27.08.2015
Cinema Moralia – Folge 115

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich

Egon Bar München, Lehel
Die Egon Bar begann als Wohnzimmerbar und ließ sich dann in einer ehemaligen Animierbar im Münchner Lehel nieder. Wo sie für viele ein zweites Wohnzimmer wurde.
(Foto: Egon Bar München, Lehel)

Egon Bahr und das Kino, Dank an den Frauenrat und wo man Plassberg noch frei empfangen kann – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 115. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Vergeßt, was ihr gelernt habt, fangt an zu spinnen, denkt das Undenk­bare.« – Egon Bahr (1922 – 2015)

»Kunst ist keine Reflexion der Wirk­lich­keit. Sie ist die Wirk­lich­keit dieser Reflexion.« – Jean-Luc Godard

Es gehört zu den schönen Dingen an der Kultur, dass Politik und Kultur zwar viel mitein­ander zu tun haben, aber dass man Politik nicht anhand kultu­reller und Kultur nicht anhand poli­ti­scher Kriterien abtun kann. Nehmen wir Leni Riefen­stahl. Leni Riefen­stahl war eine tolle Regis­seurin. Und sie war eine Faschistin. Dass beides zusam­men­geht, ohne sich auszu­schließen, dass das eine zutrifft und das andere, ist das Mensch­liche.
Dieses Mensch­liche haben wir zu tole­rieren. Wir müssen es nicht mögen. Aber wir müssen es aushalten, müssen aus mora­li­schen, poli­ti­schen, und – ja! – nicht zuletzt ästhe­ti­schen Gründen mit dem Florett des Unter­schei­dungs­ver­mö­gens Wider­sprüche heraus­ar­beiten – nicht um sie zu erledigen, sondern um sie zu ertragen.
Wie aber soll man von einer Gesell­schaft erwarten, dass sie ernst­haf­tere Wider­sprüche erträgt, wenn sie es schon nicht aushält, dass eine Fern­seh­sen­dung ihren Rein­heits­normen nicht entspricht, und diese nach­träg­lich dann von einer öffent­lich-recht­li­chen Medi­en­seite tilgt, wie eine Putz­ko­lonne das Unge­ziefer? Als hätte man sich zu schämen.

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Wenn sich das öffent­lich-recht­liche Fernsehen zu schämen hat, dann doch viel­leicht eher dafür, dass eine »Jauch«-Sendung am Jahres­an­fang Pegida ein skan­dalöses Exklusiv-Forum geboten hat. Da saßen dann die Nazis in Nadel­streifen und konnten sich als Opfer spreizen, als »eine einfache Frau aus dem Volk« und dummes Zeug über »das Vakuum zwischen Politik und Volk« reden. Man sollte mit manchen Leuten einfach nicht sprechen, nicht als Politiker und schon gar nicht als Fern­seh­mo­de­rator.
Statt­dessen wurde diese Rassis­ten­meute ohne Grund aufge­wertet, so wie schon die AfD vom Fernsehen erst groß gemacht wurde, in dem die soge­nannten Polit-Talkshows dem Rechts­extre­mismus/-popu­lismus immer wieder ein Forum von zwanzig Prozent (einer von fünf Gästen) geben.
»Das sollte Jauch das Genick brechen« dachte ich schon damals und es gehört zu den erfreu­lichsten Fern­seh­nach­richten des Jahres, dass immerhin der weg ist.
Trotzdem ist diese Folge aus keiner Mediathek verschwunden. Das muss sie auch nicht.

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Weitere Wider­sprüche, die man aushalten muss, sind zum Beispiel die Tatsache, dass der Bund über zwanzig Milli­arden Euro Einnahmen-Über­schüsse bereits im ersten Halbjahr 2015 erwirt­schaftet hat, und es trotzdem nicht schafft, die hier ankom­menden Flücht­linge vernünftig unter­zu­bringen, mit Nahrung und Kleidung zu versorgen und die Kinder mit Bildung. Dass es die Bürger sind, die wie am Beispiel von Filme­ma­chern berichtet, sich enga­gieren – gut so. Aber wo ist der Staat? Das Äqui­va­lent zum großen Bürger­en­ga­ge­ment ist ein weit­rei­chendes Staats­ver­sagen, unge­achtet vieler groß­ar­tiger Indi­vi­duen in den Behörden. Symbo­li­siert in der Kanzlerin, die überall redet, nur nicht wo sie es tun sollte: In Heidenau.
Ob’s regnet oder schneit, ob hoch die Sonne steht, Frau Merkel kommt zu spät.

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Der Münchner Kardinal Marx hat es gerade ganz gut auf den Punkt gebracht: Als es um die Banken­ret­tung ging, konnte sich Europa 2008 in wenigen Tagen einigen und es wurden große Belas­tungen gemeinsam geschul­tert. Wenn es jetzt um die Flücht­linge geht, funk­tio­niert das nicht. Das beschreibt die Prio­ri­täten.
Wäre es aber für Europa nicht an der Zeit, statt Polizei und Militär auch die Batail­lone des Verstandes und die Regi­menter der Logik in Bewegung zu setzen?

