21.05.2015
68. Filmfestspiele Cannes 2015

Die Kriti­ker­liste – Blick nach Cannes V

THE LOBSTER von Yorgos Lanthimos
The Lobster von Yorgos Lanthimos rangiert relativ ganz vorne
(Foto: Haut et Court (France))

Cannes teilt sich uns auch mit, wenn wir nicht in Cannes sind. Wie Berichterstattung sich anfühlt, wenn man nicht vor Ort ist, wagen wir in unserer neuen Serie »Blick nach Cannes«.

Von Dunja Bialas

Hier also meine zerknirschte Ausein­an­der­set­zung mit dem Kriti­ker­spiegel, nachdem mich Christoph Hoch­häusler zurück­ge­pfiffen hat. Viel­leicht nicht: Fakten, Fakten, Fakten (Kritiker verbreiten keine Fakten), aber: Listen, Listen, Listen. Jetzt hat das Rennen um den besten Film begonnen. Nur einer! kann Cannes' Goldene Palme gewinnen.

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Die Cannes-Listen

Der letzte Blick nach Cannes war wohl zu flüchtig. Oder ließ sich blenden durch erste eupho­ri­sche Stimmen, die von Valérie Donzellis Margue­rite & Julien schwärmten. Ich danke auf jedem Fall an dieser Stelle Christoph Hoch­häusler von »Revolver« und seiner Berich­ti­gung. Ange­sichts meiner sehr bedau­erns­werten Fehlein­schät­zung, wie denn der zweite Wett­be­werbs­film einer Frau aufge­nommen wurde, ist es ange­bracht, sich hier einmal den ganz harten Fakten zuzu­wenden, die im Internet in puris­ti­schen Listen veröf­fent­licht werden. Das Cannes Critic’s Rating trägt tagtäg­lich zusammen, wie Filme beurteilt werden. Sieben Kritiker-Bewer­tungs­listen sind dabei, wie die umfas­sende Liste aus Argentien Todas las criticas, Ioncinema, Le Cinéma français, der Kriti­ken­spiegel von Critic.de, sowie Indiewire, Einzel­kri­tiken und Print­ver­öf­fent­li­chungen.

Die Charts, von hinten

Sehr umfassend also. Darauf ist zu vertrauen. Wir fassen die heutige Liste zusammen, und machen das, wie zu Formel-1-Charts-Zeiten, von hinten. Abge­schlagen, knapp vor dem letzten Platz, den Gus Van Sant belegt (der 2003 mit Elephant die Goldene Palme gewann), befindet sich dort tatsäch­lich der Film von Valérie Donzelli, auf Platz 15. Maïwenn geht es nicht besser. Ihr Film schafft gerade mal Rang 14, 2011 gewann sie mit Poliezei den Preis der Jury. Das ist schade, ihrem Film galt aus der Ferne viel Sympathie. Fast genauso schlecht schneidet Matteo Garrone ab. Er hatte 2008 (Gomorrha) und 2012 (Reality) den Großen Preis der Jury gewonnen. Aber auch Kore-eda Hirokazu, der vor zwei Jahren für Like Father, Like Son den Preis der Jury gewann, schneidet nicht gut ab. Our Little Sister heißt sein Film über den Versuch, eine Halb­schwester in eine Familie zu inte­grieren, deren Mutter die Frau ist, mit dem der Vater Ehebruch begangen und die Kern­fa­milie zerstört hat: ein mora­li­sches Lehrstück. Platz 9.

Preise und Große Preise

Preis der Jury, Großer Preis der Jury: Eine Rangfolge nicht nur in den Filmen, sondern eben auch in den Preisen, man ahnt es schon. Der Preis der Jury, geht anders als der Große Preis, an einen Film, der der Jury, so lautet die vage Formu­lie­rung, in »beson­derer« Weise gefallen hat. Früher hieß er mal Spezi­al­preis der Jury, den es heute zusätz­lich gibt, der aber nicht vergeben werden muss. Der Große Preis der Jury soll einem Film verliehen werden, dem eine gewisse »Origi­na­lität« zufällt. Was auch immer das genau heißen mag. Und dann gibt es noch die Goldene Palme für den Besten Film, um die oder den sich hier alles dreht. Die Jury­zu­sam­men­set­zung ist dabei natürlich entschei­dend, und besteht tradi­tio­nell aus Film­schaf­fenden. Dieses Jahr grup­pieren sich neben den Regis­seuren Xavier Dolan (Mommy, 2014: Preis der Jury) und Guillermo del Toro (Pans Labyrinth, Wett­be­werb 2006) ausschließ­lich Schau­spie­le­rinnen und Schau­spieler um die Jury­vor­sit­zenden Joel & Ethan Coen (Barton Fink, 1991: Goldene Palme) – eine Sängerin ist auch noch dabei, Rokia Traoré aus Mali. Ohne Cannes-Refe­renzen.

Favoriten bislang

Es geht also um die vorderen Plätze. Richtig sportlich wird es, wenn Wetten auf den Gewinner der Goldenen Palme geschlossen werden, bevor die Filme überhaupt zu sehen waren, wie ein Kriti­ker­ri­tual dies tut. Zum Ritual gehört aber auch, erst mal jeden Film sehr, sehr miss­trau­isch zu beäugen, die Latte liegt sehr, sehr hoch. Um den Sport noch weiter zu treiben, als könnten wie im Fußball (siehe Monika Grütters Fußball­ver­gleich) Gewinner aus Tabellen abge­leitet werden: The Lobster des Griechen Yorgos Lanthimos liegt derzeit im Kriti­ker­spiegel auf Rang fünf (er gewann 2009 in der Sektion Un Certain Regard mit Dogtooth), Nanni Moretti über­zeugte die Kritiker mit Mia Madre und liegt auf Platz vier (Goldene Palme 2001 für Das Zimmer meines Sohnes). Auf Platz drei liegt Son of Saul des Ungarn László Nemes, und hier wird es inter­es­sant. Son of Saul ist das Lang­film­debüt des 38jährigen Regis­seurs, das 1944 in Auschwitz spielt und ein inten­sives Holocaust-Drama vom Töten und Überleben zeigt.

Top 2. Fehlt noch was?

Jia Zhangke liegt fast ganz vorne. Der chine­si­sche Regisseur war schon zwei Mal mit seinen Filmen in Cannes (24 City, A Touch of Sin). Jetzt mit Mountains May Depart, die von der Liebe einer Lehrerin zu einem Berg­ar­beiter erzählt, grob gesagt. Auf Platz eins liegt am siebten Wett­be­werbstag Carol des Ameri­ka­ners Todd Haynes. Doch auch das ist nur relativ. Dominik Kamalz­adeh attes­tiert im öster­rei­chi­schen Standard der lesbi­schen Liebes­ge­schichte eine zwar »makellose« Visua­lität, wünscht sich aber doch, »er würde sich ein wenig mehr heraus­nehmen«. »Stagnieren auf hohem Niveau« nennt er das: Kein Sieger in Sicht. Warten wir also noch Jacques Audiard (2009 Großer Preis der Jury für Ein Prophet), Altmeister Hou Hsiao-Hsien (sechs Mal für die Goldene Palme nominiert, Preis der Jury 1993 für Der Puppen­spieler) und den Austra­lier Justin Kurzell ab. Dieser zeigt im Wett­be­werb seinen zweiten Langfilm. Macbeth, mit Marion Cotillard und Michael Fass­bender. Und dann sollte man sich noch davon über­ra­schen lassen, wie die kriti­ker­lose Jury urteilt.