toni Erdmann von der Berliner Regis­seurin Maren Ade.
In den letzten Tagen liefen vor allem Filme von früheren Preis­trä­gern: Unter anderem der Film der zwei­ma­ligen Preis­träger Dardennes, Bacalau­reat, vom Rumänen Cristian Mungiu, der 2007 die Goldene Palme gewann, quasi nach­ein­ander die neuen Filme des Fran­ko­ka­na­diers Xavier Dolan, des Phil­lip­pino Brillante Mendoza, des Dänen Nicolas Winding Refn und des Iraners Asghar Farhadi, die alle in den letzten sechs bis acht Jahren schon Silberne Palmen gewannen. Merk­wür­dige Program­mie­rung.

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Aber wer wird heute Abend gewinnen? Die Lage ist unklar. Viel­leicht scheue ich mich auch nur, das so klar zu sagen, weil es nicht chau­vi­nis­tisch klingen soll, und weil ich den etwas absurden Druck, der jetzt auf diesem Film lastet, eher abbauen würde. Aber Maren Ades Toni Erdmann ist nicht nur in Kriti­ker­spie­geln, sondern auch in den Gesprächen am Rand die Favoritin. Es ist inter­es­sant zu erleben, wie sich dieser Hype vor Ort entwi­ckelt, und sehr schnell völlig von den Fakten gelöst hat. Die Fakten bleiben: Mit dem erst dritten Spielfilm und der ersten Cannes-Teilnahme gleich zu gewinnen, wäre eine Sensation.
Und daneben muss man hier auch vorbauen: Auch wenn Maren Ade heute völlig leer ausgehen sollte, wäre das nur eine kleine Enttäu­schung, aber sie wäre nicht »geschei­tert«, hätte nicht verloren, sondern viel gewonnen. Preise sind nicht alles. Auch andere Preise wären ein großer Erfolg, nicht nur die Goldene Palme.
Das Entschei­dende ist;: Dieser Film wird dem Kino der ganzen Welt Impulse geben. Toni Erdmann hat ein Fenster für den Deutschen Film aufge­macht: Er hat gezeigt, was deutsches Kino sein könnte – aber auch, dass es das nicht ist. Denn wo wäre denn auch nur ein zweiter Film aus Deutsch­land, der mit diesem ernsthaft vergleichbar wäre und quali­tativ konkur­rieren könnte? Nun müssen die Förderer und die Sender daraus auch die Konse­quenzen ziehen, sonst wird dieser Erfolg jenseits aller Preise ein Erfolg, der nicht in Palmen bezahlt wird, sondern in den Währungen Sympathie, Aufmerk­sam­keit und Aner­ken­nung, schnell wieder verblassen.

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Aber darüber wird in den nächsten Wochen, nach den Ergeb­nissen des Abends, zu viel zu reden sein. Heute darf man erstmal daran erinnern: Es könnte auch alles ganz anders kommen. Es gibt nämlich auch andere gute Filme im Wett­be­werb, und es gibt andere Favoriten.
Einer davon ist ohne jede Frage das Fami­li­en­drama Sier­an­evada vom Rumänen Cristi Puiu. Der aller­erste Wett­be­werbs­film, der als aller­erster program­miert wurde: Auf den Mittwoch, wo er in der Press­vor­stel­lung parallel zum Eröff­nungs­film lief. Er ist geblieben, er hat in unseren Gemüter weiter­ge­ar­beitet und von Anfang an einen Maßstab gesetzt.

Cannes macht dies übrigens oft: Am Mitt­woch­abend oder Donnerstag liefen in den letzten Jahren sehr viele Filme, die sich über das komplette Festival hinweg als einer der Besten erwiesen haben. Selten jedoch als Gewinner. Ausnahme: Genau der rumä­ni­sche Film, der 2007 die Goldene Palme gewann, Cristian Mungius Abtrei­bungsdrama (eher Schmon­zette) 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage.