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Irgend­wann werden Filme über Merkel gemacht werden. Von einzelnen Projekten ist bereits zu hören. Hoffent­lich werden da nicht nur Legenden weiter­ge­strickt, Legenden von der Bürger­recht­lerin und dem wider­s­tän­digen Ost-Mädchen.
Hoffent­lich kommt da die Kanzlerin vor, die Macht­po­li­ti­kerin. Denn die ist inter­es­sant, nicht das Mädchen vor dem Mauerfall.

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Über Sigmar Gabriel werden wohl eher keine Filme gemacht werden. Ich finde, dass Herumpö­beln sollte man eher den Künstlern und Möch­te­gern­künst­lern, also den Til Schwei­gers über­lassen. Der darf sagen: Fresse halten. Aber muss ein Sozi­al­de­mo­krat von »Pack« reden? Er hat recht, keine Frage. Aber er lässt sich aufs Niveau der Gegner und Popu­listen am Straßen­rand ein. Die SPD wird so keine Stimmen gewinnen.

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Pegida – was hieß das nochmal? Provinz­deppen, Egoisten, Grantler, Idioten, Dorf­trottel, Auslän­der­feinde.

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Die wirklich inter­es­sante Frage ist ja, warum es unsere Gesell­schaft, die so vieles andere erträgt, nicht erträgt, wenn einmal über die »Frau­en­frage« (wenn ich es jetzt mal so nennen darf) auf eine Weise geredet wird, die viel­leicht dumm ist, viel­leicht über­flüssig, viel­leicht politisch falsch?
Zudem die Sendung schon durch diese Debatte und wohl auch durch das Ausspre­chen tabui­sierten, aber eben vorhan­dener Gedanken in jedem Fall mehr zum Thema beigetragen hat, als jeder »Pro-Quote«-Bubble auf der Berlinale.

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Dieser Bubble war übrigens, wie ich leider erst jetzt erfahren habe, mit öffent­li­chen Geldern durch­ge­för­dert. Das ist post­mo­derne Protest­kultur: Protes­tieren schon, aber bitte vom Staat bezahlt.

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Aber lassen wir das für heute. Wichtiger ist dieser Punkt: Es geht um Tabui­sie­rung, Errich­tung von Tabus. Die Leute sollen sich nicht mehr trauen, das zu sagen, was sie denken.
Viel­leicht gar kein falscher Gedanke. Wir sollten ihn uns aber bewusst machen. Und eine Frage anfügen: Wenn wir schon tabui­sieren, warum fangen wir dann bei der Gender­be­datte an, und nicht bei Pegida, AfD und anderen Nazis?
Eine zweite Frage: Ist die Förderung eines Frau­en­rats und einer Berlinale-Pro-Quote-Bubble wirklich wichtiger für unsere Gesell­schaft als Gelder für Flücht­linge?
Na gut, Gelder für Banken gibt’s ja auch...

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Ange­sichts der poli­ti­schen Ereig­nisse allein der letzten Wochen frage ich mich: Was macht denn eigent­lich das deutsche Kino mit alldem? Warum erleben wir weder bei den jungen Regis­seuren, noch bei so Leuten wie Herzog, Wenders, Schlön­dorff, Kluge irgendein Bemühen um Ausein­an­der­set­zung mit den Mitteln des Kinos. Bei Kluge viel­leicht noch in seinen Fern­seh­sa­chen. Aber Herzog etc., die dazu eigent­lich eine Position haben könnten, schweigen.

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Natürlich gibt es Einzelnes. Aber sowohl Kriegerin, wie Wir sind jung. Wir sind stark., wie Heil schossen am Ziel vorbei. Ins Herz der Gesell­schaft trafen sie nicht.

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Das wahre Übel hat die Mitte der Gesell­schaft längst erfasst: Der iden­ti­täre Diskurs. Das Denken in Gruppen, in Homo­ge­ni­täten. Das Iden­ti­fi­zieren und die Post­mo­derne mit ihrem schwach­köp­figen Iden­ti­täts­fe­ti­schismus ist die Ursache davon. Aber sie ist eine Chimäre: Die Geschichte gibt es, die Post­mo­derne gibt es nicht.
Wir sollten nicht rufen: »Ich bin!«, sondern »Ich bin nicht«. Wir sollten die Praxis der Iden­ti­fi­zie­rung und des Iden­ti­fi­zie­rens brechen, und wieder Hegel und Adorno lesen, mit ihren Plädoyers fürs Nicht-Iden­ti­sche.

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Hilmar Hoffmann wird 90 Jahre alt. Wir gratu­lieren. »Kultur für Alle« bleibt der Maßstab jeder Kultur­po­litik, die diesen Namen verdient.
Bei Hoffmann darf man natürlich Ober­hausen nicht vergessen. Als dortiger Kultur­de­zer­nent gründete Hoffmann die Kurz­film­tage und vertei­digte sie gegen poli­ti­schen Gegenwind. 2014 war er dort zu Gast und erzählte lange von alten Zeiten.

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Letzte Woche starb Egon Bahr, der Metter­nich Willy Brandts, und einer der klügsten, besten Politiker der alten Bundes­re­pu­blik. Sein Tod ist ein uner­setz­li­cher Verlust für Deutsch­land. Abgesehen davon, dass es in dieser Kolumne nicht immer und zwangs­läufig um Film geht, hat dieser Wahl­ber­liner bei näherer Betrach­tung mehr mit dem Kino und mit München zu tun, als man glauben könnte.
Fangen wir mal damit an, dass einer der schönsten und inter­es­san­testen Bahr-Nachrufe vom Münchner Filme­ma­cher Alexander Kluge stammt. Auf »Spiegel Online« hat Kluge ein paar hoch­in­ter­es­sante Film­bei­träge mit Bahr verlinkt.
Kluges sehr lesens­werter »Abschied von einem Freund und Charakter« verrät, wie nicht anders zu erwarten, vor allem viel über ihn: »Er war einer der großen vertrau­ens­wür­digen Politiker in Deutsch­land und in der Welt«, schreibt Kluge über Bahr, »mit scharfem Unter­schei­dungs­ver­mögen zwischen Phrase und Sache. Es gehört zur Sach­lich­keit viel Gefühl. Als der Kanzler Willy Brandt 1974 stürzte und ein letztes Mal zum Abschied vor die SPD-Fraktion trat, hat Egon Bahr als einziger geweint. ›Das Bohren harter Bretter‹ war sein Beruf. Charak­tere wie Egon Bahr sind uner­setz­lich. Wenn ich zum Abschied sagen könnte: 'Auf Wieder­sehen', wäre ich froher.«

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Nicht mehr ganz jugend­liche Münchner werden sich auch noch mit Freude an die »Egon Bar« erinnern. Ein seltener Ruhm für einen Politiker, das nach ihm benannt wurde. Ein Bild von Bahr hing hinter Christian Blaus Bar in der Seit­zstraße – es war ein ehema­liges Rotlicht­lokal und Mitte der 90er einer der besten Ausgeh-Orte der Stadt. Und es gab auch ein Haus-Bier mit seinem Portrait. Irgend­wann kam Egon Bahr sogar selbst.
So ein cooler Typ. Im Vergleich gibt Merkel gar nichts her, ist ohne Geheimnis, jeden­falls ohne einers, das man lüften möchte.

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In den 50er Jahren war Egon Bahr auch der Lebens­ge­fährte von Karina Niehoff (1920-1992), der seiner­zeit besten Film­kri­ti­kerin der Republik. Beide hatten zusammen eine Tochter. Niehoff schrieb vor allem für den »Tages­spiegel«, aber auch für SZ und AZ. Bahr und Niehoff – ein Traumpaar. Zwei unbeug­same Charak­tere. Ich hätte gern gewusst wie wohl eine gewitzte Film­kri­ti­kerin und ein nicht weniger gewitzter Politiker mitein­ander geredet und gelebt haben. Welche Filme sie zusammen sahen, und wie sie darüber sprachen.

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Die Filme­ma­cherin Nicola Graef, die früher mal mit mir zusammen in München Politik und Philo­so­phie studierte hat übrigens ein gutes Fern­seh­por­trait über Bahr gemacht, aus dem man eben­so­viel über das Handwerk des Poli­ti­schen und mensch­liche Charak­ter­s­tärke lernen kann, wie über das Fernsehen, wenn es Quali­täts­fern­sehen ist. »Der Geheim­di­plomat«, wie Graef den Film nach Joseph Conrad genannt hat, ist auf YouTube abrufbar.

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Jederzeit frei anzusehen ist dort auch jene oben erwähnte »Plassberg«-Folge, die seit vergan­gener Woche aus der ARD-Mediathek verbannt wurde. Die FAZ nannte das »Zensur«, und wer möchte ihr wider­spre­chen.
Ich bin alles andere als ein Plassberg-Fan, gucke »Hart aber fair« eigent­lich niemals. Ich hätte diese Folge auch nie gesehen, wenn es nicht den idio­ti­schen Protest gegen sie gegeben hätte. Danke Frauenrat!

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Es gibt nicht nur ein Recht auf Political Correct­ness, sondern auch eines auf Irrtum, auf Chau­vi­nismus, auf Blöd­heiten und aufs Ausleben niederer Instinkte. Tole­rieren heißt ertragen, und erst wo wir ertragen können, was uns nicht passt, erst wo wir jede Folge von Plassberg unzen­siert ertragen können, kann man mit Recht von Freiheit sprechen.

(To be continued)