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Neben diesen beiden Filmen kam auch Paterson von Jim Jarmusch allgemein gut an, und Made­moi­selle von Park Chan-wook. Der letzte Film, Paul Verhoe­vens Elle war dann so gut, dass er nach dem schwächern letzten Drittel des Wett­be­werbs, plötzlich alle begeis­terte, und das Potential hat, das Feld von hinten aufzu­rollen. Sogar eine Goldene Palme für Verhoeven würde nicht über­ra­schen. Alle anderen Filme werden nicht vorbe­haltlos geliebt und spalten jene, die hier den kompletten Wett­be­werb gucken.
Das heißt aber keines­wegs, dass sie die Jury auch spalten. Es genügt ein einziges Jury­mit­glied, das bei Toni Erdmann sagt: »Only over my dead body«, und der Film gewinnt keinen Haupt­preis.
Es gibt Mitglieder, die ihre Aufgabe penibel ernst nehmen und notfalls stun­den­lang über jeden Film debat­tieren, die bereit sind, sich gegen alle anderen zu stellen. Und gibt welche, denen alles wurscht ist. Oder die Harmonie wünschen. Nicht alle haben einen guten Geschmack. Und dann kommen poli­ti­sche Kriterien dazu, das interesse daran, den Gastgeber sowie alle Regionen dieser Welt zu bedienen: Man kann darauf wetten, dass die Wahr­schein­lich­keit noch ist, dass bei den heutigen Preisen ein fran­zö­si­scher und ein ameri­ka­ni­scher Film reüs­sieren. Norma­ler­weise würde man sagen, dass auch ein Asiate und ein Latino einen Preis bekommen muss. Aber das Programm ist 2016 sehr Europa-lastig, es gibt nur einen Latino – den ich heute noch nachholen muss – und zwei Asiaten.
Welche Rolle spielen Freund­schaften? Schwer zu sagen. Aber als Robert de Niro und als Isabelle Huppert jeweils Jury­prä­si­denten waren, gewannen Filme­ma­cher, mit denen sie eng verbunden waren: Terrence Malick und Michael Haneke – und die Gerüchte brodelten unüber­hörbar. Obwohl jeder, der vor Ort war, auch wusste: Das weiße Band und The Tree of Life waren die besten Filme im Programm.
In diesem Jahr liegt daher nahe, dass Nicolas Winding Refn für seinen lackierten Model-Slasher-Film The Neon Demon irgend­einen Preis bekommen wird: Denn Mads Mikkelsen hat viel mit Refn gedreht. Und eine der Haupt­dar­stel­le­rinnen spielt auch in George Millers neuesten Mad Max mit.
Aber was wird mein Lieb­lings­re­gis­seur Arnaud Desplechin für einen Einfluss ausüben? Desplechin ist ein Intel­lek­tu­eller in bester fran­zö­si­scher Tradition. Er liebt Theater – Punkt für Toni Erdmann – und er liebt Hollywood. Kann er sich durch­setzen, oder ist er ein Outsider in dieser Jury. Und ist Kirsten Dunst jetzt klug? Klug und nett? Oder einfach nur nett? Oder sogar dumm?
Also mal abwarten.

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In jedem Fall zeigen diese Beispiele zumindest mir selbst, dass in Cannes oft – im Gegensatz zu Venedig oder zur Berlinale – die Filme gewinnen, die auch ich am besten finde: Sowohl Terrence Malick und Michael Haneke waren meine klaren Favoriten, als auch La vie d’Adèle von Abdel­latif Kechiche.
In diesem Jahr habe ich keinen Film, der derart klar heraus­ragt. Aber zwei Filme, die ich span­nender inter­es­santer und heraus­for­dernder finde, als alle übrigen: Personal Shopper von Olivier Assayas (da stehe ich fast völlig allein, aller­dings sieht Violeta Kovacsics aus Barcelona das genauso, und auf der Liste Todas las Críticas gibt es einige, die den Film sehr hoch einschätzen.
Der zweite ist Elle, da bin ich in größerer Gesell­schaft. Aber der lebt auch von seiner Haupt­dar­stel­lerin. Daher: Wenn ich die Jury wäre, bekäme Assayas die Goldene Palme! Und Isabelle Huppert den Preis für die beste Schau­spie­lerin. Der »Grand Prix du Jury« ginge an Maren Ade für Toni Erdmann. Und der Preis für »Beste Regie« an Cristi Puiu. Der könnte aber auch an Park Chan-wook gehen, denn man dann mit dem »Prix du Jury« oder dem Dreh­buch­preis etwas unter Gebühr abspeisen müsste.)

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Es gibt auch Worst-Case-Szenarien. Ganz oben bei den meisten, mit denen ich hier rede, ist dies ein Preis für Andrea Arnold. Der wäre nicht nur so stink­lang­weilig, wie ein Preis für Jarmusch, sondern eine Schande. Ist aber möglich, denn beim Main­stream­pu­blikum und bei den Ameri­ka­nern kommt der Film unver­dient gut an.

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Weltkino hat übrigens nach meinen Infor­ma­tionen keinen weiteren Wett­be­werbs­film gekauft. Wenn die goldene Weltkino-Orakel-Regel stimmt, geht die Goldene Palme heute Abend also an Assayas, Jarmusch oder Xavier Dolan. Ich kann’s noch nicht glauben.

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Wie muss es wohl sein, wenn man als Filme­ma­cher auf den Anruf des Festivals wartet? Und wenn er dann kommt? Oder nicht kommt?

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Damit das auch noch gesagt ist: Man kann, glaube ich, schon heute sagen, wenn Maren Ades nächste Filme auch nur eini­ger­maßen geglückt sind, hat sie die Einladung nach Cannes sicher. Toll! Gratu­la­tion, egal was heute Abend rauskommt!!

(to be continued)